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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 09.08.2015

Die Zeit nicht erkannt?
Predigt zu Lukas 19:41-48, verfasst von Stefan Knobloch

Es mag uns überraschen. Jetzt, in der schönsten Urlaubs- und Sommerzeit, versetzt uns das Evangelium am 10. Sonntag nach Trinitatis in die Situation des Einzugs Jesu nach Jerusalem. Jesus ist dabei, sich der Stadt zu nähern. Dabei überkommt ihn das ganze Elend dieser Stadt. Es ist ein Moment am Einzug Jesu, das uns sowohl das Matthäus- als auch das Markusevangelium vorenthalten. Unser Text handelt im Blick auf Jerusalem von einem, wie man dann sagt, „vaticinium post eventum“, von der Ankündigung eines Ereignisses, das über Jerusalem bereits hereingebrochen war. Lukas, der Heidenchrist aus dem Umfeld des Apostel Paulus, verfasst sein Evangelium nach dem Jahre 70, das heißt nach dem Jahr, in dem Jerusalem und insbesondere der Jerusalemer Tempel der Verwüstung durch die Römer anheimgefallen war.

 

Wir dürfen uns die Situation Jerusalems ähnlich vorstellen wie die unserer zerbombten Städte am Ende des 2. Weltkriegs. Bilder, die uns zurzeit die Medien aus Anlass des Kriegsendes vor 70 Jahren immer wieder vor Augen halten. Lukas erlaubt sich die schöpferische Freiheit, den Schlag, der Jerusalem getroffen hatte, Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem als bevorstehend in den Mund zu legen. Lukas schickt die Begründung der Katastrophe voraus und umrahmt seine Sätze der Katastrophe mit ihr: Jerusalem habe seine Chance nicht genutzt, es habe die Zeit der Gnade, die ihm mit Jesus gegeben war, nicht erkannt. Bei der Darstellung der Katastrophe konnte das Lukasevangelium einerseits auf die realen Erfahrungen zurückgreifen und andererseits, was ihm wohl noch wichtiger war, auf Zitate aus dem Alten Testament verweisen. Die lieferten freilich im strengen Sinn letztlich keine Begründung, für die damaligen Leser aber nahmen sie sich wie eine Begründung aus. Tage würden kommen, in denen die Feinde Jerusalems Wälle um die Stadt anlegen, die Stadt ringsum einschließen und von allen Seiten her bedrängen. Sie würden, was drastischer kaum gesagt werden kann, Jerusalem und seine Kinder dem Erdboden gleichmachen. Sie würden keinen Stein auf dem anderen lassen. Ein Bild, das sich in unserer Sprache festsetzte: keinen Stein auf dem anderen lassen, um das Ausmaß einer Zerstörung anzuzeigen.

 

Hier haben wir bereits Anlass innezuhalten. Die kollektive Erfahrung der Zerstörung unseres Landes im Jahr 1945, dem Jahr des Zusammenbruchs, hat sich tief in unser kollektives genetisches Programm eingefressen. Wir wünschen seither nichts sehnlicher als Friede und Wohlstand, gewissermaßen als ein Leben im friedlichen Arkadien. Alii bella gerunt, sagte man von der österreichischen Donaumonarchie, andere führen Kriege, du aber, glückliches Österreich, heirate, tu felix Austria nube. Aber können wir wie auf einer Friedensinsel leben? Heute, wo so viele neue Herausforderungen auf uns, auf unsere Gesellschaft eindrängen? Dürfen wir uns zum Beispiel vor der heutigen Flüchtlingsproblematik – ohne sie hier in ihrer Komplexität auch nur annähernd erfassen zu wollen – mentalitätsmäßig in einer Ablehnungsfront verschließen? Zögen wir uns dann nicht den Vorwurf des Evangeliums zu, die heutige Stunde nicht erkannt zu haben?

 

In Jerusalem angekommen begibt sich Jesus unmittelbar zum Tempel. Dort kommt es zu einer Szene, die – was immer sich in ihr tatsächlich abgespielt haben mag oder nicht – von Lukas wohl nicht so straflos hätte dargestellt werden können, wenn es den Tempelkult noch so wie zu Lebzeiten Jesu gegeben hätte. Aber das alles gab es nicht mehr. Aus dem Ruinenwerk des Tempels wuchs, von Menschen gemieden, Unkraut und trieb Untier sein Unwesen.

 

Was die Bibel Tempelreinigung nennt, mag vielleicht in einer leisen Anspielung von Jesus in einem prophetischen Akt in Szene gesetzt worden sein. Vor allem aber dürfte sie ins Evangelium als Glaubensaussage hineinkomponiert worden sein, um zu sagen, dass in Jesus der Tempelkult an sein Ende gekommen sei und seine Erfüllung gefunden habe. Das dann aber in einer deutlichen Spannung zur ursprünglichen Intention Jesu – wenn es diesen Akt tatsächlich so gegeben hat -, dem es ja um die Wertschätzung des Tempels, des Tempelkults, der Tempelfrömmigkeit und des Opferwesens ging. Sollte der Satz nicht dem Munde Jesu selbst entstammen, dann waren die Synoptiker wohl dankbar und froh, die passenden Gedanken bei den Propheten Jesaja und Jeremia gefunden zu haben: Mein Haus soll ein Haus des Gebetes sein. Ihr aber habt daraus eine Räuberhöhle gemacht (vgl. Jes 56,7 und Jer 7,11). In der Situation des Lukasevangeliums wie auch der anderen Evangelien ging es darum, Jesus als den neuen Ort, als das neue Zentrum der Anbetung im Geist und in der Wahrheit darzustellen. Wobei freilich – nicht so bei Paulus – die neutestamentlichen Schriften im Prozess der Ablösung vom Alten Testament bisweilen „übertrieben haben“. Was freilich nicht missverstanden werden soll. Denn es ging den neutestamentlichen Schriften in gar keiner Weise um eine Ablösung von den alttestamentlichen Schriften, sondern im Gegenteil um den Aufweis, dass diese sich in Jesus, in seinem Leben, seinem Wirken, seiner Botschaft, seinem Tod und seiner Auferstehung erfüllt hätten.

 

Jesus lehrte täglich im Tempel. Diese schlichte Bemerkung ist eigentlich kaum vorstellbar, wenn im Tempel durch Jesus am Vortag „die Fetzen geflogen“ sein sollen. Es ist kaum vorstellbar, dass in den folgenden Tagen die Tempelpolizei nicht mit Handschellen zur Stelle gewesen sein sollte. Es ist wohl eher so, dass die Szene der Tempelreinigung eine hineinkomponierte Szene ist, hineinkomponiert in die Art und Weise, in der Jesus in seinen letzten Tagen im Tempel überzeugend, gewinnend und die Menschen beeindruckend aufgetreten war. Für ihn hatten die Hohenpriester und Schriftgelehrten nur giftige Blicke der Verachtung und des Hasses übrig. Sie trugen sich längst mit dem Gedanken, Jesus zu beseitigen. Die Verehrung des Volkes aber schützte ihn vorerst. „Denn das ganze Volk hing an ihm und hörte ihm gern zu.“

 

Wir wissen, wie es mit Jesus endete. Er wurde das Opfer des grässlichsten Todes, den die Antike sozusagen nur für den Abschaum der schlimmsten Verbrechen übrig hatte: den Tod am Kreuz. Ein Übermaß an Entwürdigung, Verachtung, Häme und Quälerei. Es sollte so sein, ein Tod am Kreuz. Punkt! Gott, der Vater, aber setzte hinter diesen Tod seinen Doppelpunkt: Er machte diesen Tod zum Inbegriff des Lebens, zum Inbegriff des Lebens, das den Tod besiegte.

 

Für uns sind heute solche Begriffe der religiös-gläubigen Sprache abgenutzt, sie sind ausgebrannt von einem burn out. Wenn das so wäre, sind wir dann nicht ebenso bedroht wie das Jerusalem zurzeit Jesu und seine führenden Leute, dass auch wir unsere Tage nicht erkennen? Die Zeit und den Wert unserer Tage, unseres Lebens nicht erkennen in ihrer Beziehung zu Gott? Sie nicht zu erfassen? Sie in ihrer Bedeutung nicht auszuschöpfen? Nicht dass wir unser Leben zu einer Räuberhöhle machen, aber manchmal merken wir vielleicht, wenn Fassaden unseres Leben einstürzen, wie wund dahinter unser Leben ist, wie leer es hinter den Fassaden sein kann. Die Frage sei erlaubt: Kann da das, was wir Gebet bzw. Beten nennen, einen kleinen Anker in die Tiefendimension unseres Lebens auswerfen, aus der uns Gott ohnehin schon entgegenkommt? Hängen wir nicht auch an dieser Tiefe, wie das Volk an Jesus hing?



Prof. em. Dr. Stefan Knobloch
Passau
E-Mail: dr.stefan.knobloch@t-online.de

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