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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

5. Sonntag nach Trinitatis, 05.07.2015

Boat people
Predigt zu Lukas 5:1-11, verfasst von Dörte Gebhard

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, von dem, der da war, der da ist und der da kommt.

 

Liebe Gemeinde

Heute ist alles anders als damals!

Nichts ist heute anders als damals!

 

Hören Sie den Predigttext aus dem Lukasevangelium mit den beiden Wahrheiten:

Heute ist alles anders!

Nichts ist heute anders!

 

Lukas schreibt:

 

1 Es begab sich aber, als sich die Menge zu ihm drängte, um das Wort Gottes zu hören, da stand er am See Genezareth 2 und sah zwei Boote am Ufer liegen; die Fischer aber waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze. 3 Da stieg er in eines der Boote, das Simon gehörte, und bat ihn, ein wenig vom Land wegzufahren. Und er setzte sich und lehrte die Menge vom Boot aus.

4 Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus! 5 Und Simon antwortete und sprach: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen. 6 Und als sie das taten, fingen sie eine große Menge Fische und ihre Netze begannen zu reißen. 7 Und sie winkten ihren Gefährten, die im andern Boot waren, sie sollten kommen und mit ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide Boote voll, sodass sie fast sanken. 8 Als das Simon Petrus sah, fiel er Jesus zu Füßen und sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch. 9 Denn ein Schrecken hatte ihn erfasst und alle, die bei ihm waren, über diesen Fang, den sie miteinander getan hatten, 10 ebenso auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, Simons Gefährten. Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fischen. 11 Und sie brachten die Boote ans Land und verließen alles und folgten ihm nach.

 

Liebe Gemeinde

Heute ist alles anders als damals!

Nichts ist heute anders als damals!

Wie unmittelbar steht uns die Szene vor Augen.

Das Gedränge, gleich am Anfang, weil irgendetwas los ist, niemand weiss schon etwas, aber alle kommen herbeigerannt.

Dann Jesus Christus, der sich erst Abstand verschaffen muss, der erst bitten muss, ein wenig vom Land wegzufahren.

Dieser Gedanke wirkt etwas abständig, aber auch heute muss sich Jesus Christus mit seinem Wort erst wieder Distanz verschaffen. Wir glauben sonst allzu leicht, schon seit 2000 Jahren alles zu wissen und manchmal sogar, besser zu wissen als er, was zu tun und zu machen ist.

Das Evangelium rückt uns aber nicht nur auf den Leib, sondern macht auch die Seele ver-rückt. Nur ein einziges Wort ist dazu nötig: „Menschenfischer“!

 

„Menschenfischer“! – und die jahrhundertealte Flut des Missbrauchs dieses Wortes droht uns zu verschlingen.

 

Heute ist alles anders als damals!

Nichts ist heute anders als damals!

 

Zu diesem alles und nichts gehört die Vergeblichkeit (1), das Masslose (2) und der Mut (3).

 

(1) Die Vergeblichkeit beherrscht die Szenerie zuerst.

Wie anstrengend ist die Vergeblichkeit! Die Erfolglosigkeit gibt mindestens so viel zu tun wie der Erfolg. Misserfolge sind anstrengend.

Sie haben die ganze Nacht nichts gefangen, aber müssen doch die leeren Netze waschen, flicken, entwirren, reparieren, ordnen für die nächste Nacht.

Schlaflose Nächte, endlose Tage, nichts als Mühe und Arbeit, aber vergeblich.

 

Nicht wenige Petrusse, Jakobusse und Johannesse arbeiten und plagen sich, lebenslänglich fast, viele vergeblich, machen wohl nicht ganz selten Karriere dabei, haben also bald einmal ein eigenes Boot, ... aber die Generation, die jetzt auf den Sterbebetten liegt, bereut, zu viel gearbeitet und zu wenig gelebt zu haben. Dicke Bücher kann man kaufen und lesen, was gegenwärtig Sterbende gern anders gemacht hätten, dass sie lieber nur gearbeitet hätten um zu leben, und nicht nur gelebt zu haben, um zu arbeiten.

Damals ging es um Leben und Tod.

Heute geht es ebenso, doch anders um Leben – und Tod.

Alles ist anders.

Nichts ist anders.

Beides ist wahr.

 

(2) Dann folgt sogleich nach der grossen Vergeblichkeit das Erlebnis der Masslosigkeit, des Guten zu viel, so denken wir dann.

Die Netze beginnen zu reissen, die Boote drohen zu kentern.

Aber sie schreien um Hilfe, denn sie fürchten sich vor dem ‚Zuviel’ ebenso wie vor dem ‚Nichts’.

Allein, das wissen sie, sind sie überfordert.

Gemeinsam, das merken sie, sind sie immer noch an den Grenzen ihrer Kräfte.

 

Die Fischer, die Seeleute im Mittelmeer sind überfordert, jeder einzelne von ihnen. Man erzählt nun, dass die Fischer inzwischen, im Jahr 2015, die Stellen auf ihren Seekarten markieren, wo sie tote Menschen fischen statt Fisch, wo sich Schlauchbootfetzen und Schwimmwestenreste in den Netzen verfangen statt Meeresgetier.

Viele Statistiken habe ich in den letzten Tagen angeschaut, vor allem die des UNO-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR).

Knapp 60 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht vor Kriegen, Konflikten und Verfolgung. Dies ist die höchste Zahl, die jemals von UNHCR verzeichnet wurde, auch während des 2. Weltkrieges lag diese Zahl nicht höher, und sie wächst voraussichtlich weiter rasant. Wie viele es im Mittelmeer in diesem Moment der Predigt sind, weiss niemand.

 

Sie alle zusammen, die Fischer und Kapitäne und Seeleute, das merken sie, werden auch in der nächsten Zukunft an den Grenzen ihrer Kräfte bleiben, weil immer mehr Menschen ‚gefisch-rettet’ werden müssen.

 

Gerettete Flüchtlinge und Migranten berichten, sie hätten ihr Leben Menschenschmugglern anvertraut, um in seeuntüchtigen und völlig überfüllten Booten ohne Nahrung, Wasser und Rettungswesten die Überfahrt zu wagen. Diese kann zwei bis vier Tage dauern, je nach Wetterlage und dem Zustand der Boote. Mehrmals wurden die Menschen auch erst nach einer zweiwöchigen Irrfahrt auf dem Meer gerettet.

 

Und das Netz der europäischen, tatkräftigen Hilfsmassnahmen hat mehr als grosse Risse, regelmässig kentern und sinken überladene Flüchtlingsboote, Menschenfischer sind viel zu selten vor Ort. Ein ganzer Kontinent streitet über die Verteilung der Flüchtlinge, genauer um das Geld, das es kostet.

 

Ungezählte Menschen sind schon verdurstet oder ertrunken oder sogar beides, perverserweise ist es möglich auf dem Mittelmeer, zwei Tode gleichzeitig zu sterben. Ungezählte Menschen kommen noch durch Gewalt untereinander auf den fast immer seeuntüchtigen Schiffen um. Und selbst, wenn glücklich-endlich Hilfe naht, sind viele verloren, weil sie nicht schwimmen können, nicht einmal wenige Augenblicke, ehe sie aus dem Wasser gezogen werden können.

 

Welche Nacht der Vergeblichkeit liegt über diesen Menschenleben, dass sie ihr letztes Geld Schleppern geben und sehenden Auges auf solche Schiffe, Boote oft nur, steigen!? Wer die Fahrt über das Mittelmeer wagt, sieht dem Tod ins Auge – und zieht den Tod in den Fluten der Folter und dem langsameren Sterben vor. Und ehe wir nur einmal das Wort Wirtschaftsflüchtling in den Mund nehmen: Gerade jahrzehntelanger Hunger ist eine bestialische Folter, und ohne dass ein Mensch Hand an den anderen legen muss.

 

Die Netze reissen, die Schiffe kentern, nicht nur beinahe wie im Lukasevangelium. Das sind die Wahrheiten:

 

Heute ist alles anders als damals!

Nichts ist heute anders als damals!

 

Das wird unser Refrain bleiben müssen,

Gott sei Dank und Gott sei es geklagt!

 

Zurück zum Evangelium, zurück zu Lukas, zurück zu den Fischen.

Bei Lukas machen sie einen Riesenfang und ihnen wird angst und bange, Schrecken erfüllt sie, nicht Jubel, Ehrfurcht vor dem Unfassbaren, nicht Frohlocken.

 

(3) Nur so kann der Mut gedeihen, der ihnen nun, nach Vergeblichkeit und Masslosigkeit, abverlangt wird.

 

Fürchte dich nicht, von nun an wirst du Menschen fischen!

Sie werden herausgerissen, sie werden nicht länger Fischefischer sein.

Keine Managerseele wird das je begreifen! Statt nun den Fischfang zu optimieren, genauer zu analysieren in welchen Tiefen des Sees genau man so viel fängt, ist der grosse Fang auch der allerletzte ihres Lebens.

Jesus Christus reisst sie aus der Vergeblichkeit und dem unerträglichen Erfolg zugleich, denn beides ist nicht gut für das Herz, beides macht auf die Dauer krank.

Mit Gottes Interventionskräften gelingt das eigentlich Unmögliche - das Aufhören, wenn es am schönsten ist.

 

Fürchte dich nicht, von nun an wirst du Menschen fischen!

Das Leben von Gott beginnt jenseits,

jenseits von Vergeblichkeit und maßlosem Erfolg.

Auch die gegenwärtigen Kirchen sind nicht gefeit vor beiden Anfechtungen.

Manchmal wird Vergeblichkeit gepredigt und andere Male der unerträgliche Erfolg gefordert. Aber beides ist nicht gut für das Herz, beides macht auf die Dauer krank.

Lukas war eigentlich in Zahlen verliebt, grosse Menschenmassen, die in die tausende gehen, sind ihm in der Apostelgeschichte gerade recht. Aber hier zählen Zahlen nicht, es heisst nicht:

Von nun an wirst du immer so viel fischen, die Gemeinden versorgen, und alles nur mit zwei Booten, effizienter geht es nicht ...

Das stammt nicht aus der Fantasie Gottes, sondern aus höchst irdischen Berechnungen!

Und es heisst auch nicht:

Von nun an wirst du Menschen fischen – und genauso grossen Erfolg haben wie mit den Fischen. Nichts davon!

 

Aber ich spüre bei mir selbst, wie infiziert ich von den Zahlen bin, wie schwer es mir fällt, nicht abzuzählen, nicht auszurechnen, bis alles verrechnet, durchgerechnet, abgerechnet ist.

Dass Zahlen nicht zählen, dass Gott barmherzig, geduldig und von grosser Güte ist und noch unzählig viel mehr, aber ganz sicher nicht berechnend – ob ich das einst wieder verstehe? Ob die Kirche wieder ein Ort wird, an dem nicht nachgerechnet, nicht ‚mach-gerechnet’ wird?

 

Das Jenseits der Zahlen zwischen nichts und unzählig zu finden erfordert mehr Mut als jede andere Tat, die im Namen und Glauben an die Zahlen geschieht.

 

Petrus, Jakobus und Johannes zählen die Fische nicht, sie machen keine Marktanalyse, sie verschwenden keinen Gedanken an den grossen Reibach, den sie diesmal machen könnten ... sie holen Hilfe!

Das prädestiniert sie, Jesu Jünger zu werden, nicht ihre vergebliche Mühe, nicht der grandiose Erfolg, einzig, dass sie fähig sind, ihre Hilfsbedürftigkeit einzusehen!

 

Wo Menschen den Mut finden, einander zu helfen, bricht das Jenseits auf, das Jenseits von Vergeblichkeit und Übererfolg.

 

Fürchte dich nicht, von nun an wirst du Menschen fischen!

 

Heute ist alles anders als damals!

Nichts ist heute anders als damals!

 

Jesus hat damals Petrus, Johannes und Jakobus gerufen und seither sind immer wieder einzelne diesem Ruf gefolgt. Nie wieder hat die Begeisterung sie verlassen, die entsteht, wenn man Menschen aus dem Wasser ziehen kann, weil sie dort nicht – ganz im Gegensatz zu den Fischen – hingehören.

 

Bald ist es vierzig Jahre her, dass Rupert Neudeck diesen Beruf im wahrsten Sinne des Wortes ergriff und begann, im südchinesischen Meer Menschen zu ‚fisch-retten’. Anlässlich der großen Not vietnamesischer Flüchtlinge im Südchinesischen Meer gründete er mit Unterstützung des Schriftstellers Heinrich Böll 1979 das Komitee „Ein Schiff für Vietnam“. 1982 wurde daraus die Hilfsorganisation Komitee Cap Anamur / Deutsche Notärzte e. V. Namensgeber war der Frachter Cap Anamur, mit dem die Besatzung um Rupert Neudeck insgesamt 10.375 vietnamesische Flüchtlinge, die sogenannten „boat people“, aufnahm und nach Deutschland brachte.

 

[Sie bemerken es: Die Zahlen haben nicht nur eine beeindruckende, sondern eine fesselnde Wirkung. Dabei kann sich niemand das gerettete Leben von 10.375 Menschen auch nur annähernd vorstellen. Es wäre vermessen (!), solches zu behaupten!]

 

Es folgten zahlreiche weitere Hilfseinsätze mit der Cap Anamur. Dieses Schiff war eigentlich ein Containerschiff, aber das Hilfskomitee unter Leitung von Rupert Neudeck ließ es zum Hospitalschiff umbauen.

 

Warum tut ein Mensch so etwas?

Als Kind musste Rupert Neudeck Ende Januar 1945, kurz vor Kriegsende, mit seiner Mutter, seinen drei Brüdern und seiner Schwester aus Danzig fliehen. Die Flucht sollte mit der „Wilhelm Gustloff“, einem überfüllten Flüchtlingsschiff über die Ostsee erfolgen, das die Familie aber am Hafen knapp verpasste. Hätten sie die „Gustloff“ erreicht, wären sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ertrunken, denn das Schiff wurde versenkt und nur wenige überlebten die Nacht vom 30. auf den 31. Januar in der eiskalten Ostsee. Man geht heute davon aus, dass damals ca. 9000 Menschen ertranken. Dieses Widerfahrnis für den damals 6jährigen prägt Rupert Neudeck bis heute.

Neudeck hat das Schiff verpasst und damit seinen frühen Tod verpasst. So ist er unter die Menschenfischer gegangen; und er hat einmal gesagt:

 

„Ich möchte nie mehr feige sein. Cap Anamur ist das schönste Ergebnis des deutschen Verlangens, niemals wieder feige, sondern immer mutig zu sein.“[1]

 

Einmal habe ich Rupert Neudeck persönlich erlebt bei einem Vortrag über sein weltweites Wirken zu Wasser und zu Lande in Bonn. Selten hat mir ein Mensch solchen Eindruck gemacht! Er entschuldigte sich zuerst, weil er bis zum Vortag in den Elendsvierteln einer afrikanischen Grosstadt gearbeitet hatte. Er sei gerade erst heimgekommen und habe nun innerlich Mühe mit unseren weissen Tischdecken und der Klimaanlage im Saal, mit der Gediegenheit und dem Ambiente überhaupt. Es sei doch eine ziemliche Umstellung!

 

Und dann berichtete er in aller Bescheidenheit von seiner Arbeit, und ich verstand, was es heisst, wenn einer wirklich berufen ist.

Aus sich selbst kann kein Mensch diese Energie entwickeln, niemand kann sich selbst so begeistern für etwas. Man kann noch so von sich selbst überzeugt und eingenommen sein, man kann noch so stolz und egozentrisch sein, aber selbst dann kann nicht ein solches Engagement in eines Menschen Kraft liegen.

Dazu muss man berufen werden!

Wir verdanken der Gnade und Geduld Gottes, dass es bis heute geschieht.

 

Heute ist alles anders als damals!

Nichts ist heute anders als damals!

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus,                                Amen.

 

 

[1] Rupert Neudeck: Anlässlich des 30. Jubiläums der Organisation zur Motivation seines Handelns. Vgl. zu Rupert Neudeck und Cap Anamur die einschlägigen Wikipedia-Artikel.

 



Pfarrerin PD Dr. Dörte Gebhard
CH-5742 Kölliken/AG
E-Mail: doerte.gebhard@web.de

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