Eine Geschichte, bei der scheinbar alles klar ist. Wer genau hinhört, bemerkt jedoch kleine Unstimmigkeiten. Hat die Erzählung vielleicht eine andere Botschaft, als es auf den ersten Blick scheint? Hören Sie selber, ich lese aus dem Evangelium nach Lukas [Lk 10,25-37].
Mit den Konfirmanden stelle ich diese Begebenheit nach. Die meisten Jungs wollen die Räuber sein. Wenn wir dann über den Sinn der Geschichte sprechen, sind sich aber schnell alle einig: Jesus wirbt für die Nächstenliebe. Wenn Menschen Hilfe brauchen, dürfen wir nicht an ihnen vorbeigehen. Sondern wir sollen unserem Nächsten helfen.
Dass ausgerechnet ein Priester zur Seite guckt, übergehen die Konfis meistens zartfühlend. Vielleicht wollen sie mir die Peinlichkeit ersparen. Aber wenn ich es selbst anspreche, kommt deutliche Kritik. Typisch Pfarrer. Typisch Funktionäre. Für praktische Hilfe sind die nicht zu gebrauchen. Nur der Sanitäter hilft. Wer?, frage ich nach. Na der Sanitäter. Der Samariter. Gibt’s doch heute auch noch: Im Notfall kommen die mit einem Rettungswagen.
Das überrascht. Natürlich geht es um das Opfer. Ihm muss geholfen werden. Aber Jesus lenkt die Aufmerksamkeit auf einen anderen. Deshalb lohnt es sich, etwas genauer auf die drei Männer zu achten, die auf den Ausgeraubten treffen.
Zuerst der Priester. Er kommt aus Jerusalem.Dort ist er am Tempel beschäftigt. Er leitet die Gottesdienste und die Opferzeremonien. Von ihm wird erwartet, dass er Gottes Gesetze gewissenhaft erfüllt. Er muss sich frei von Schuld halten, denn er steht dem Bereich des Göttlichen besonders nahe.
Auch wenn kein einzelnes Gesetz fordert, sich um die Opfer eines Raubüberfalls zu kümmern – es liegt doch auf der Hand, dass der Geist der Gesetze solche Hilfe vorschreibt. Wir wären also nicht überrascht, wenn sich der Priester um das Opfer kümmern würde.
Genauso der Levit. Auch er arbeitet am Tempel. Auch er dürfte auf dem Heimweg aus Jerusalem zurück in sein Dorf sein, wie der Priester. Leviten haben eine untergeordnete Stellung. Man kann sie als Tempeldiener bezeichnen. Der Priester mag um seine Reinheit fürchten. Er mag gewohnt sein, das Praktische seinen Hilfskräften zu überlassen. Umso mehr dürfen wir vom Leviten erwarten, dass der dem Überfallenen hilft.
Der dritte Passant ist ein Samariter. Natürlich kein Sanitäter. Als 1888 der Arbeiter-Samariter-Bund gegründet wurde, wählten die Vereinsmitglieder das biblische Vorbild als Namensgeber.
Samariter waren die Bewohner der Gegend zwischen Judäa und Galiläa. Sie waren aus dem Volk Israel hervorgegangen. Aber von den Juden wurden sie nicht als Ihresgleichen anerkannt. Der Tempel in Jerusalem war ihnen verboten. Sie galten als unrein, weil sie sich mit den Nachbarvölkern stärker vermischt hatten als die Juden.
III. Für die Zuhörer von Jesus war der Samariter also ein fragwürdiger Mensch. Ungefähr so problematisch wie all die anderen, auf die Jesus zuging: Zöllner, Ehebrecherinnen, Ausländerinnen, Aussätzige und andere Figuren am Rand der Gesellschaft.
Wenn Jesus sich um diese Leute kümmert, dann meistens in zwei Schritten. Der erste Schritt ist: Er geht auf sie zu. Er öffnet sich ihnen. Er stellt keine Vorbedingungen, sondern lässt sich auf sie ein. Bei Zacchäus isst er. Die Ehebrecherin bewahrt er vor der Steinigung. Und Kranke heilt er.
Als Evangelische achten wir besonders auf diesen ersten Schritt. Darin erkennen wir, wie groß Gottes Liebe ist. Gott nimmt uns an, ohne Voraussetzungen. Wir müssen keine Bedingungen erfüllen und keine Leistungen vorweisen. Wir müssen keinem bestimmten Volk angehören und nicht in irgendeiner Weise rituell rein sein. Gott ist offen für uns, so wie wir sind. Aus reiner Gnade, wie das in der Sprache der Theologen heißt.
Auf diesen ersten folgt bei Jesus in der Regel jedoch ein zweiter Schritt. Er erwartet eine Antwort. Zacchäus ist so glücklich über Jesu Besuch, dass er sie von selbst gibt: „Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden Betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.“ Der Ehebrecherin sagt Jesus: „Geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“
Als er einmal zehn Leprakranke geheilt hat, kommt nur einer zurück, um zu danken. Auch das ist übrigens ein Samariter. Jesus fragt bekümmert: „Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben?“
Aber wenn wir eine Beziehung mit Gott gefunden haben; wenn Gott eine Wirklichkeit in unserem Leben geworden ist – dann ist diese Beziehung auf Vertiefung angelegt. Das alte Leben völlig unverändert weiterführen; sich phlegmatisch darauf verlassen, dass Gott schon in regelmäßigen Abständen wieder vorbeischauen und seine Gnade spielen lassen wird – das kann es nicht sein.
Die Antworten, die wir geben, können ganz unterschiedliche Formen haben. Lazarus wurde zum Wohltäter. Die Ehebrecherin erhielt die Chance auf einen Neuanfang. Und die Antwort des geheilten Leprakranken war, dass er Gott dankbar lobte.
Die Geschichten des Neuen Testaments erzählen oft vom ersten Schritt. Von der Begegnung mit Jesus. Der Lebenswende, die er bewirkt. Der zweite Schritt wird oft unserer Vorstellungkraft überlassen. Vielleicht ja auch, weil der Erfolg nicht garantiert ist. Wie bei den zehn Leprösen, von denen sich nur einer zu einer Antwort aufraffte.
Die Erzählung des Samariters ist eine Geschichte des zweiten Schrittes. Was für ihn der erste war, wissen wir nicht. Hatte er ein besonderes Erlebnis, das ihn aus seiner Außenseiterrolle befreite? Immerhin war er auf der Straße nach Jerusalem, wo er eigentlich unerwünscht war. Irgendetwas hat ihm geholfen, nicht in den Grenzen von Fremdenfeindlichkeit und religiöser Ausgrenzung gefangen zu bleiben.
Wenn der Priester oder der Levit geholfen hätten, wäre das nichts Außergewöhnliches gewesen. Dass sie hartherzig vorbeigehen, ist umso peinlicher. Dass der Samariter, von dem keiner etwas Gutes erwartet, zum Helfer wird, das ist außergewöhnlich.
Unsere evangelische Tradition hat sich mit diesem zweiten Schritt immer schwer getan. Entweder fürchtete sie, dass die Voraussetzungslosigkeit von Gottes Zuwendung vernebelt wird. Oder sie nannte diesen zweiten Schritt „Heiligung“. Ein Wort von Paulus. Dadurch bekommt das Handeln jedoch eine geradezu beängstigende Weihe.
Ich möchte lieber ganz schlicht von einer Antwort sprechen. Wir reagieren darauf, dass Gott den ersten Schritt auf uns zu macht. Gott hat ein lebenslanges Gespräch mit uns eröffnet. Durch unsere Antwort zeigen wir, dass es tatsächlich eine Beziehung ist. Wechselseitig, von Du zu Du. Die Verwirklichung einer Möglichkeit, die Gott eröffnet hat.
Worin unsere Antworten liegen, kann ganz unterschiedlich sein. Wir können im Gebet unsere Beziehung zu Gott pflegen. Im Gottesdienst. Wir können daran arbeiten, einen liebevollen Umgang mit anderen Menschen zu finden. Und wir können ein Auge dafür haben, wo Menschen unsere Hilfe brauchen. Außenseiter. Flüchtlinge. Sozial Schwache. Kranke. Denen ganz praktisch zu helfen kann eine beeindruckende Aussage sein in unserem Lebensgespräch mit Gott. So wie der Samariter sie gemacht hat. Keiner hatte sie von ihm erwartet. Amen.