Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 09.08.2015

Jesus weint über Jerusalem
Predigt zu Lukas 19:41-48, verfasst von Winfried Klotz

41 Als Jesus sich der Stadt näherte und sie vor sich liegen sah, weinte er                (19,41-44) 21,20-24 / Jer 8,23S

42 und sagte: »Wenn doch auch du heute erkannt hättest, was dir Frieden bringt! Aber Gott hat dich blind dafür gemacht. C a

  1. a) Dtn 32,28-29; Lk 2,14S; (blind) Apg 28,26-27; Röm 11,8.10
  2. C) Gott hat dich …: wörtlich es wurde verborgen vor deinen Augen. Die unpersönliche, passivische Redeweise dient der ehrfürchtig scheuen Umschreibung von Gottes Handeln. Mit auch am Versanfang wird auf die Jüngerschar hingewiesen (vgl. Verse 37-38).

43 Darum kommt jetzt über dich eine Zeit, da werden deine Feinde einen Wall rings um dich aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten einschließen.

44 Sie werden dich und deine Bewohner völlig vernichten und keinen Stein auf dem andern lassen. Denn du hast den Tag nicht erkannt, an dem Gott dir zu Hilfe kommen wollte.« 21,6par; (Hilfe) 1,68S

Jesus im Tempel (Mt 21,12-17; Mk 11,15-19; Joh 2,13-17)

45 Jesus ging in den Tempel und fing an, die Händler hinauszujagen.

46 Dazu sagte er ihnen: »In den Heiligen Schriften steht, dass Gott erklärt hat: 'Mein Tempel soll eine Stätte sein, an der die Menschen zu mir beten können!' Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht!«   nach Jes 56,7; Jer 7,11; Lk 5,16

47 Jesus lehrte jeden Tag im Tempel. Die führenden Priester, die Gesetzeslehrer und auch die Ältesten des Volkes suchten nach einer Möglichkeit, ihn zu töten;   21,37; Mt 26,55par; Joh 18,20; 7,1S; Mk 11,18S

48 aber sie wussten nicht, wie sie es anfangen sollten. Denn das Volk war dauernd um ihn und wollte sich keines seiner Worte entgehen lassen.     20,19par; 21,38; 22,2par

Liebe Gemeinde!

Im jüdischen Kalender lese ich: „Fasten 9. Aw – Tisha B’Aw“; im Jahr 2015 fiel dieses Fasten wegen des Sabbats am 25. auf Sonntag, den 26. Juli. Auf der Internetseite der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern lese ich:

„Zur Erinnerung an Ereignisse, die mit der Zerstörung von Jerusalem zusammenhängen, werden insgesamt vier Fasttage begangen, von welchen der 9. Aw (Tischa B’Aw) der strengste ist.

Am Tischa BeAw (dem neunten Tag des Monats Aw) wurden sowohl der Erste Tempel (596 v.u.Z. durch die Babylonier) als auch der Zweite Tempel (70 u.Z. durch die Römer) zerstört. Nach Jom Kippur ist Tischa Be Aw der wichtigste Fastentag im jüdischen Kalender.“

Damit, liebe Gemeinde, sind wir bei unserem biblischen Abschnitt, der überschrieben ist mit: Jesus weint über Jerusalem. Jesus Weinen ist Ausdruck von Trauer, Schmerz, Enttäuschung; es nimmt vorweg, was Jesus auf Jerusalem zukommen sieht:

„Darum kommt jetzt über dich eine Zeit, da werden deine Feinde einen Wall rings um dich aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten einschließen. Sie werden dich und deine Bewohner völlig vernichten und keinen Stein auf dem andern lassen.“ (V. 43f)

Jesus weint über Jerusalem, denn er hat diese Stadt und seine Bewohner, er hat sein Volk lieb! Er gleicht dem Propheten Jeremia, von dem wir in Jeremia, Kap. 14, lesen:

„Weiter sagte der HERR zu mir: »Lass sie wissen, wie betroffen du bist! Sag zu ihnen: 'Ich weine Tag und Nacht und kann nicht aufhören, denn über mein geliebtes Volk ist furchtbares Unglück hereingebrochen, es ist unheilbar verwundet.“ (V. 17)

Jesus weint über Jerusalem und es wird deutlich, was Jesus nun als Gericht Gottes über Jerusalem ankündigt, das sagt er nicht zornig und distanziert, sondern zutiefst traurig. Der Jesus, der hier redet, ist nicht der Jesus der Kirche und der Christen, sondern Jesus, Sohn des jüdischen Volkes, gesandt, um Gottes Volk für seinen Gott zu sammeln. Wie oft hat die christliche Gemeinde überheblich auf Israel geschaut und gemeint, Gott hat dieses Volk gerichtet und damit verworfen; wir sind nun das neue Israel. Und nicht die große Liebe gesehen, die hinter den harten Gerichtsworten steht und nicht verstanden, dass Gott nicht Schluss gemacht hat mit seinem Volk, und wir als Kirche und Christen nur durch den Mittler Jesus Teil des Volkes Gottes geworden sind. Und noch etwas: Die Gerichtsworte über Israel gelten auch für uns als Christen und Kirche, wenn wir taub werden für die Stimme Jesu.

Jesus weint über Jerusalem, was entsetzt ihn so sehr? Jesus sagt über Jerusalem:

„Wenn doch auch du heute erkannt hättest, was dir Frieden bringt! Aber Gott hat dich blind dafür gemacht.“

Das heißt in der Umkehrung: Ich habe dir Gottes Frieden gebracht, aber du hast ihn nicht angenommen. Du hast deinen eigenen Weg dem Weg vorgezogen, den ich dir gezeigt habe. Du hast die überfließende, Grenzen sprengenden Gnade Gottes nicht erkannt. Schauen wir auf den Bericht von der Bekehrung des Zachäus; der hat sich auf den Frieden eingelassen, den Jesus bringt. Zusammenfassend heißt es am Schluss dieser Geschichte:

„Der Menschensohn ist gekommen, um die Verlorenen zu suchen und zu retten.“ (19, 10)

Das ist Jesus Weg, der zum Frieden führt! Die führenden Priester, die Gesetzeslehrer und auch die Ältesten des Volkes konnten nicht annehmen, dass Jesus auch die in Gottes Reich holt, die auf dem Weg des Gesetzes nicht hineinkommen können. Sie konnten nicht zugeben, dass Jesus in göttlicher Freiheit die rettende Barmherzigkeit Gottes zum Zentrum macht. Sie konnten sich nicht auf einen Messias einlassen, dessen Königtum darin sichtbar wird, dass er die Elenden und Verirrten sucht.

„Wenn doch auch du heute erkannt hättest, was dir Frieden bringt! Aber Gott hat dich blind dafür gemacht.“

Gott hat dich blind gemacht dafür? Ist das richtig übersetzt? Bei Luther heißt es doch: „Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen.“ Im Urtext steht passivisch: „wurde es verborgen“. Das Passiv verweist auf Gott. Warum hat Gott es seinem Volk verborgen? Die Frage findet keine Antwort. Aber ohne Gottes Willen und Zulassen geschieht nichts; Gott ist manchmal ein verborgener Gott. Oder ist gemeint, dass die Verantwortlichen die Zeit verpasst haben, in der sie hätten umkehren können?

Ich lasse es offen. Die Folgen sind erschreckend; der Weg zum Frieden ist verpasst, zum Frieden mit Gott und zum Frieden miteinander. Das führt die Katastrophe herauf. „Denn du hast den Tag nicht erkannt, an dem Gott dir zu Hilfe kommen wollte“, heißt es noch einmal begründend am Ende des Abschnittes. Das ist die harte Wirklichkeit im Rückblick auf damals, von den Juden Jahr für Jahr mit Fasten und Beten am 9. Aw betrauert. Das Zentrum des Gottesdienstes, das Zentrum der versöhnenden Gemeinschaft vor Gott, der Tempel, wurde Israel rund vierzig Jahre nach Jesu Tod am Kreuz genommen. Das Israel seine Katastrophen nicht verdrängt und vergisst, weißt in die Zukunft und gibt Hoffnung.

„Du hast den Tag nicht erkannt, an dem Gott dir zu Hilfe kommen wollte.“ Auch für uns hat dieses richtende Wort Bedeutung. Es gibt die Zeit der besonderen Gnade Gottes; es gibt eine Zeit, in der Umkehr möglich ist; „Gott ist immer für uns da“, wird manchmal gepredigt. Aber wir können nicht immer zu IHM umkehren, das ist die andere Seite. Wenn Gott uns durch Jesus Christus anredet, wenn sein Wort uns trifft, sollen wir hören. Gott nimmt uns ernst in unserem Hören oder Verweigern.

Was anschließend von der „Tempelreinigung“ erzählt wird, hängt eng mit dem Einzug Jesu in Jerusalem zusammen. Es ist Folgerung daraus, dass Jesus der Gesandte Gottes, der Christus ist. Zeichenhaft ergreift Jesus Besitz vom Tempel und ordnet Gottesdienst und Leben im Tempel neu. Die messianischen Lobgesänge der Volksmenge bei Jesu Einzug in Jerusalem hat die Pharisäer aufgeregt, seine Trauer, sein Weinen über Jerusalem und die Ankündigung des Untergangs haben nur die nächsten Begleiter wahrgenommen; die zeichenhafte Reinigung des Tempels aber führt zu großem Ärger bei den Autoritäten. Die führenden Priester, die Gesetzeslehrer und auch die Ältesten des Volkes wollen seinen Tod. Jesus greift in ihre Befugnisse ein, welche Anmaßung für einen Lehrer, den die Volksmenge verehrt, der aber bei den Verantwortlichen kaum Ansehen genießt. Welche Anmaßung eines Menschen aus Galiläa, - was kann aus Nazareth Gutes kommen? – durch den Zeichen der messianischen Zeit geschehen, „Blinde sehen, Gelähmte gehen, Aussätzige werden gesund, Taube hören, Tote stehen auf und den Armen wird die Gute Nachricht verkündet“ (Mt 11, 5), der aber nicht wie ein Messias-König auftritt. Jesu entspricht nicht den Kriterien der Theologen, er hält die Gebote nicht wie sie, zum Beispiel, was den Sabbat betrifft. Aber er fordert Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue (Mt. 23, 23). Darin wird Gottes Reich unter den Menschen sichtbar. Die Volksmenge versammelt sich täglich bei Jesus, um ihn zu hören; sein Schutz in diesen Tagen. Diese Leute gehören nach Meinung der Gesetzeslehrer nicht wirklich zum Volk Gottes, denn sie kennen und halten das Gesetz nicht. (Joh. 7, 49) Welch eine verfahrene Situation, voller Spannung und Konflikt.

Ich will die sogenannte Tempelreinigung nicht nur rückblickend referieren. Wer Herr im Haus der Kirche ist, muss auch heute beantwortet werden. Welch Zugriffsmöglichkeiten geben wir Jesus in Kirche und Gemeinde? Darf er reinreden in den durch Gesetze geregelten und mit geschulter Bürokratie verwalteten Betrieb Kirche? Das mögen wir als rhetorische Frage empfinden. Es geht doch alles seinen guten Gang! Ich schlage vor, alle Sitzungen auf allen Ebnen von Kirche und Gemeinde mit Losung und Gebet zu beginnen und jeweils die Frage zu stellen: Gibt es eine biblische Verheißung oder Mahnung zu dem Thema, dass wir heute behandeln? Ich kann mir vorstellen, dass bei diesem Vorgehen immer wieder einmal eine ganz neue Perspektive sich auftut und unser Herr zu uns redet. Amen.



Pfarrer Winfried Klotz
Bad König
E-Mail: wkl-bad.koenig@t-online.de

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