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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 09.08.2015

„Der Ort, an dem wir leben“
Predigt zu Lukas 19:41-48, verfasst von Ulrike Weber

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.

 

Liebe Gemeinde!

Beim Betrachten des Predigttextes für heute, wird mir der Israel-Sonntag unweigerlich zum Griechenland-Sonntag, dann schiebt sich das Bild der griechischen Stadt Thessaloniki über das von Jerusalem. Als Pfarrerin der Evangelischen Kirche deutscher Sprache in Thessaloniki sehe ich meine Gemeinde und die Sorgen und Nöte, die uns hier in Griechenland beschäftigen.

Und dies ist der Predigttext für den heutigen 10. Sonntag nach Trinitatis. Er steht im Lukasevangelium Kapitel 19, 41-48. Da heißt es:

 

Und als Jesus nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen, und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist. Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler auszutreiben, und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben (Jesaja 56,7): Mein Haus soll ein Bethaus sein: ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht. Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Angesehensten des Volkes trachteten danach, daß sie ihn umbrächten, und fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn das ganze Volk hing ihm an und hörte ihn.

 

Ein merkwürdiger Text ist uns für den heutigen Sonntag gegeben. Merkwürdig deshalb, weil uns Jesus hier als ein ganz anderer entgegenkommt, als wir es sonst lesen, hören und uns in unserer Vorstellung ausmalen. Alles wird ihm zugestanden, seine Wunderhaftigkeit, seine Weitsicht, seine rätselvolle und kluge Rede. Aber heute erleben wir Jesus von einer anderen Seite.

Jesus sieht auf Jerusalem. Und was er sieht ist die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft dieser Stadt in einem. Er weint über die Stadt Jerusalem.

Weinen geschieht aus tiefster Hilflosigkeit, tiefster Erkenntnis und Enttäuschung heraus. Wenn Argumente, Reden und Hoffen am Ende sind. Und wenn man ein Schicksal kommen sieht, das nicht mehr abzuwenden ist.

Jesus lässt sich ganz in seine Gefühle zurückfallen und gibt dem Leid sein Herzblut.

 

Als Pfarrerin in Thessaloniki betreue ich eine Gemeinde, in der sich viele Frauen zusammengefunden haben - alle sind mit griechischen Männern verheiratet. Manche leben seit Jahrzehnten schon hier und lieben diese Stadt und dieses Land. Die Finanzkrise und die politischen Unruhen, die daraus erwachsen sind, dringen tief in das Leben der Menschen ein. Ungerechtigkeit, Armut, Willkür zermürben. Die Ströme der Flüchtlinge, die durch die Stadt ziehen, in den Parkanlagen übernachten und unter den Bäumen Schatten suchen, prägen seit Monaten das Stadtbild. Eine Stadt, die Tag und Nacht keine Ruhe kennt.

 

Der Ort, an dem wir leben, ist eng verbunden mit unserem Geschick. Wir Frauen aus der Gemeinde haben uns unserer Stadt Thessaloniki angenommen und über bestimmte Plätze und Straßen Friedenstexte verfasst. So gehen wir jedes Jahr am Karfreitag diese Orte ab und lesen unsere Gedanken und Wünsche. Es ist unser Friedensweg und berührt uns immer wieder von neuem. Vom Kloster Vlatadon aus, wo Paulus angeblich gepredigt hat, kann man wunderschön über die ganze Stadt bis zum Hafen sehen. Wir stehen dort und fragen uns, was wird noch werden? Wer bestimmt die Geschicke dieser Stadt, dieses Landes, dieser Heimat? Auch sie hat „ihre Zeit nicht erkannt“. – Die Tränen Jesu kann ich gut verstehen.

 

Weinen aber befreit.

Befreit wird der Blick wieder klar, alles bekommt seine Konturen zurück. Etwas kann Jesus doch tun: beim Heiligen kann er anfangen; und er dort räumt er auf.

Das, was er für ganz Jerusalem nicht tun kann, tut er aber exemplarisch für den Tempel. Der Tempel wird zum Brennpunkt in seinem Blick.

Bei dem, was mir Heilig ist, setze ich an. Ich kann nicht die Welt retten, es sind aber die Dinge, die mir nahe sind, die einen direkten Bezug zu meinem Leben haben. Wo ich das verwirklicht sehe, was mir wichtig ist. Wo ich verwurzelt bin. Das muss beschützt werden und gereinigt bleiben, von dem, was sonst alles überrollt und sich auf alles legen will: Die Macht des Geldes, Profitgier, Machtgehabe, Prestigedenken.

Aus der Ohnmacht gegenüber dem Ganzen erwächst die Macht, die Kraft für das Einzelne. Der Grenzüberschreitung müssen wieder Grenzen gesetzt werden. So geht Jesus in den Tempel und treibt die Händler hinaus, die aus seinem Bethaus eine Räuberhöhle gemacht haben.

Unorthodoxe Methoden hat man ihm vorgeworfen, aber manchmal ist Klarheit angesagt, die Geduld hat ein Ende. Dass macht ihn so sehr menschlich.

 

Jesus muss sich bis heute unsere Kritik gefallen lassen – nicht so zu sein, wie wir ihn gerne hätten. Bis heute, also 2000 Jahre danach, darf unser Jesus nicht derjenige sein, der mit aller Macht das verteidigt, was ihm lieb und teuer ist. Was ist uns teuer? Oder ist uns alles billig geworden? Bedeutungslos, gleichgültig, wortlos?

 

Die Demonstrationen und Proteste in unserer Stadt Thessaloniki sprechen eine klare Sprache. Es braucht Mut, eine unorthodoxe Meinung zu vertreten. Die Stimme erheben, auch für die, die keine Stimme haben, Position zu beziehen, auch für die, die keine Position beziehen können; wer sich äußert wird angreifbar. Aber die Stimme der Armut spricht. Am Straßenrand verkauft eine alte Frau ihre gehäkelten Bettschuhe, die eigentlich niemand wirklich braucht. An der roten Ampel zeigt ein junger Student kleine Kunststücke und jongliert. Anschließend geht er mit seiner Mütze an den Autos entlang und sammelt Münzen. Jeder versucht auf seine Weise mit der Situation umzugehen, denn Armut beschämt.

 

Obwohl Jesus weint und seinem Ärger freien Lauf lässt, bleibt er. Obwohl sich die Situation für Jesus langsam zuspitzt, lehrt er täglich im Tempel. Sein Weinen und seine Wut haben dem Wort kein Ende gesetzt. Der Tempel ist also wieder zu einem Bethaus geworden. Und Jesus nutzt diesen Raum, um das Wort zu verkünden, die Menschen hören ihm zu und weichen ihm nicht von der Seite, während die anderen schon ihre finsteren Pläne schmieden.

 

Im Blick Jesu auf die Stadt Jerusalem entdecke ich auch seine Sorge für alle Städte dieser Welt, ja, um die Welt selbst, für die er Frieden will. Wissen wir noch, was dem Frieden dient? Die Blindheit dafür ist groß, auch heute noch.

Friede ist Raum zum Leben. Frieden ist dort, wo Menschen versöhnlich und solidarisch miteinander leben. Er führt nicht in eine Selbstzufriedenheit, sondern ist ein Friede, der zum Frieden anstiftet.

In der Flüchtlingsarbeit unserer Gemeinde bemühen wir uns um ganze Familien, aus Syrien, dem Sudan, aus Afghanistan und anderen Ländern. Ein großes Miteinander der Kulturen, Religionen und Sprachen. Die Frauen können nähen lernen und sich so etwas selber herstellen. Beim Kaffee werden die Erlebnisse und Schicksale geteilt; und es wird gemeinsam gefeiert: Wir feiern das Fest des Lebens.

In den Gemeinderäumen wird geteilt: Im Foyer steht ein Korb. Wer vom Einkaufen kommt, legt etwas hinein. Wer etwas braucht, nimmt es sich heraus. Im „Offenen Kleiderschrank“ hängen Hosen, Kleider und Jacken, die problemlos den Besitzer wechseln. Die Blumen auf dem Altar sind von den Wiesen und Straßenrändern, - so kommt das Geld denen zugute, die es dringend brauchen. Gerade gestern kam eine Frau in die Gemeinde und brachte 50 Euro. „Eine verzwickte Lage ist für mich gut ausgegangen – Gott sei Dank! Mit dem Geld will ich Danken und anderen helfen!“

 

Was bleibt nun?

Was würden meine Frauen in der Gemeinde zu diesem Predigttext sagen?

 

Das, was Jesus tut, ist gültig bis heute:

- wir weinen und sind traurig um unsere Städte und Länder, um unsere Heimat

- wir wachen über unsere Werte und bewahren, was uns heilig ist

- wir hören Gottes Wort von der Gnade und Barmherzigkeit, die allen Menschen gleichermaßen gilt. Das drängt uns zum anderen, zum Fremden, zum Not-Leidenden. Damit uns allen das Leben blüht.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.



Pfarrerin Ulrike Weber
56626 Thessaloniki / Sykies, Griechenland
E-Mail: pfr.u.weber@googlemail.com

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