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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

14. Sonntag nach Trinitatis, 06.09.2015

Neun Antworten - auf eine Frage
Predigt zu Lukas 17:11-19, verfasst von Dörte Gebhard

Gnade sei mit euch, von dem, der da ist, der da war und der da kommt.

Amen.

 

Liebe Gemeinde

Der Predigttext mag noch so gut vertraut sein, immer noch fehlen mindestens neun Antworten - auf eine einzelne, einfache Frage Jesu.

Hören Sie aus dem Lukasevangelium, aus dem 17. Kapitel, über:

Die zehn Aussätzigen

11 Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, dass er durch Samarien und Galiläa hin zog. 12 Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne 13 und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! 14 Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein.

 

15 Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme 16 und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. 17 Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? 18 Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? 19 Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.

 

 

Liebe Gemeinde

Kennen wir die zehn Aussätzigen?

Eigentlich nur einen von ihnen ein bisschen: den Samaraiter, der umgekehrt ist zu Jesus.

Es fehlen immer noch neun Antworten auf die eine einzelne, einfache Frage Jesu.

Wir haben bisher nur eine Antwort - Dankbarkeit mit Gotteslob.

Einer, genau der Ausländer, hat gesehen, dass er gesund wurde und ist umgekehrt und hat Gott gedankt. Jesus fragt nach:

Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?

So müssen wir in der Predigt also mindestens neun Antworten suchen.

 

Die erste?

  1. Einer war sicher dabei, der ist wirklich einfach davongesprungen, hat es total vergessen, sich auch nur noch einmal umzuschauen. War glücklich und froh, hatte ein leichtes Herz und ein lichtes Gemüt und drückte seinen Dank im Davonspringen aus. Genau das hatte er jahrelang nicht gekonnt: davonspringen! Fast ist ihm zumute, als könne er fliegen!

Ein Luftikus? Na klar! Aber haben wir einen Grund, ihn zu verurteilen?

Wer unter uns noch nie etwas wirklich Wichtiges vergessen hat, der darf über ihn schimpfen! Wer immer und überall und für alles gedankt hat, was ihm Gutes widerfuhr, die kann sich aufregen.

Christus werden wir anderen unterdessen bitten, gnädig mit allen Luftikussen zu sein. Wir brauchen sie doch so nötig: Menschen, die leichten Fusses in die Zukunft springen, sich nicht alles ewig zu Herzen nehmen, nicht der verlorenen Lebenszeit nachtrauern, sondern munter und froh und schon wieder drauflos unterwegs sind, wenn es gut kommt.

Die erste Antwort also: überwältigendes Glück!

Die zweite?

  1. Einer war sicher dabei, der war ganz anders. Der hat es nicht geglaubt, dem neuen Zustand nicht recht getraut. Er konnte die glatte Haut, die heilen Gelenke, die beweglichen Finger zwar sehen, aber nicht begreifen, nicht fassen. Nach Jahrzehnten der Krankheit hatte er die Hoffnung verloren, ist er misstrauisch gegen alle Versprechungen, gegen alle Perspektiven, die ihm gezeigt werden.

Ein misstrauischer, unglücklicher Mensch. Das ist wahr. Aber haben wir einen Grund, ihn zu verurteilen?

Wer unter uns noch nie bis auf den Grund des Gemütes misstrauisch war, der kann sich jetzt über Undankbarkeit beschweren. Wer immer und überall Vertrauen hat, wird bald einmal schwer enttäuscht werden. Wer wollte es einem damals unheilbar Kranken verdenken, dass er keine Kraft mehr hatte?

Christus werden wir inständig bitten, gnädig mit allen Enttäuschten und Verbitterten zu sein, die nicht einmal ein Wunder aus dem Abgrund des Misstrauens zu reissen vermag.

Wir alle kennen eine oder einen,

der sich verschlossen hat,

der nicht mehr aus sich herauskommt,

die auch nicht mehr von sich aus um Hilfe bitten wird, nie mehr,

eine, die nichts mehr empfindet, weder Schönes noch Schweres.

Die zweite Antwort: tiefes Misstrauen.

Die dritte?

  1. Einer war sicher dabei, der war ganz anders als die beiden. Der wollte - bald darauf - danken, ist dann umgekehrt und hat Jesus gesucht und gesucht und nicht mehr dort gefunden, weil der Christus längst weitergezogen war. Es war einer unter den Aussätzigen, der tat alles mit Bedacht, war nicht schlagfertig und gewitzt, sondern dachte immer zuerst lange nach, schlief eine Nacht darüber - und hatte nun, in der Abgeschiedenheit der Krankheit, fern von allen anderen, fern von allem Dorfleben, viel und lange herumstudiert.

Er wusste auch, dass eine Krankheit eigentlich schnell kommt und nur ganz langsam wieder vergeht. Der spürte, dass nicht nur die äussere Haut abheilen muss, sondern auch die Seelenhaut heilen muss von all den Demütigungen und Verspottungen, von all dem Gekreisch und der Panik, die ein Aussätziger von Gesunden zu ertragen hat, die ihn auch nur von weitem sehen.

Es gibt keinen Grund, diesen Bedächtigen, die Besonnenen überhaupt zu verurteilen, oder?

Christus werden wir nachdrücklich bitten, uns die nachdenklichen Menschen zu erhalten, die oft zu spät zu kommen scheinen, aber dann doch genau im richtigen Moment da sind: wenn wir sie brauchen, um zurückzuschauen, um zu verstehen, was war, wie alles wurde, was nun ist.

Die dritte Antwort: grosse Besonnenheit.

Die vierte?

  1. Einer war sicher dabei, der war ganz anders als die anderen drei. Vielleicht war er der Älteste unter ihnen, jedenfalls lebte er schon Jahrzehnte mit dem Aussatz. Er konnte sich wohl nicht mehr daran erinnern, einmal je gesund gewesen zu sein. Ausgeschlossen aus der menschlichen Gemeinschaft war er den sozialen Tod gestorben, hatte es ihm die Sprache verschlagen. Nicht nur vorübergehend, wie sich jetzt zeigte. Er war nicht derjenige gewesen, der mit lauter Stimme gerufen hatte: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!

Wir haben - beileibe - keinen Grund, die Sprachlosen zu verurteilen!

Wer von uns weiss, wie er auf einen schweren Schlag reagieren wird? Wer ahnt auch nur, wohin Einsamkeit führen kann?

Christus müssen wir doch selbst um Worte bitten, dass es uns selbst nicht die Sprache verschlägt, wenn wir das Leid der Welt anschauen müssen, wenn wir uns ohnmächtig fühlen, auch nur irgendetwas zu ändern.

Die vierte Antwort: begründete Sprachlosigkeit.

Die fünfte?

  1. Einer war sicher dabei, der war ganz anders als die andern vier. Der ist sofort aufgebrochen, kannte sein Motto: „Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens!“ Tatkräftig machte er sich ans Werk. Hundert-, tausendfältig wollte er zurückzahlen, was er Gutes empfangen hatte! Dann würde er einen neuen Leuchter stiften, aus glänzendem Messing, dann würde er einen neuen, viel tieferen Brunnen im Dorf graben lassen, mit sauberem Wasser, der auch in der Hitze nicht versiegte, dann würde er ... was hatte er sich nicht alles ausgemalt und geträumt in den Wochen und Monaten und Jahren seiner Krankheit. Was gäbe er nicht alles, wenn er nur wieder gesund würde!

Als das Unerwartete geschah, hat er sogleich eine Firma gegründet, sich abgemüht von morgens früh bis abends spät. Aber er kam auf keinen grünen Zweig. Zu lange war er „weg“ gewesen, niemand kannte ihn mehr so richtig, kaum einer unterstützte ihn. „War das nicht einer von den Aussätzigen?“, so fragten alle. Und er blieb ein Aussätziger ...

Er scheiterte mit seinen grandiosen Plänen und schämte sich abgrundtief. Wer sollte ihn verurteilen? Ihn, der niemals mehr wagen würde, diesem Christus unter die Augen zu kommen?

Christus werden wir regelmässig bitten für alle, die mit ihren grossen Plänen untergehen, denen das Gutgemeinte nicht gelingt, die sich vergebens mühen.

Die fünfte Antwort: empfundene Scham im Scheitern.

Die sechste?

  1. Einer war sicher dabei, der war ganz anders als die anderen fünf. Der hat immer gemacht, was sich gehörte, was Brauch war seit alter Zeit. Traditionen waren ihm wichtig, das Altehrwürdige liebte er insgesamt. Er war fest überzeugt, dass die Vorfahren sinnvolle Regeln erdacht hatten.

Selbstverständlich hat er sich den Priestern gezeigt, wie es von Jesus auch geboten worden war. Selbstverständlich hat er gedankt: im Tempel, mit Brandopfern, sogar mehr als geboten war. Selbstverständlich war er von Herzen dankbar, alle um ihn her konnten es spüren. So oft wie er war keiner im Tempel anzutreffen!

Werden wir einen verurteilen, der das Alte in Ehren hält? Das sei ferne!

Christus werden wir mit den alten Worten der Schrift bitten, dass er uns lehrt, alles zu lehren und zu bewahren, was er uns geboten hat, Kinder zu taufen, Abendmahl zu seinem Gedächtnis zu feiern.

Die sechste Antwort: ehrliche Hochachtung vor der Tradition.

Die siebte?

  1. Einer war sicher dabei, der war ganz anders als die ersten Sechs.

Den hatten sogar die Aussätzigen untereinander immer schon den Spinner genannt. Er meditierte - und dann bekam er gar nichts mehr mit. Die Fliegen sassen schon in seinen Augen, es schien ihn nicht zu stören, die Sonne konnte mittags senkrecht auf ihn herunterstechen, er blieb vor der Hütte sitzen, wo er seit gestern oder vorgestern sass. Ob er schlief oder wach war, wer konnte das wissen? Ein Mystiker!

Nun hatte er sich wieder versenkt und Gott im innersten Herzen gedankt. Inniger als alle anderen, fand er.

Wer von uns könnte einen solchen Menschen verurteilen? Was wissen wir über das Innenleben der anderen? Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an (1. Sam 16, 7b).

Christus bitten wir von ganzem Herzen, die Herzen anzuschauen, alles, was uns verborgen bleibt - und alles Gute und Herzliche zu bewahren, zu segnen und zu mehren.

Die siebte Antwort: innere Versenkung.

Die achte?

  1. Einer war sicher dabei, der war ganz anders als die Sieben.

Der dachte nicht eine Sekunde daran, noch einmal umzukehren. Er musste los! Was denn sonst? Die anderen informieren, sagen wir besser: alarmieren, dass dieser Jesus heilen kann. Sie waren nicht die einzigen Aussätzigen auf der Welt, er musste es allen weitersagen, er konnte jetzt nicht Zeit verschwenden mit Innehalten! Mit Feuereifer stürzte er sich in seine Mission.

Ein scharfes Urteil über ihn ist alles andere als angebracht! Ohne solche Hans-Dampf-in-allen-Gassen-Typen gäbe es keine Diakonie, würde niemand für die Sprachlosen schreien, wäre keiner da, der sich einsetzt für die Leidenden. „Weggucker“ gibt es immer genug, „Hinrenner“ sind immer zu wenige ...

Christus werden wir tatsächlich bitten, uns solche Menschen zur Seite zu stellen. Die aktiv werden, die gute Nachrichten schnell verbreiten, die schon unterwegs sind, ehe wir uns versehen.

Die achte Antwort: aktive Nächstenliebe.

Die neunte?

  1. Einer war sicher dabei, der war überhaupt nicht anders als die anderen! Der hat geschaut, was die Mehrheit macht. „Wenn die meisten anderen auch alle nicht umkehren, dann mach ich das auch nicht“, hat er sich überlegt. „Ich richte mich ganz nach den anderen. Bloss nicht auffallen, bloss nichts Besonderes sein wollen!“

Wenn wir nun zuletzt diesen verurteilen wollten - und mit ihm viele - wer bliebe dann noch übrig? Nicht einmal wir selbst!

Christus werden wir um Gnade bitten für alle, die mitmachen, wenn alle mitmachen und nichts tun, wenn niemand was versucht. Er kennt die Trägheit unserer Herzen.

 

Nichts anderes bleibt uns am Schluss:

Christus und Gott in ihm um Barmherzigkeit zu bitten für alle 10 Aussätzigen, die neun Undankbaren und den einen Dankbaren,

für die hundert anderen, die jetzt noch fehlen, auch,

für alle, die auf ihre je eigene Weise hoffen und glauben,

für alle, damit die so Verschiedenen nicht aneinander leiden,

sondern miteinander leben - und lieben.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, Amen.

 

 



Pastorin PD Dörte Gebhard
CH-5742 Kölliken/Schweiz
E-Mail: doerte.gebhard@web.de

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