Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 30.08.2015

Predigt zu Lukas 10:25-37, verfasst von Johannes Lähnemann

Der Text:

(25) Und siehe, ein Gesetzeslehrer stand auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?

(26) Er (Jesus) aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?

(27) Er antwortete und sprach: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und mit aller deiner Einsicht – und deinen Nächsten wie dich selbst.

(28) Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.

(29) Er aber wollte sich rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster?

(30) Da antwortete Jesus und sprach:

Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber, die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen.

(31) Zufällig aber ging ein Priester dieselbe Straße hinab, und als er ihn sah, ging er vorüber.

(32) Ebenso auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber.

(33) Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn;

(34) und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.

(35) Am nächsten Morgen zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme.

(36) Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?

(37) Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

 

Liebe Gemeinde,

es gibt einen Filmstreifen unter dem Titel „Es lag einer“. Er spielt mitten in einer belebten Stadt. Es ist Winter, und auf dem Bürgersteig, nahe einer U-Bahn-Station, liegt ein Mann, reglos. Viele Menschen passieren die Stelle. Manche sehen gar nicht hin. Andere sehen hin, stocken vielleicht, aber gehen weiter. En Hund wird geführt. Kurz schnuppert er an dem Mann. Es dauert eine Viertelstunde, bis jemand kommt, der sich herabbeugt zu ihm, ihn vorsichtig bewegt und dann die Polizei ruft. Als die Polizei eintrifft, steht der Mann auf, offenkundig nicht verletzt. Eine gestellte Szene also, aufgenommen von einer versteckten Kamera. Glücklicherweise, könnte man sagen. Aber sie hinterlässt ein betroffenes Gefühl: Das kann doch nicht sein, dass so viele Menschen einfach vorübergehen, als gehe sie diese Szene gar nichts an. Leider wissen wir: Es kann so sein. Es passiert immer wieder, dass die nötige Hilfeleistung lange ausbleibt. Und wer von uns wäre nicht schon in der Situation gewesen, dass er sich in einem ähnlichen Fall nicht gefragt hat: Kann ich meinen Plan, das, was ich jetzt dringend erledigen muss, schlichtweg vergessen, um einzugreifen, um zu helfen? Entschuldigungen, nicht zu helfen, gibt es viele.

Jesus greift eine solche Situation auf, allerdings ist sie noch viel krasser. Seine Gleichnisse greifen mitten ins Leben ein; sie sind keine erbaulichen Texte, sondern provozierende Bilder und Beispiele. Und oft geht es dabei um Leben und Tod.

So auch, als ihn ein Gesetzeskundiger, ein Schriftgelehrter, ein in theologischen Debatten Geübter auf die Probe stellt: „Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ fragt er Jesus. Jesus nimmt die Frage auf. Aber er gibt nicht eine unmittelbare Antwort. Er stellt die Gegenfrage: „Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?“

Du musst es doch eigentlich wissen, als Gesetzeskundiger, der du bist!

Und der Schriftgelehrte geht darauf ein. Er antwortet mit dem Doppelgebot der Liebe:

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und mit aller deiner Einsicht – und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Der Schriftgelehrte zitiert aus der Thora, den 5 Büchern Mose. Dort steht das Doppelgebot der Liebe nicht an einer Stelle, sondern das Gebot der Gottesliebe an der einen (Dtn/5. Mose 6,4-5), das Gebot der Nächstenliebe an einer anderen Stelle (Lev/3. Mose 19,18). Aber in der Antwort des Schriftgelehrten wird deutlich: Diese beiden Gebote gehören unlöslich zusammen; das eine ist nicht ohne das andere zu haben.

Jesu Reaktion auf diese Antwort ist kurz und bündig: „Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.“

Damit könnte die Szene eigentlich zu Ende sein: Die Frage des Schriftgelehrten ist beantwortet. Er hat die richtige Antwort selbst gefunden, wobei Jesus freilich betont, dass es nicht nur darauf ankommt, das Gebot zu kennen, sondern es auch zu tun!

Doch so schnell lässt sich der Schriftgelehrte nicht abfertigen. Er will sich dafür rechtfertigen, dass er überhaupt die Frage gestellt hat und greift tiefer in die Debatte ein: „Wer ist denn mein Nächster?“ Diese Frage wurde damals (wie auch heute oft noch) kontrovers diskutiert: Sind die Nächsten meine Familie, meine Verwandten, meine Nachbarn, sind es darüber hinaus die Volksgenossen, die Glaubensschwestern und –brüder? Wie weit reicht der Kreis der Nächsten? Gibt es da nicht ganz deutliche Grenzen?

Jesus antwortet darauf mit einem Gleichnis. Hier erleben wir ihn als unverwechselbaren Erzähler, der seine Hörer gleichsam an der Hand nimmt und sie hinein führt in eine Situation, die ihnen eine ganz neue Erkenntnis aufleuchten lässt, oft entgegen dem, was sie erwarten konnten.

„Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho“. Der Schriftgelehrte kann sich diesen Weg gut vorstellen: vom hoch gelegenen Jerusalem hinab nach Jericho am Toten Meer, wüstenhaft, durch Gebüsch und Gestrüpp, in dem sich Wegelagerer gut verstecken konnten. Was geschieht, wird mit ganz wenigen Strichen umrissen: Der Mann aus Jerusalem „fiel unter die Räuber, die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen.“ Eine elende Situation in dem wüstenhaften Gelände unter sengender Sonne.

Was dann folgt, ist eine Überraschung nach der anderen: Da kommt ein Priester, sieht ihn – und geht vorüber. Dann kommt ein Levit, eine Tempeldiener also, sieht ihn – und geht vorüber. Lapidar und kurz wird das aufgezählt. Über die Motive wird nichts gesagt, auch wenn viel darüber spekuliert worden ist: Wollten sie sich nicht am Blut des Überfallenen kultisch unrein machen? In der Reihenfolge würde der Hörer der Geschichte jetzt erwarten, dass als Dritter ein jüdischer Laie, also ein Mensch ohne religiöse Funktion, kommen würde.

Aber es geht ganz anders weiter: Es kommt ein Samariter .. – Samariter, da stellen sich bei dem jüdischen Zuhörer feindliche Gefühle ein: Die Samariter, die ihre eigene Gottesverehrung auf dem Berg Garizim pflegten, unabhängig vom Tempel in Jerusalem, galten als die Abtrünnigen schlechthin: Sie hatten die jüdische Tradition gleichsam verunreinigt, hatten sich mit Nichtjuden vermischt. Ein frommer Jude vermied es nach aller Möglichkeit, durch Samarien zu ziehen, wenn er von Galiläa im Norden nach Jerusalem reiste und der direkteste Weg durch Samarien führte.

Und genau an dieser Stelle wird Jesu Erzählung nun viel ausführlicher: Auch der Samariter sieht den Überfallenen, wie der Priester und der Levit. Aber ihn erfasst Erbarmen. Zum ersten Mal kommt in der Erzählung eine Emotion vor. Und nun wird aufgezählt, was der Samariter alles tut: Er versorgt den Verletzten mit dem, was er hat. Er legt ihn auf sein Reittier. Er bringt ihn zu einer Herberge. Und er kümmert sich um viel mehr als das Notwendige: Er pflegt den Kranken. Und am nächsten Morgen gibt er dem Wirt 2 Silberdenare – immerhin etwa 2 Tagesverdienste eines Tagelöhners –, damit dieser ihn weiter pflegt. Dazu verspricht er, mehr zu zahlen, falls es nötig ist, wenn er wiederkommt. Größer kann der Kontrast zu dem Priester und dem Leviten nicht sein!

Und nun folgt die Anwendung des Gleichnisses. Sie hat zwei unterschiedliche Blickrichtungen. Dabei wird die erste Blickrichtung meistens übersehen, obwohl sie besonders herausfordernd ist:

Jesus fragt den Schriftgelehrten: „Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Der Schriftgelehrte antwortet korrekt: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat.“ Aber das Wort Samariter kommt ihm dabei nicht über die Lippen. Dabei steckt hier die eigentliche Provokation: Der Mann aus Jerusalem, der Jude, der beraubt und halbtot in der Wüste liegt, muss akzeptieren, dass einer, der nicht seiner Volks– und Glaubensgemeinschaft angehört, ja, von ihr feindlich angesehen und verachtet wird, sein Leben rettet. Jesus macht damit klar: Du kannst in eine Situation kommen, in der du dir den nicht aussuchen kannst, der dir hilft, in der es ohne die Feindesliebe, die der Samariter praktiziert, keine Lebensrettung gäbe. Du musst dann deinen Feind als Nächsten akzeptieren! Die Erfahrung, dass wirkliche Nächstenliebe auch Feindesliebe einschließt, reißt die Grenzen ein, die um den Begriff des Nächsten gezogen werden. Damit ist das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter die praktische Anwendung des Gebotes der Feindesliebe, das Jesus in der Bergpredigt verkündigt, wo es heißt: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und bitte für die, die euch verfolgen. So werdet ihr Kinder eures Vaters in den Himmeln sein!“

Wenn ich gefragt würde: Können Sie sich ein Beispiel aus der Neuzeit vorstellen, dass dem entspricht, dass jemand, der als Feind oder als Fremder gegolten hat, sich unerwartet als Nächster erweist, so würde ich auf die Situation in Deutschland nach dem Zusammenbruch 1945 hinweisen: Unser Land lag nach dem Krieg, der von ihm ausgegangen war, vollkommen am Boden. Die Feindbilder gegenüber den Franzosen, den Engländern, den Amerikanern, den Russen, mit denen die vermeintliche Notwendigkeit des Totalkrieges gerechtfertigt wurde, besetzten noch immer das Bewusstsein vieler Deutscher. Und dann gab es Menschen und besonders auch kirchliche Gruppen besonders in Amerika, die mit Care Paketen und Hilfsmaßnahmen halfen, schlimmste Nöte zu lindern – trotz der selbst erfahrenen Verluste und Verletzungen. Das wurde der Anfang der Versöhnung nach all dem Leid.

Ein uns zeitlich noch näher liegendes Beispiel ist für mich der von Ausländerhass getriebene Brandanschlag auf das Haus der türkischen Familie Genc in Solingen im Jahr 1993, bei dem 5 Mitglieder der Familie ums Leben kamen. Trotzdem bemühte sich Mevlüde Genc, die Mutter, Großmutter und Tante der Ermordeten in den Jahren nach den Morden immer wieder um die Versöhnung zwischen der Bevölkerung Solingens und ihrer Familie beziehungsweise der türkischstämmigen Bevölkerung in der Stadt, und zwar so überzeugend und nachhaltig, dass ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde.

Zu lernen und zu erfahren, dass Feinde Freunde werden können, dass sie als „Nächste“ erkannt werden, ist ein Prozess, der sich als notwendig, lebensnotwendig erweisen kann, wenn unsere Gesellschaft und unsere Völker nicht noch mehr in Lager und Feindlichkeiten auseinanderdriften sollen.

Und nun kommt noch die zweite, die uns vertrautere Perspektive des Gleichnisses. Nachdem der Schriftgelehrte erkannt hat, dass es der Samariter ist, der sich hier als der Nächste erwiesen hat, sagt Jesus nun zum zweiten Mal: „Tu das!“ Er ermuntert den Schriftgelehrten: „So geh hin und tu desgleichen!“ Er könnte auch sagen: „Werde so wie dieser Samariter!“

Das ist die zweite, unüberholte Botschaft des Gleichnisses – und sie gilt uns heute ebenso wie damals dem Schriftgelehrten.

Denn wie viele Hilfsbedürftige, Kranke, Heimatlose und unter die Räuber Gefallene gibt es gegenwärtig in der Nähe und noch mehr in der Ferne: 60 Millionen Menschen gegenwärtig auf der Flucht, Millionen unter den Folgen von Naturkatastrophen Leidende.

Es ist ein großes Potential unseres Landes, dass wir viele Organisationen, Gruppen und Einzelne haben, die sich für das Wohl derer, die in besonderer Not sind, einsetzen. Oft erreichen uns von vielen Seiten her Bitten, bei denen wir nicht allen folgen können. Aber wenn wir uns wenigstens an einer Stelle gut informieren und unsere Kräfte einsetzen, ist das ein Zeichen, das Hoffnung setzt.

In unserer Stadt Goslar gibt es den Verein „Leben in der Fremde“, der an den Schicksalen von Einzelnen und Familien teilnimmt, die aus der Fremde zu uns gekommen sind. Dazu gehören notwendige Gänge zu den Behörden, zu den Ärzten, die Frage nach der Wohnunterbringung (Welcher Vermieter nimmt gerne gleich ein farbige Familie?). Unsere Gemeinde hat jetzt einen Kontingentflüchtling aus Eritrea als Küster eingestellt – ein Christ, einsatzbereit; aber wie viel Anleitung braucht er noch in der alten gotischen Kirche, bei einem ihm fremden Gottesdienstablauf…? Wer aber den Wegen derer nachgeht, die aus schlimmster Not und über schwierigste Wege zu uns gekommen sind, den kann ihr Schicksal nicht beruhigt lassen.

Natürlich ist es eine notwendige und ganz schwierige Aufgabe, an den Wurzeln von Not und Vertreibung zu arbeiten. Das geht nicht ohne politischen und wirtschaftlichen Einsatz auf ganz verschiedenen Ebenen – und gegenüber dem Terror wohl leider auch nicht ohne militärischen Einsatz.

Aber die Priorität des menschenwürdigen Umgangs und das Ziel, dass aus Feinden Freunde werden können, muss immer gewahrt bleiben. Jesus selbst hat es uns vorgelebt und es für uns gelebt, und er sagt uns auch heute: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern und Schwestern, das habt ihr mir getan.“



Prof. Dr. Johannes Lähnemann
Goslar
E-Mail: johannes@laehnemann.de

(zurück zum Seitenanfang)