Liebe Gemeinde,
erinnern Sie sich noch? Es war im März 2014, dass Uli Hoeneß, Fußballnationalspieler und leitender Angestellter des FC Bayern München von der 5. Strafkammer des Landgerichts München II wegen Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt wurde. Ein Mann des öffentlichen Lebens, vielfach geehrt, erfolgreicher Sportler und Manager. Ich will hier gar nicht über die juristischen Zusammenhänge mutmaßen – das kann ich nicht. Ich habe großes Vertrauen in die Unabhängigkeit deutscher Gerichte.
Interessant aber waren Reaktionen in der Öffentlichkeit: Fassungslose Ungläubigkeit „das kann doch gar nicht sein“, Ehrenerklärungen von anderen Sportfunktionären „er hat sich in herausragender Weise um den deutschen Sport verdient gemacht“, standing ovations auf der Mitgliederversammlung seines Vereins. Uli Hoeneß war und ist sicher einer, an dem sich die Geister scheiden; für viele aber ist er eine Art Lichtgestalt. Und damit, so scheint es, erhaben über Fehler. Zumindest dachten in seinem Fall viele so. Einem solchen Gestalter und Sieger muss man doch den kleinen Fehltritt verzeihen. Was? Ins Gefängnis? Wie können die nur! - Reaktionen, an die ich mich gut erinnern kann.
Und ich erinnere mich auch daran, dass ich zunächst einen gewissen Respekt empfand, als bekannt wurde: er tritt die Strafe an, er verzichtet auf Rechtsmittel. Aber dann habe ich mich gefragt: Wieso nötigt es mir Respekt ab, wenn einer, der Gesetze gebrochen hat und verurteilt wurde, dann auch die Strafe dafür antritt? Nur weil er prominent ist? Es ist eine Frage des schlichten Rechts. Aber ich habe mich dabei ertappt, dass die ganze öffentliche Aufregung um den Fall bei mir auch eine emotionale Berührung ausgelöst hat: so als sei die Konsequenz des Verurteilten besonders zu würdigen.
Aber das ist nicht so. Steuerhinterziehung richtet allgemeinen Schaden an. Sie ist strafbar und kein Kavaliersdelikt, genau so wenig wie Alkohol am Steuer oder Gewalt in der Familie Kavaliersdelikte sind. Viele Menschen aber pflegen großzügig zu sein, wenn sie einen anderen gut oder bewundernswert finden – viele sind auch mit sich selbst großzügig, wenn es um das Abwägen von richtig und falsch, von gut und schlecht geht. Das ist sehr, sehr menschlich. Und deshalb müssen wir sie immer wieder aufs Neue stellen, die spannende Frage: Mit welchem Maß messen wir?
Hören wir nun den Predigttext für den heutigen Sonntag, beim Evangelisten Lukas im 18. Kapitel; ich lese aus der Übersetzung von Walter Jens:
Und wieder sprach Jesus in Bildern
und meinte die Menschen,
die an sich selber glaubten
- 'Seht doch! Wie gerecht wir sind!' -
und alle anderen verachteten:
'Ein Nichts seid ihr!':
„Es waren einmal zwei Männer,
die gingen gemeinsam ins Bethaus.
Der eine: ein Pharisäer.
Der zweite: ein Zöllner.
Der eine: hoch geehrt.
Der zweite: verachtet - ein Gehilfe der Römer.
Der Pharisäer stand auf
und neigte, im Tempel, sein Haupt:
'Ich danke dir, Gott, daß ich anders bin als die übrigen Menschen,
kein Räuber, kein Betrüger, kein Ehebrecher,
kein Steuereinnehmer wie der Mann neben mir -
ein Halsabschneider, der's mit den Ungläubigen hält,
den fremden Herren!
Ich aber faste - über Gebühr!
Ich zahle den Zehnten - und gebe ihn doppelt!'
Der Zöllner aber stand, im Dunkel verborgen,
hinten im Tempel und hatte die Augen gesenkt
und schlug sich gegen die Brust:
'Herr! Herr! Sei mir gnädig,
mir Armen,
denn ich bin ein Sünder.'
Ich sage euch: Dieser Mann ging nach Hause a1s ein Gerechter,
der Pharisäer aber nicht.
Denn wer sich selber hochstellt,
wird kleingemacht werden,
doch wer sich kleinmacht,
der wird hochgestellt.“
Was ist der Maßstab? Das ist die Frage hinter diesem Gleichnis, das Jesus da erzählt. Und um gleich mit einem Vorurteil aufzuräumen: Ich glaube nicht, dass Jesus die Pharisäer als Gruppe gläubiger Juden vorverurteilt hat oder als Heuchler abtun wollte. Er hatte unter den Pharisäern ernsthafte, verständige Gesprächspartner. Seine eigene Theologie hat er in der Auseinandersetzung, im gelehrten Gespräch mit ihnen entwickelt. Er war auf seine Weise genau so ein Radikaler, wie sie auf ihre Weise Radikale waren.
Wir würden vielleicht sagen: so ein Pharisäer – und meinen: so ein Heuchler. Sie kennen vielleicht die Geschichte aus Friesland mit dem Kaffee, der durch einen Schuss Rum „verlängert“ wird. Die Geschichte geht so: Entstanden ist der Pharisäer der Überlieferung nach auf der nordfriesischen Insel Nordstrand, und zwar im 19. Jahrhundert. Zu jener Zeit amtierte dort ein besonders strenger Pastor. Die Leute trauten sich nicht, in seiner Gegenwart Alkohol zu trinken. Bei einer Taufe bedienten sich die Eltern einer List und bereiteten den Kaffee mit Rum zu, obenauf eine Sahnehaube. Die Sahnehaube verhinderte dabei, dass der Rum im heißen Kaffee verdunstete und es nach Alkohol roch. Selbstverständlich bekam der Pastor einen „normalen“ Kaffee mit Sahne. Aber er entdeckte es dann doch. Und da soll er ausgerufen haben: „Oh, ihr Pharisäer!“ So hatte das Nationalgetränk der Nordfriesen nicht nur seine Geschichte, sondern auch seinen Namen.
Kleine nette Anekdote, die anschaulich zeigt: Menschen versuchen, sich einer Autorität trickreich zu entziehen, das eigene Verhalten zu tarnen oder zu rechtfertigen – und ganz besonders gern spielen sich solche Geschichte dort ab, wo es um religiöse Autoritäten oder religiöse Moral geht. Und gleichzeitig wird das Fehlverhalten mit der strengen Gruppe der Pharisäer identifiziert, denen nur zu gern unterstellt wurde, sie seien in Wirklichkeit große Heuchler.
Genau das will Jesus nicht sagen. Er will nicht eine religiöse Gruppe bloßstellen, sondern uns auf einen allgemeinen menschlichen Zug aufmerksam machen, der in fast allen Menschen steckt: wir lassen gern fünf gerade sein, wir rechtfertigen uns gern selbst, auch bei schuldhaftem oder Fehlverhalten. Der Pharisäer im Gleichnis ist nur eine besonders markante Gestalt, weil die Pharisäer als Gruppe so besonders rigoros und streng auftraten. Ich könnte auch sagen: wenn überhaupt, müssten wir vom „kleinen Pharisäer in uns allen“ reden.
Der aus unserer Geschichte rechnet Gott alle seine religiösen Leistungen vor. Aber damit kommst du nicht weiter, sagt Jesus. Das interessiert Gott nicht. Dein Glaube ist keine Leistungsschau. Und wenn du ihn so verstehen willst, dann hast du etwas ganz Wichtiges total missverstanden. Denn indem du deine eigene Leistung nach vorn schiebst oder nach oben hebst, musst du dich fast zwangsläufig in den Vergleich mit anderen begeben – und dann geht es ganz schnell: „Ich danke dir, Gott, daß ich anders bin als die übrigen Menschen, kein Räuber, kein Betrüger, kein Ehebrecher, kein Steuereinnehmer wie der Mann neben mir - ein Halsabschneider, der's mit den Ungläubigen hält,
den fremden Herren!“ Das ist nicht angemessen für einen Menschen, der sich der Gnade Gottes verdankt, sagt Jesus. Und an dieser Stelle unterscheidet er sich von den meisten seiner Glaubensgeschwister: Er setzt radikal auf die Gnade Gottes, auf die Güte, auf das Erbarmen. Nicht aber auf das Abarbeiten und das Abrechnen von religiösen Höchstleistungen. Jesus wusste, dass nicht der Mensch für den Sabbat da ist, sondern umgekehrt. Vertrauen ist seine Devise, nicht Buchführung. Wenn, dann stritt er mit Pharisäern und Schriftgelehrten um die Frage, was denn vor Gott gilt: Leistung oder Vertrauen.
Der andere nämlich, der offenkundige Sünder, der Zöllner, der Betrüger, der hat nichts vorzuweisen an frommer Leistung – nur die Einsicht in seine offenkundige Schuld. Und das – sagt Jesus – das reicht. Das ist genug. Damit, weil es ernst gemeint ist, kommt er weiter. Denn Glaube ist kein Leistungssport. Glaube ist das schlichte Vertrauen, dass Gott auf krummen Linien gerade schreiben kann.
Martin Luther hat das in ein sehr plastisches Bild gefasst: er sprach vom Menschen, der in sich selbst verkrümmt ist (homo incurvatus in seipsum). Ein solcher Mensch geht gebückt und unter Schmerzen, er kann den Blick nicht heben, weil der Rücken krumm ist und die Seele ihn drückt. Er hat keinen Ausblick, keine Perspektive. Gott aber will den aufrechten Gang, die Entlastung, die Befreiung von Schuld. Und viele von uns wissen wie gut das tut, wenn dir eine Last von der Seele genommen wird und du wieder den Blick heben und Ausblick gewinnen kannst. Das kann geschehen, sagt Jesus, wenn du aufhörst vorrechnen zu wollen. Noch einmal mit Martin Luther gesprochen – pecca fortiter sed crede fortius = sündige nur feste drauf los, aber glaube noch fester.
Viele nach dem Reformator haben gern den ersten Teil zitiert und den zweiten unterschlagen. Und dann kam als lutherische Lehre heraus: Sündige nur tapfer drauf los (weil's ja wurscht ist, die Gnade wird’s schon richten).
So, liebe Schwestern und Brüder, war das aber nicht gemeint. Luther war alles andere als ein leichtfertiger Prediger. Vielmehr war er ein sehr genauer Kenner der Menschen. Er meinte: Sündige nur feste drauf los – weil du gar nicht anders kannst als immer und immer wieder schuldig zu werden. Das ist schon deshalb so, weil du ein Mensch bist. Und rede dir bloß nichts anderes ein. Aber glaube noch fester – nämlich an die Gnade Gottes, der das wieder geraderichten kann, was du nicht und überhaupt nicht zuwege bringst. Orientiere ich an der Versöhnung die Jesus gepredigt und vorgelebt hat. Wenn du das tust und darauf vertraust, dann wird Gottes Versöhnung, dann wird Gottes Gnade wirksam werden, dann wird sie das Leben gestalten, ja umgestalten.
Und dann kommen auf einmal viele in den Blick, die, die bedrückt sind von Trauer, mit der sie nicht fertig werden. Die distanzierten Skeptiker, die fragen, wozu das alles gut sein soll. Die Pragmatiker, die meinen, der Zweck heiligt die Mittel. Die großen Gangster und die kleinen Tagediebe. Die Verwirrten genauso wie die Selbstgerechten. Und alle anderen dazwischen, die wir irgendwie versuchen, anständig und fair zu leben – und doch immer wieder merken: allein kommen wir nicht zurecht.
Jesus will uns zur Barmherzigkeit ermuntern, weil Gott uns seine Barmherzigkeit anträgt. Darauf, allein darauf kommt es an. Darauf, allein darauf sollst du vertrauen. Es wird etwas machen mit dir und deinem Leben.
So quer zu all unserer Leistungslogik es klingt: das einzige, dem du dich unterordnen musst, ist die Gnade, die Barmherzigkeit Gottes. Lass dir die geschenkt sein – und du wirst eine große Befreiung erleben. Befreiung zur Aufrichtigkeit, zur Freundlichkeit, zur Barmherzigkeit. Da öffnen sich Türen: Dieser ging befreit nach Hause.
Sehr schön – wenn auch sehr streng – hat das Jochen Klepper in seinem Lied „Er weckt mich alle Morgen“ (EG 452) zum Ausdruck gebracht. Die Spannung zwischen dem, was er erlebt, und dem, was er glaubt, löscht er in dem Gedicht nicht aus. Aber das Vertrauen siegt: „Er (Gott) ist mir täglich nahe und spricht mich selbst gerecht. Was ich von ihm empfahe, gibt sonst kein Herr dem Knecht.“
Lassen Sie sich locken, dieses Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit mitzunehmen in die neue Woche!
Amen.
Jochen Kleppers Morgenlied EG 452 empfehle ich als Lied nach der Predigt.
Anstelle des Fürbittengebets (oder als Kopie zum Mitnehmen) kann ich mir einen Text von Johannes XXIII. vorstellen, der in der bayerischen Ausgabe des Evangelischen Gesangbuches nach dem Lied 592 zu finden ist:
Nur für heute werde ich mich bemühen, den Tag zu erleben, ohne das Problem meines Lebens auf einmal lösen zu wollen.
Nur für heute werde ich die größte Sorge für mein Auftreten pflegen: vornehm in meinem Verhalten; ich werde niemand kritisieren, ja ich werde nicht danach streben, die anderen zu verbessern, nur mich selbst.
Nur für heute werde ich in der Gewissheit glücklich sein, dass ich für das Glück geschaffen bin, nicht für die andere, sondern auch für diese Welt.
Nur für heute werde ich mich an die Umstände anpassen, ohne zu verlangen, dass die Umstände sich an meine Wünsche anpassen.
Nur für heute werde ich zehn Minuten meiner Zeit einer guten Lektüre widmen; wie die Nahrung für das Leben notwendig ist, so ist die gute Lektüre notwendig für das Leben der Seele.
Nur für heute werde ich eine gute Tat vollbringen, und ich werde es niemand erzählen.
Nur für heute werde ich etwas tun, das ich keine Lust habe zu tun; sollte ich mich in meinen Gedanken beleidigt fühlen, werde ich dafür sorgen, dass niemand es merkt.
Nur für heute werde ich ein genaues Programm aufstellen. Vielleicht halte ich mich nicht genau daran, aber ich werde es aufsetzen. Und ich werde mich vor zwei Übeln hüten: vor der Hetze und der Unentschlossenheit.
Nur für heute werde ich fest glauben – selbst wenn die Umstände das Gegenteil zeigen sollten –, dass die gütige Vorsehung Gottes sich um mich kümmert, als gäbe es sonst niemand in der Welt.
Nur für heute werde ich keine Angst haben. Ganz besonders werde ich keine Angst haben, mich an allem zu freuen, was schön ist, und an die Güte zu glauben.
Johannes XXIII