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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 30.08.2015

Predigt zu Lukas 10:25-37, verfasst von Rüdiger Lux

Liebe Schwestern und Brüder,

ein Geständnis vorweg: Zur Vorbereitung auf diese Predigt habe ich das Stichwort »Ewiges Leben« gegoogelt − und bin gleich bei einem der ersten Einträge hängen geblieben. Da war zu lesen: »Das ewige Leben – ab 19. März im Kino«. Ist das nicht wunderbar? Endlich ein handfestes Angebot. Da weiß man doch wenigstens, woran man ist, wenn einem die Stunde schlägt. Meine Begeisterung bekam so richtig Schwung, als ich las, dass die Vorlage für diesen Film vom Wiener Krimiautor Wolf Haas stammt, der die wunderbar lakonisch-kauzige Figur des Kommissars Brenner erfunden hat. So wie Haas seinen Brenner granteln lässt, so kann nur ein Wiener übers ewige Leben granteln.

Doch einen gab’s, der konnte das auch, vom ewigen Leben erzählen wie kaum ein Zweiter, einen Galiläer. Und was Haas alias Brenner kann, das konnten Jesus und sein getreuer Historiograph Lukas schon lange, die Frage nach dem ewigen Leben in einer handfesten Kriminalgeschichte verpacken.

 

I

Ja, der 13. Sonntag nach Trinitatis hat es in sich. Mit dem Evangelium präsentiert er uns schon am Sonntagmorgen einen »Tatort«, der doch eigentlich erst am Sonntagabend seinen Sendeplatz hat: Beim »barmherzigen Samariter«, liegt ein Fall von Raub mit schwerer Körperverletzung vor. Da geht es um Tod oder Leben. Aber nicht nur darum, sondern um viel mehr, nämlich um’s ewige Leben.

Das wurde und wird oft übersehen. Immer wieder in der Auslegungsgeschichte hat man den barmherzigen Samariter allein zum Exempel der Nächstenliebe, zum Inbegriff von Ethik und Moral schlechthin erklärt. Und das ist ja auch nicht falsch. Aber ist das schon alles, was es über ihn zu sagen gibt?

In einem bemerkenswerten Interview in der »Zeit« der vergangenen Woche hat der islamische Gelehrte Navid Kermani die Reduktion der Religion auf Ethik und Moral beklagt. Und vor allem dem gegenwärtigen Protestantismus hat er dabei den Spiegel vorgehalten. Er schrieb: »Religion soll heute zu allem eine richtige Meinung vertreten − sei es zu Flüchtlingen, sei es zur Lohnentwicklung. Aber darauf, dass man Flüchtlingen hilft und Löhne gerecht sein sollen, kann man schon selber kommen, dazu braucht man keine Religion. Ich brauche Religion, um Gott zu erfahren, den ich nicht unbedingt verstehe…«. Ja, darum geht es, um die Frage, wie und wo Gott erfahrbar wird, und zwar der Gott, den − wie es in der Epistel hieß − »niemand jemals gesehen hat«.

Für Lukas war die Erzählung vom barmherzigen Samariter daher mehr als lediglich ein moralischer Appell an abgestumpfte Menschenherzen, wie sie in diesen Tagen in Sachsen und anderswo bierselig, dumpf, enthemmt und ohne jedes Gefühl für Anstand und Moral ihr Unwesen vor Asylantenheimen treiben. Sie war die Antwort auf zwei Fragen.

 

II

Erste Frage: Ein gesetzeskundiger Schriftgelehrter stellte Jesus auf die Probe und sprach: »Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?« Wollte er Jesus mit dieser Frage reinlegen, bloßstellen? Wollte er ihm deutlich machen: »Jeschua, weißt du etwa mehr über Gott, Himmel und ewiges Leben als wir? Was kann denn der irdische, sterbliche Mensch überhaupt über die ewigen, göttlichen Dinge wissen? Bleibt uns, den Kindern des Diesseits, das Jenseits nicht ein Buch mit sieben Siegeln? Hast du etwa, Jeschua, in der Schreibstube des Ewigen gesessen und kennst seine Geheimnisse?«

Aus welchem Grund der Schriftgelehrte auch immer Jesus auf die Probe stellte, eines spricht für ihn, dass er die Frage nach dem ewigen Leben überhaupt gestellt hat; dass er nicht im irdischen Leben mit seinem Klein-Klein, seiner Mühe und Plage, seinen Lieblosigkeiten, seinem beschränkten Horizont der Vergänglichkeit hängen blieb.

Ja, es gab ihn einmal, den Menschen, der über sich und seine kleine, enge Welt hinaus fragte und dachte, der sich nicht allein in der ihm zugemessenen Zeit häuslich und moderat einrichteten, sondern nach der unermesslichen Weite der Ewigkeit Gottes Ausschau hielt. Und − wie wir in den Evangelien erfahren − fragte ja nicht nur der Schriftgelehrte so, sondern auch der reiche Jüngling: »Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?«

Diesem Gelehrten und diesem Reichen ging es um mehr als um Wissen und Geld. Sie entsprechen so gar nicht den Zerrbildern, die wir uns gerne von ihnen machen. Sie fragten nach dem, was sich nicht erforschen und auch nicht kaufen lässt, nach dem ewigen Leben.

 

III

Jesus aber antwortete nicht, er stellte eine Gegenfrage: »Was steht im Gesetz (in den fünf Büchern Mose) geschrieben? Was liest du?« Du bist doch schriftkundig und kannst dir doch selbst eine Antwort auf deine Frage nach dem ewigen Leben geben. Woraufhin der Gesetzeskundige mit dem Doppelgebot der Liebe antwortet: »Du sollst den Herrn deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.« So steht’s bei Mose geschrieben, in der Thora. Die Gottesliebe und die Nächstenliebe, sind sie das Tor zum ewigen Leben?

Jesus lobt die Antwort des Schriftgelehrten und antwortet daraufhin: »Tu das, so wirst du leben.« Das ewige Leben erwacht in den Taten der Liebe, der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Und weil das so ist, beginnt es nicht erst im Jenseits, sondern bereits im Diesseits. Die Taten der Liebe sind Spuren in die Ewigkeit. In ihr und durch sie bricht das ewige Leben in unsre Zeit und Vergänglichkeit ein.

Wir aber leben in der Zeit. Und die Zeit wird geplagt und geschüttelt vom Fieber der Lieblosigkeiten. Warum ist das so?

 

IV

Vielleicht gibt uns die zweite Frage des Schriftkundigen, die er Jesus stellt, darauf eine Antwort: »Wer ist denn mein Nächster?« Diese Frage überrascht. Er fragt nicht, wie der moderne Mensch, also wie wir wohl fragen würden: »Wer oder was ist denn mein Gott?« Er fragt: »Wer ist mein Nächster?« Nicht die Gottesliebe ist ihm ein Problem, sondern die Nächstenliebe. Nicht Gott wurde ihm zur Frage, sondern der Mensch. Der jenseitige, ewige Gott scheint ihm ganz selbstverständlich, nahe und vertraut zu sein, der diesseitige, vergängliche Mensch dagegen unendlich fern und rätselhaft.

Ja, das gibt es, Irrpfade der Frömmigkeit. Aus lauter Enttäuschung über den unvollkommenen, fehlbaren, vergänglichen Menschen − die Bibel würde sagen über den Sünder − versenkt sich der Fromme ganz und gar in den vollkommenen, unfehlbaren und ewigen Gott. Aus lauter Enttäuschung über die fragwürdige, unfriedliche, diesseitige Welt träumt er sich weg in den friedlichen, jenseitigen Himmel. Neben der Gottesliebe zeigt die Weltverachtung ihre hässliche Fratze.

In dieser ausschließlichen Konzentration auf Gott lauert eine große Gefährdung. Denn ehe er sich’s versieht, der Fromme, der allein in Gott seinen letzten Halt sucht, stürzt er ab in die Haltlosigkeit. Da ist plötzlich dem, dem Gott alles bedeutet, der Mensch ein Nichts. Da bekommt die Religion einen Januskopf, der uns mit zwei Gesichtern anschaut, dem Gesicht des Bösen und des Guten. Der Abgrund von Religion und Gewalt bricht auf, der uns sprachlos macht und Navid Kermani fragen lässt: »Wie kann es sein, dass sich Selbstmordattentäter umbringen für einen Glauben? Wie kann es sein, dass umgekehrt Menschen sich aufopfern für andere, dass sie sich trotz der drohenden Hinrichtung weigern zu konvertieren…?«

Ja, liebe Schwestern und Brüder, wer behauptet, das alles habe doch mit Religion und Glaube nichts zu tun, der weiß nichts von den Urgewalten der Religionen, die in ihrer Geschichte bis zum heutigen Tag immer wieder Mörder und Märtyrer zeugen.

Wie kommt es zu diesem dunklen Schatten, der die Religionen begleitet? Er hat seine Wurzeln im Menschen; in dem Menschen, der wie der Schriftkundige nach dem Nächsten fragt, aber nicht um des Nächsten willen, sondern − wie Lukas berichtet − »um sich selbst zu rechtfertigen«. In der Frage nach dem Nächsten kommt dieser Fromme von sich selbst nicht los. Er bleibt in seinem übermächtigen Ich gefangen, in seinen Selbstrechtfertigungen, Zwängen und Fesseln. Er kennt sie nicht, diese wunderbare Freiheit Jesu. Die Freiheit, die ganz aus der Liebe, der Hingabe an das große, ewige Du lebt, der Hingabe an Gott und den Nächsten.

 

V

Deshalb erzählt Jesus die Geschichte vom barmherzigen Samariter als eine Geschichte der großen Freiheit von sich selbst.

Als der barmherzige Samariter den unter die Räuber gefallenen sah, da »jammerte er ihn«. Alles begann mit dieser tiefen menschlichen Regung des Jammers über den, der da halbtot am Straßenrand lag. Dieser Jammer, diese Fähigkeit des Mitleidens mit dem Opfer der Räuber, hat den Samariter frei werden lassen von sich selbst. Und allein darin unterscheidet er sich vom Priester und Leviten, die an dem Nackten, Geschlagenen vorüber gingen.

Jesus erzählt uns nicht, warum sie sich seiner nicht annahmen. Gingen sie vorüber, weil sie fürchteten, selbst Opfer der Räuber zu werden? Hielten sie den Niedergeschlagenen für tot und wollten daher nicht gegen das Gesetz des Mose verstoßen, dass sich ein Priester an einem Toten nicht verunreinigen darf? Wir wissen es nicht. Was auch immer ihre Gründe waren, sie kamen nicht los von sich selbst, waren gefangen im Kerker des Ich. Und diese Gefangenschaft in sich selbst hielt sie davon ab, das zu tun, was sich menschlich doch eigentlich von selbst versteht.

Der Samariter hingegen kam gar nicht dazu, an sich selbst zu denken. Die Not des Ausgeraubten, der Jammer über sein Geschick machte ihn frei von allen Zwängen und Ängsten, in die ja auch er mit seinem vergänglichen Leben eingebunden war. Alles das zählte in diesem Augenblick nicht mehr. Da zählt nur noch der, der unter die Räuber fiel. Wunden verbinden, eine Herberge für den Kranken suchen, dafür zahlen und sorgen, dass er gesund gepflegt wird.

So sieht gelebte Freiheit aus. Das ist die wunderbare Freiheit der Kinder Gottes, die Freiheit von sich selbst. In ihr und aus ihr heraus erfüllt der Mensch das Doppelgebot der Liebe. Nicht aus Zwang, nicht als moralischen Appell, nicht aus Angst vor Strafe, sondern als eine Tat, die aus dem Jammer, dem Erbarmen und der Hingabe geboren wird. Nur die Liebe erlöst mich aus den Fesseln des Ichs und bringt mich auf den Weg des ewigen Lebens, das einmal frei sein wird, von allem Zwang, aller Angst, allen Tränen und Wunden der Lieblosigkeit.

 

VI

Liebe Schwestern und Brüder, so lese ich die Erzählung vom barmherzigen Samariter. Ich lese sie in aufgeregten Tagen, in denen krakeelende, gewaltbereite, vom Hass getriebene, Mitbürger vor die Herbergen von Flüchtlingen ziehen und diese bedrohen. Und ich frage mich, wann und wodurch ihnen die schlichte, menschliche Fähigkeit des Jammers und des Erbarmens mit den unter die Räuber gefallenen Flüchtlingen verloren ging. Frage mich, warum sie aus dem Kerker ihres Hasses, aus ihrem hässlichen Ich nicht herausfinden; frage mich, was sie befreien könnte von sich selbst und ihrer Unbarmherzigkeit.

Hat man ihnen jemals die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt, die eine Geschichte vom ewigen Leben ist? Eine Geschichte der Befreiung von sich selbst, aus den Zwängen, den Ängsten, den Lieblosigkeiten? Ich weiß es nicht. Und man mag mich für naiv halten, wenn ich die Hoffnung nicht aufgebe, dass sie dem einen oder anderen das Herz aufschließen könnte.

Aber es ist ja nicht an mir, nicht an uns, dies zu bewirken. Es ist ja Jesus, der Christus selbst, der uns durch seine Geschichten das Herz aufschließt und uns befreit aus unserer Selbstbezogenheit. Es ist Christus, der Herr des ewigen Lebens, der uns befreit aus der Angst vor dem ewigen Tod.

Der Dichterpfarrer Albrecht Goes hat diese Hoffnung dem Menschen, Opfern und Tätern, auf das Grab geschrieben:

 

Grabschrift

»Mein bist du«,

Spricht der Tod

Und will groß Meister sein.

Umsonst −

Mir hat mein Herr

Versprochen: Du bist mein.

 

Und der Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Sinnen und Herzen in Christus Jesus.                                     Amen

 

 



Prof. Dr. Rüdiger Lux
Leipzig
E-Mail: lux@server1.uni-leipzig.de

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