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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

14. Sonntag nach Trinitatis, 06.09.2015

Predigt zu Lukas 17:11-19, verfasst von Jochen Riepe

                                                                     I

Nicht wahr , liebe Gemeinde : Ohne die ‚Augen des Herzens‘ bleiben Gesetze, Ordnungen , Regeln kalt und starr . Aber auch die guten ‚Gedanken des Herzens‘ bleiben leer und ziellos, wenn sie nicht in Regeln und Verfahren umgesetzt werden. Gott sei gelobt : Es gibt Menschen , die bringen beides zueinander – soz. das Prophetische und das Priesterliche.

                                                                     II

Der berühmte Eurotunnel verbindet Frankreich mit England . 21 Millionen Menschen passierten ihn seit seiner Eröffnung - darunter auch so mancher von uns auf dem Weg zu unserer englischen Partnergemeinde. Der Eurotunnel verbindet , uns ! Für 3000 Flüchtlinge ist er ein schier unüberwindliches Hindernis. In einer Zeltstadt bei Calais warten sie auf die Gelegenheit , Zäune, Autobahnen, Kontrollen zu überwinden und nach England zu kommen. Marie Cherelle von ‚Ärzte für die Welt‘ arbeitet im ‚Dschungel von Calais ‘ und sie berichtet : ‚ Das sind Menschen, die in ihrer Heimat Folter und Gewalt erlebt haben. Wenn sie nach Calais kommen , sagen sie: Jetzt gehe ich auch den nächsten Schritt , so riskant er sein mag‘.* Neun oder mehr Menschen sind bei ihrem Versuch, England zu erreichen, umgekommen. Überfahren von LKWs oder abgestürzt von einem der Schnellzüge zwischen dem Kontinent und Folkstone.

                                                                    III

‚Und sie erhoben ihre Stimme und sprachen : Jesus, lieber Meister, erbarme dich!‘ Erbarme dich ! Wer kann in diesen Wochen und Monaten diesen Ruf hören , ohne zugleich die vielen zu hören , die Aufnahme in Europa verlangen – Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten, aus Ländern voller Armut und Not. Der Ruf , der Erbarmens-Schrei der biblischen Aussätzigen , ist mir seit Kindergottesdiensttagen im Ohr. ‚Aus-Satz‘ : Kranksein an Leib und Seele, ausgeschlossen sein vom Leben der anderen , ansteckend, gefürchtet, gemieden sein . Das Leiden aller ‚Unreinen‘ , Kranken, von Flüchtlingen und Vertriebenen ist soz. in diesem Wort biblisch kodiert. Kein Tag vergeht ohne neue Nachrichten über verzweifelte Versuche, in die Festung Europa zu kommen – über’s Mittelmeer , über einen Zaun in Ungarn oder eben Calais. Viele unserer Älteren erzählen von der Zeit , als Millionen vertriebener Landsleute in Westdeutschland vor der Tür standen und auf Aufnahme, ein Obdach , Arbeit und Zukunft hofften . Sieben sog. Vertriebenenstädte – von Trappenkamp im Norden , über Espelkamp und Stadtallendorf in der Mitte bis nach Neugablonz im Süden - sind lebendige Zeugen dessen.

                                                                       IV

‚und als er sie sah…‘ Wir wissen , liebe Gemeinde : das Sehen Jesu ist besonders im Lukasevangelium gleichsam ein prophetisch-schöpferisches , von Gottes Geist erfülltes ** Sehen. Er sieht mit Gottes Augen, betroffen , empört , eben voller Erbarmen : ‚Ja, euer Elend geht mich an. Es betrifft mich. Es erschüttert mich , wie diese Krankheit Leben zerstört‘. Er , der sich in seiner Vaterstadt vorstellt als einer ‚der den Armen die frohe Botschaft bringen will‘ (Lk 4,18) , der, in dessen Gegenwart ‚Lahme gehen und‘ – eben- ‚Aussätzige rein werden‘ (Lk 7,22) – er hat mit seiner Botschaft und seinem Handeln eine göttliche Spur in diese Welt gebracht , der auch wir nachfolgen wollen . Zugleich aber erleben wir - wie vielleicht Lukas selbst und die Christen seiner Generation - den schmerzlichen Unterschied oder Abstand : Jesu Sehen ist schöpferisches , schlechterdings heilsames , heilendes Sehen - und unser Wahrnehmen, Hinsehen , unsere Empörung , unsere Erschöpfung , unser Wille oder eben auch Unwille ? Wie kann man dem Mann aus Nazareth , dem Propheten Jesus treu bleiben , ohne dieses notorische Gefühl der Überforderung , des ratlos Seins ,ja : des geist-losen Überdrusses ? Wie kann man ihm treu sein – auch gegen alle die , die hetzen oder einfach gedankenlos mit schreien : ‚Bringt sie zurück dorthin , wo sie herkommen!‘

                                                                       V

Ordnungen , Regeln , wenn man so will : Unser ganzes westeuropäisches Lebensmuster oder Leitbild – ohne Erbarmen bleibt es blind und selbstbezogen. Geist-los. Aber die Umkehrung gilt auch : Ohne Regeln und Recht , ohne Organisation und Verfahren bleibt auch das Erbarmen letztlich leer oder sagen wir : nur sehr begrenzt wirksam. Jedes Problem hat einen Kontext und jedes Handeln bewirkt Folgen , die bedacht sein wollen. Gehen wir noch einmal zum Eurotunnel . Die Flüchtlings-Zeltstadt von Calais bringt auch die Bewohner von Calais in Bedrängnis. ‚Calais stirbt‘, sagen sie , ‚die Stadt wird jeden Tag weiter nach unten gezogen‘*** , Touristen bleiben aus , Firmen investieren nicht mehr . LKW –Fahrer weigern sich , Transporte nach England zu übernehmen . Mögen die Zentralen in London und Paris sich inzwischen bewegen , die Stadt fühlt sich mit dem Flüchtlingselend alleingelassen . Und : sie bleibt auf den Schulden sitzen , die man machen mußte , um z.B. diesen vier Meter hohen Zaun um den Hafen herum zu bauen. Die Stadt , Durchgangsstätte für die Rufenden , wird selber zum Hilferuf und viele deutsche Bürgermeister oder Verwaltungsleute können wohl einstimmen. Wer hilft uns , mit diesem Problem umzugehen ?

                                                                        VI

Auch das Erbarmen braucht seine Logik , seine Verfahren, seine Verwaltung und Finanzierung und diese Verschränkung von Herz und Vernunft ist im heutigen Evangelium gleichsam vorabgebildet. Jesus ‚sieht‘ und verweist zugleich unter Bezugnahme auf das mosaische Gesetz die Geheilten an den Priester: ‚geht hin und zeigt euch dem Priester‘. Der hat die Aufgabe , die Heilung festzustellen und anzuerkennen und damit die Wiedereingliederung des Kranken , seine ReHa soz., in Gang zu bringen. Nimmt seine Familie ihn wieder auf ? Wo gehört er hin ? Wo kann er versorgt werden ? Ich will diese Textstelle nicht überziehen, aber deutlich wird doch : Alle prophetische Hilfe und Aktion- denken wir an das umsichtige Schritt-für-Schritt-Handeln des berühmten ‚barmherzigen Samariters‘ --braucht Strukturen, die die kraftvolle Spontaneität des Erbarmens dauerhaft , wirksam und auch für andere akzeptabel machen. Das gilt für uns heute ökonomisch und logistisch : Wer gibt das Geld? Wer baut die Häuser? Das gilt für Sozialarbeit und medizinische Versorgung : Wer begleitet und betreut die Flüchtlinge? Wer bezieht die betroffene Bevölkerung im Stadtteil ein ? Das gilt besonders auch juristisch und politisch : Wie kann man den vielen beistehen und ihnen auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben, ja, trotz allem Zögern bei diesem Wort , ‚sozial verträglich‘ und rechtlich geordnet helfen ? Wenn man so sagen darf : Dies ist die priesterliche Aufgabe heute schlechthin. ‚Das wahre Problem Europas ist nicht Griechenland, es ist die Migration‘, sagt Emanuel Agius , 2.Bürgermeister von Calais****.

                                                                         VII

Ob wir diese Aufgabe annehmen ? Ob wir ihr prophetisch-priesterlich soz. in die Augen sehen - inspiriert vom geisterfüllten Sehen Jesu ? Am Ende des Evangeliums wird von einem der zehn Aussätzigen berichtet , der zurückkehrte und ‚mit lauter Stimme‘ Gott dankt für seine Heilung. Zur gelungenen Wiedereingliederung gehört hier eine Art doppelte Rückkehr . Der Kranke hatte soz. sein Verfahren , er wurde nach dem Gesetz priesterlich aufgenommen , und geht nun noch einmal zu dem, dessen ‚Sehen‘ er seine Heilung verdankt , zum Propheten Jesus von Nazareth. Ich nehme dieses Lob Gottes auf und möchte in es den Dank für alle einschließen, die Herz und Verstand, spontanes Erbarmen und überlegte Verfahren , die soz. den Geist Jesu und die Gesetze unserer Gesellschaft zusammen halten. Auf der örtlichen Ebene , auch bei uns , geschieht viel. Bürger stehen den Flüchtlingen bei , begrüßen und begleiten sie. Sozialarbeiter und Heimleiter, Verwaltungen laufen auf Hochtouren …

                                                                       VIII

… wir danken und loben Gott und erbitten besonders seinen Geist für die Politiker und Juristen , die die bestehenden rechtlichen Gegebenheiten den heutigen Erfordernissen anpassen wollen . Der Ruf bleibt :

‚Und sie erhoben ihre Stimme und sprachen : Jesus ,lieber Meister, erbarme dich unser!‘

________________________________________

*Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 1./2.8.2015,S.6 (P. Munzinger ,Im Dschungel von Calais)

**Lukas 4,18.24;24,19

***SZ, ebd.   ****SZ, ebd.



Pfarrer Jochen Riepe
Dortmund
E-Mail: Jochen.Riepe@gmx.net

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