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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 30.08.2015

Dynamik der Liebe und des Erbarmens
Predigt zu Lukas 10:25-37, verfasst von Mira Stare

Liebe Glaubende,

 

alle vier Evangelien bezeugen, wie Jesus im Laufe seines öffentlichen Wirkens verschiedene Gespräche mit Menschen führt und auf ihre Fragen eingeht. So ereignet sich auch im heutigen Evangelium das Gespräch zwischen Jesus und einem Gesetzeslehrer. Diesmal geht die Gesprächsinitiative vom Gesetzeslehrer aus. Er möchte Jesus auf die Probe stellen. Trotz dieses widrigen Anlasses für das Gespräch lässt sich Jesus ins Gespräch ein. Im Laufe des Gesprächs stellt der Gesetzeslehrer Jesus zwei Fragen. Jeweils gibt ihm Jesus eine Antwort, die in eine Aufforderung zum konkreten Handeln mündet.

 

Die erste Frage des Gesetzeslehrers betrifft das ewige Leben und die konkreten Möglichkeiten, dieses zu erben. Er fragt: „Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ (Lk 10,25). Jesus antwortet mit einer Gegenfrage. Er fragt den Gesetzeslehrer nach dem, was im Gesetz geschrieben ist bzw. was dort zu lesen ist. Der Gesetzeslehrer erweist sich kundig im Gesetz und spricht das Liebesgebot aus: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft und mit deinem ganzen Verstand, und deinen Nächsten sollst die lieben wie dich selbst“ (Lk 10,27). Jesus bestätigt die Antwort des Gesetzeslehrers und spricht seine erste Aufforderung an ihn aus: „Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben“ (Lk 10,28). Der Gesetzeslehrer und Jesus sind sich einig, dass das ewige Leben und die Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst in Relation stehen. Das ewige Leben ist nur in den Koordinaten der Liebe erfahrbar. Jesus fordert den Gesetzeslehrer jedoch auf, diese Erkenntnis im Leben konkret umzusetzen.

 

Der Gesetzeslehrer scheint mit Jesus einverstanden zu sein. Man hat nicht mehr das Gefühl, dass er Jesus noch weiter auf die Probe stellen möchte. Umgekehrt, er vertieft sich in den Vorschlag Jesu, das Liebesgebot in die Praxis umzusetzen. Nun stellt er Jesus seine zweite Frage. Diese betrifft noch genauer das Liebesgebot. Er fragt ihn: „Und wer ist mein Nächster?“ (Lk 10,29). Nicht die Liebe zu Gott oder die Liebe zu sich selber beschäftigen den Gesetzeslehrer so sehr wie die Liebe zum Nächsten und die Frage, wer dieser überhaupt ist. Er öffnet sich ehrlich Jesus auch in seiner Unsicherheit betreffend seinen Nächsten. Liebe Glaubende, vielleicht wissen auch wir nicht immer genau, wer unser Nächster ist. Jesus geht auf diese Frage ein. Er sagt jedoch nicht direkt, dieser oder jener ist dein Nächster. Nein. Er erzählt dem Gesetzeslehrer ein Gleichnis. Mit Hilfe dieses Gleichnisses kann der Gesetzeslehrer Schritt für Schritt entdecken, wer sein Nächster ist. Nun werden auch wir versuchen, diesem Gleichnis und seiner Botschaft näher zu kommen. Vielleicht werden auch wir tiefer die Thematik der Nächstenliebe verstehen.

 

Jesus erzählt: Ein von Räubern überfallener, geplünderter und geschlagener Mensch liegt halbtot auf dem Boden. Er zeigt sich in all seiner Bedürftigkeit: nackt, allein, hilflos, verletzt, sterblich. Er ist völlig auf die Hilfe der anderen angewiesen. Zufällig kommt ein Priester vorbei. Er sieht diesen Menschen, macht aber einen Umweg um ihn und geht weiter. Danach kommt ein Levit. Er sieht den Verletzten, handelt aber genauso wie der Priester. Nun kommt noch ein Fremder, ein Samariter. Nachdem sogar religiöse Autoritäten in der Hilfeleitung völlig versagen, ist eigentlich von diesem Fremden nichts mehr zu erwarten. Es kommt jedoch zur positiven Wende. Auch der fremde Mann sieht den Verletzten, wird jedoch aber anders der Priester und der Levit innerlich zutiefst berührt. Er fühlt und hat Mitleid und Erbarmen mit dem Verletzten. Er kann nicht mehr weiter gehen, sondern versorgt den Verletzten und bringt ihn zu einer Herberge, wo er die weitere Hilfe organisiert. Er wird zu seinem Lebensretter und zu seinem Nächsten.

 

Diese Geschichte zeigt deutlich, wie entscheidend die Tiefe des Sehens ist. Bleibt unsere Wahrnehmung auf der Oberfläche, werden wir auf die Bedürftigkeit der Notleidenden nicht richtig reagieren können. Berührt sie uns innerlich, dann wird uns die Situation der Notleidenden nicht mehr in Ruhe lassen. Wir werden darauf reagieren, auch wenn wir uns in der Hilfeleistung hilflos fühlen oder uns nicht richtig kompetent bzw. professionell wissen. Werke der Nächstenliebe, auf individueller und institutioneller Ebene, können nur aus diesem tieferen Sehen und der inneren Berührung mit Notleidenden vollbracht werden. Und wie diese Geschichte zeigt, werden durch innere Berührung / das Erbarmen in einer Notsituation zwei vorher einander fremde Menschen zu Nahestehenden. Nicht nur der Hilfebedürftige ist der Nächste für den Samariter, sondern auch der barmherzige Samariter wird durch seine Hilfeleistung zum Nächsten von dem, den er gerettet hat.

 

Diese Wandlung auf der Beziehungsebene ist Jesus besonders wichtig. So stellt er dem Gesetzeslehrer, nachdem er das Gleichnis fertig erzählt hat, die Frage: „Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?“ Der Gesetzeslehrer hat das Gleichnis gut verstanden und antwortet: „Der, der das Erbarmen mit ihm getan hat“ (Lk 10,37). Mit Hilfe des Gleichnisses begreift der Gesetzeslehrer, dass die Nächstenliebe mit dem Erbarmen verbunden ist – mit dem Erbarmen, das innerlich zutiefst bewegt, und mit dem Erbarmen, das in Wort und Tat konkret wird. Die Dynamik des Erbarmens vermag, dass zwei vorher fremde Menschen einander zu Nächsten werden. Das Erbarmen hinterlässt in dieser Beziehung den Abdruck der Liebe Gottes. Nachdem der Gesetzeslehrer das Gleichnis auch in der Sicht Jesu verstanden hat, spricht Jesus seine zweite Aufforderung an ihn aus: „Dann geh und handle genauso!“ (Lk 10,37).

 

Liebe Glaubende, die Frage nach dem Leben und besonders nach dem unvergänglichen ewigen Leben ist für jeden Menschen und auch für jede und jeden von uns von Bedeutung. Das heutige Evangelium zeigt uns, dass das ewige Leben im Bereich der praktizierenden Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu sich selber schon jetzt erfahrbar ist. Weiter fordert uns das Evangelium auf, sich mit der Frage nach unserem Nächsten auseinanderzusetzen. Wer ist mein Nächster? Was berührt und bewegt mich bei den anderen Menschen innerlich? Hat mich die Situation der Menschen in ihren verschiedenen Nöten schon so berührt, dass ich darauf tatsächlich reagiert habe oder sogar meine Wege und Pläne verändert habe? Mit wem habe ich Erbarmen? Wir sind eingeladen, das Erbarmen mit unseren Mitmenschen nicht nur zu spüren, sondern es auch in konkrete Tat umzusetzen. Jesus gibt uns heute zwei Fragen für unseren Alltag: Wer ist mein Nächster? Und für wen bin ich der / die Nächste geworden? Lassen wir uns auf die Dynamik der Nächstenliebe und des Erbarmens in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen ein! Dann werden wir gewiss bereits hier und jetzt gemeinsam mit unseren Mitmenschen einen Vorgeschmack des unvergänglichen ewigen Lebens erfahren.

 

 



Senior Scientist Dr. Mira Stare
Innsbruck
E-Mail: Mira.Stare@uibk.ac.at

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