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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 28.06.2015

Perspektivwechsel
Predigt zu Lukas 6:36-42, verfasst von Elisabeth Tobaden

Liebe Gemeinde,

Die Lehrerin Jane Elliot aus den Vereinigten Staaten sah sich am Tag nach der Ermordung von Martin Luther King 1968 vor das Problem gestellt: „Wie erkläre ich meinen weißen Schülern, was da passiert ist?“

Sie kam damals auf die Idee, den Kindern das Gebet eines Sioux beizubringen:

„Oh großer Geist, bewahre mich davor, einen Menschen zu beurteilen, bevor ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gelaufen bin.“

Und sie entwickelte Übungen für ihre Schüler, die sie immer weiter entwickelte.

Inzwischen gibt es auf internationaler Ebene ein Antirassismusprogramm, das immer noch mit ihren Grundideen arbeitet.

 

„Eye to eye“ heißt der Film, der ihre Geschichte erzählt, und so nennt sich auch das Programm, das aus diesen ersten Übungen mit den Schülerinnen und Schülern in den USA entwickelt wurde: „Auge in Auge“.

Ein deutscher Antirassismustrainer, Jürgen Schlichter, bietet Seminare an,

in denen er die Teilnehmerinnen und Teilnehme in Blau- und Braunäugige einteilt.

Den Braunäugigen wird erzählt, dass sie die besseren Menschen seien, erfolgreich, intelligent, mit Führungsqualitäten und dass ihnen sowieso alles gelingen würde.

Und man sagt ihnen, dass die Blauäugigen -im Vertrauen gesagt- eben doch etwas minderbemittelt seien und nichts taugten.

Die Blauäugigen selbst werden von vornherein so überheblich behandelt und abgewertet und links liegengelassen- dass (sagen anschl. einhellig) sie sich auch so fühlen!

Dann folgen Übungen, in denen sich deswegen diese Vorurteile zu bewahrheiten scheinen.

Den Blauäugigen misslingt tatsächlich vieles, obwohl die Einteilung natürlich völlig willkürlich ist; sie lassen sich von den Braunäugigen herumkommandieren, wagen nicht, sich zu wehren oder zu widersprechen, und ganz egal was sie tun, sie haben keine Chance, aus ihrer Ecke herauszukommen.

Wenn andere sie permanent abwertend behandeln, verhalten sie sich irgendwann wirklich so, als könnten sie nichts und seien völlig unfähig.

Erschreckender Bericht!

Der Trainer selbst erzählte in einer Fernsehtalkshow kürzlich von seinen eigenen Erfahrungen als Teilnehmer (blauäugig) in so einem Training!

„Ich konnte mich nicht wehren!“ sagte er.

Besonders erschreckend: die Braunäugigen, die sich rauszuhalten versuchen, werden von den betroffenen Blauäugigen gar nicht wahrgenommen, sind überhaupt nicht hilfreich.

„Nichtstuer sind Täter“,

Um das Beurteilen, Aburteilen von Menschen und seine Folgen geht es in dem für diesen Sonntag vorgeschlagenen Predigttext: Lukas 6, 36-42 .

 

„...wie euer Vater barmherzig ist“ mit diesem winzigen kleinen Halbsatz steht und fällt für mich der ganze Text!

Sonst bliebe von allem nur ein etwas christlich verbrämter moralischer Verhaltenskodex übrig.

Richtet nicht, verurteilt nicht, gebt, seid barmherzig, macht, tut und lasst...!!!

Viele Menschen empfinden den christlichen Glauben tatsächlich so!

Für sie besteht er vorwiegend in Verhaltensmaßnahmen und Verboten.

Ich höre ja immer wieder in vielen Gesprächen: “ Ich bemühe mich doch auch so, ein anständiger Mensch zu sein, wozu brauch ich da noch den lieben Gott?“

Ich meine: weil es Erfahrungen gibt wie die von „eye to eye“.

Weil es Momente gibt, in denen wir merken, ich stecke so tief drin in einer Problematik, dass ich nichts machen kann, ich kann nichts ändern und komme nicht raus aus diesem Prozess!

Und das gibt es wirklich, und alle Appelle: „Nun stell dich mal nicht so an, streng dich mal an, dann klappt das schon“ machen die Sache nur noch schlimmer!

 

Das hängt mit den Sätzen zusammen, die wir in uns haben, die uns gesagt wurden, ganz früh vielleicht schon und immer wieder, die uns bis heute bestimmen und leiten.

Sie kennen das sicher alle:

„Was sollen die Leute sagen?“

„Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“ (im Klartext für das Kind: erst werden Schularbeiten gemacht, dann darfst du spielen.)

„Was musst du als Mädchen so lange zur Schule gehen, du heiratest ja sowieso.“

Und das - das macht es eben so kompliziert- ohne dass wir es wissen oder merken müssen!

Das ist ein einerseits ein lebensnotwendiger Mechanismus, solange es gute Sätze sind, Vertrauen weckende Worte sind wie „Du schaffst das schon!“

Ein Mensch, der im Extremfall jeden Morgen neu überlegen und testen muß, ob die Erde ihn überhaupt trägt, ob er sich auf irgendetwas verlassen kann, der kriegt seinen Alltag nicht mehr geregelt und wird dabei krank.

Und jemand, der/die immer wieder gesagt bekommen hat: Das schaffst du sowieso nicht, du kannst nicht singen, du kannst nicht malen, das wird ja nie was... der wird sich irgendwann selbst nichts mehr zutrauen (2 Möglichkeiten: entweder resignieren - oder ganz fürchterlich anstrengen nach dem Motto: jetzt erst recht, und denen werd ich’s schon zeigen!)

Und deswegen ist dieser kleine Halbsatz von Gottes Barmherzigkeit so wichtig!

Gott sieht dich mit anderen Augen an. Er hat ein Herz für dich!

Es sind die Augen grenzenloser Liebe und Zuwendung, mit denen Gott dich ansieht.

 

So.

Und das -allein das- kann unsere Perspektive verändern!

Kann uns helfen - und das behaupte ich jetzt allerdings- auch aus völlig verfahrenen Prozessen auszusteigen, uns selbst, diese Welt und die Menschen nun auch selbst mit anderen Augen zu sehen.

 

Das stärkste Bild im Text ist für mich- das vom Splitter im fremden und dem Balken im eigenen Auge.

Es springt mir buchstäblich sofort ins Auge.

Es ist so bekannt, dass es schon sprichwörtlich geworden ist.

Und es wird natürlich sofort klar, sofort wird klar, dass es sich nicht um die medizinische Beschreibung einer Unfallfolge handelt.

Ein Splitter im Auge ist schon schlimm genug, wie jeder weiß, der das schonmal erlebt hat.

Ein Balken im Auge – das ist natürlich ein Ding der Unmöglichkeit!

Ein Mensch, der so von einem Balken getroffen wurde, wird womöglich tödlich oder jedenfalls lebensgefährlich verletzt sein, und er hat gar keine Chance mehr, selbst irgendwie aktiv zu werden, geschweige denn den Balken zu entfernen.

Das mag auch ein wenig die moralische Entrüstung relativieren, mit der so gern über den Balkenträger hergezogen wird.

Auch die seelischen Verletzungen (s.o.) eines Menschen können so schwer sein, dass er/sie wirklich nicht sehen kann, was er an Folgen mit sich herumträgt, und wie sehr sein Verhalten davon beeinträchtigt ist.

Da hilft es wenig, zu lamentieren:

Soll der doch erstmal vor seiner eigenen Haustür kehren, soll er selber zusehen, dass er seine eigenen Probleme gelöst kriegt, seine Verfehlungen erkennt, dann mag er ja u.U. auch mal was zu den Problemen anderer sagen.

Aber so?

Wie kann der nur!

 

Andererseits beschäftigen wir uns alle, glaube ich, ganz gern mit den Problemen anderer Leute.

Die Kollegin kommt mit ihren Kindern nicht klar? - Natürlich, so wie die die Blagen von Anfang an verwöhnt hat, kein Wunder...

Der Freund findet keine neue Stelle?

Logisch, so schlecht wie der sich verkauft!

Der Nachbar hatte einen Herzinfarkt? – Kein Wunder, so viel wie der raucht – und hast du den schon mal in Bewegung gesehen?

Es ist schon verlockend, man steht ja selber so gut da, wenn man den anderen anprangern kann!

 

Mir fällt bei solchen Supererklärungen immer Luthers Erklärung zum 8. Gebot ein:

...Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren“.

„Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet", sagt Jesus.

Und ich denke, er meint genau dieses vorschnelles Aburteilen, bei dem jeder sofort weiß, woran es liegt, und dass der ja sowieso selbst schuld ist und alles nichts taugt.

Lieblos ist das, herzlos und gedankenlos!

Und wie schnell kann es sich gegen uns selbst kehren!

„Hätte ich geahnt, auf welche Abwege meine eigene Tochter noch mal gerät,

hätte ich doch den Mund gehalten damals“ sagt der Vater, dem die Tochter jetzt seinen Erziehungsstil vorwirft.

Und wie schnell war er früher bei der Hand gewesen mit seinem Urteil über die schlecht erzogenen Gören der anderen im Dorf.

Das klingt ein bisschen nach der Volksweisheit:

“Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“

 

„Richtet nicht!" heißt dann für mich „Richtet nicht lieblos und selbstgerecht!

Verurteilt nicht!"

Das sagt noch nichts gegen ein barmherziges Aufdecken von Dingen, die uns als Missstand erscheinen.

Es kann nicht angehen, dass wir alles mit dem Mantel christlicher Nächstenliebe zudecken, es könnte sein, dass es darunter gärt und anfängt zu stinken und irgendwann höchst unangenehm auffällt.

Richtet eure Aufmerksamkeit auf das Unrecht, meint Jesus, man könnte auch sagen: richtet mit liebevollem Herzen, und richtet im Interesse unserer Welt!

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist."

„Barmherzig – das ist ein Wort, das so ein bisschen außer Gebrauch geraten ist, viele Kinder können damit gar nichts mehr anfangen, kriegen aber schnell raus, dass zwei andere Worte darin stecken, nämlich: „Herz“ und „arm“.

Das etymologische Lexikon gibt ihnen recht: es sieht die Wurzel in: „ein Herz haben für die Armen.“

Wenn Gott barmherzig ist, also ein Herz hat für die Armen, sind das nicht nur die Armen, die nichts zu Essen oder kein Dach über dem Kopf haben, sondern ganz sicher auch die ohne Hoffnung und Zukunft.

Gott eröffnet uns Chancen; er beurteilt, um Zukunft und Hoffnung zu ermöglichen.

Gott macht sich kein Bild von uns, dem wir dann entsprechen müssten und in dem wir gefangen wären.

Vielleicht ist das seine größte Barmherzigkeit.

 

Gott sieht uns, wie wir sind - und liebt uns trotzdem.

Besonders gut geht an unserem Schriftenstand in der Kirche ein Radiergummi, auf dem steht: „Gott liebt mich auch mit meinen Fehlern.“

Und so können wir uns auch selber sehen, wie wir sind, weil wir uns von Gottes liebevollem Blick eingehüllt wissen. Gott resigniert nicht, niemals!

Und so können wir dann doch etwas tun an uns selbst, etwas tun gegen den sogenannten „Balken“ in unserem Auge:

Können neu werden unter Gottes barmherzigen Augen,

von innen nach außen.

Der Glaube erneuert mein Herz, Gott erneuert mein Herz, und dann kann daraus der neue Menschen werden, der auch neu handeln kann.

Amen.



Inselpastorin Elisabeth Tobaden
Juist
E-Mail: Tobaben.juist@t-online.de

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