Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

15. Sonntag nach Trinitatis, 13.09.2015

Wir schaffen das!
Predigt zu Matthäus 6:25-34, verfasst von Gert-Axel Reuß

 

Liebe Gemeinde,

selten hat sich mir ein Bibeltext – einer von den ganz vertrauten, die mich begleiten, solange ich zurückdenken kann – so sehr mit den aktuellen Ereignissen verbunden, die uns wohl alle bewegen.

Sorget nicht! Seht die Vögel unter dem Himmel … Schaut die Lilien auf dem Feld an …“

Die Schwalben am Himmel, die blauen Kornblumen auf den Feldern, der rote Klatschmohn am Wegesrand – sie wecken in mir eine große Freude, am Leben zu sein, saubere Luft zu atmen, klares Wasser zu trinken und nachts in den Sternenhimmel zu schauen. Einfach so.

Aber irgendwie schieben sich immer wieder andere Bilder dazwischen. Ein türkischer Polizist hebt einen dreijährigen syrischen Jungen vom Strand auf, der ertrunken ist auf der Flucht seiner Familie nach Europa. Menschen, die unter Stacheldrahtzäunen hindurch kriechen, auf der Suche nach einem besseren Leben – ausgerechnet in Ungarn. Dem Land, das vor 26 Jahren den Zaun, der Europa in Ost und West trennte, als erstes durchtrennte.

Ich sehe aber auch Menschen, die die Flüchtlinge willkommen heißen. Die sie mit dem Nötigsten versorgen. Mit Wasser und Tee, etwas zu essen, mit Kleidung. Die ihnen einen Ort zum Ausschlafen geben; und wenn es eine Turnhalle ist.

Von maßgeblichen Politikerinnen und Politikern in unserem Land höre ich: „Wir schaffen das!“ Wann haben wir so etwas zuletzt erlebt? Ich bin sehr froh, dass wir den 25. Jahrestag der geschenkten Einheit Deutschlands auf diese Weise begehen.

 

Liebe Gemeinde,

in einer großen Wochenzeitung habe ich auf Seite Zwei ganz unten links eine kleine Grafik entdeckt: „Torten der Wahrheit“. Da werden die Menschen in unserem Land eingeteilt in „besorgte Bürger“ (etwa 25 %) und „anständige Bürger“.

Man könnte meinen: Das Reich Gottes ist ziemlich nahe, so bei 75 %. Irgendwie stimmt das auch – so denke ich – wenn ich an die schon erwähnte Welle der Hilfsbereitschaft denke, die wir gerade erleben.

Aber kann man die Bürger in unserem Land wirklich so einteilen? Was ist mit den Ängsten angesichts der Veränderungen, die auf uns zukommen? Die Flüchtlinge sind ja nur ein Anzeichen; mit ihnen rücken uns auch die Konflikte näher, die Kriege, über die wir lange einfach hinweggesehen haben, vor denen sie fliehen.

Ich möchte keine schwarzen Bilder malen. Aber sind wir nicht auch selbst „besorgt“, auf Absicherung gepolt? Versuchen wir nicht auch, unser Leben in den Griff zu bekommen, und werden erst dann frei für die Not des Nächsten, wenn es uns einigermaßen gut geht? Glücklicherweise treffen uns nur selten Schläge des Schicksals – aber könnte es sein, dass wir uns nur in falschen Sicherheiten wiegen?

In mir wohnt der Verdacht, Anständigkeit alleine könnte nicht so ganz ausreichen.

Ja, ich brauche die Predigt Jesu! Ich brauche jemanden, der mit dem Finger in den Himmel zeigt und zu mir sagt: „Schau doch, die Wildgänse. Wie sie im Schwarm sich hierhin und dahin wenden, ohne aneinander zu stoßen.“ Ich brauche eine, die mir zeigt und sagt: „Das Leben ist schön!“ Ich brauche die, die mich ansprechen und einladen: „Kannst Du uns helfen?“

Ich gehöre zu denen, die Anstöße brauchen, die gelockt und ermutigt werden wollen: „Wir schaffen das!“ Was für ein deutliches Signal. Welch ein befreiendes „Wir“!

 

Liebe Gemeinde,

was könnte die Rolle der Kirche sein angesichts der Not der Flüchtlinge? Was könnte ihre Aufgabe sein?

Schnell wird man nach der Diakonie rufen: „Geht mit gutem Beispiel voran; schafft Platz für die Flüchtlinge!“ In Hamburg haben sie eine Kirche geöffnet vor zwei Jahren. Als Nothilfe, als Zwischenlösung, als Überbrückung (Hamburg-St. Pauli, Lampedusa-Flüchtlinge).

Ich will diese gute Tat nicht schmälern. In Einzelfällen mag solch ein Einsatz geboten sein. Aber ich sehe die eigentliche Aufgabe der Kirche an einer anderen Stelle, nämlich in der Stärkung des „Wir“: „Wir schaffen das. Zusammen sind wir stark!“

Ich denke, die Predigt Jesu zielt nicht auf die gute Tat. Sondern die gute Tat folgt wie von selbst aus einer inneren Haltung, in die Jesus uns ruft: „Sorget nicht! Seht die Vögel unter dem Himmel … Schaut die Lilien auf dem Feld an …“

Ich verstehe die Aufforderung „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“ also nicht im Sinne sozialer Aktivitäten. Die brauchen wir auch. Ganz dringend. Menschen, die zupacken. Die ihre Hilfe anbieten. Zur Überwindung von Sprachschwierigkeiten, zur Unterstützung beim Einkaufen, für Behördengänge und Arztbesuche.

Jesus lehrt uns zu allererst Beten: „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe.“ Dann wird euch alles zufallen! Wenn das Vater Unser nicht formelhaft sondern immer wieder neu gebetet wird, dann können wir gar nicht untätig bleiben. Uns in Private zurückziehen. Nothilfe und Nächstenliebe den anderen überlassen.

Natürlich geht das „Wir“ nicht ohne die vielen „Ichs“. Ich muss mich angesprochen, gerufen fühlen. Ich muss das Gefühl haben, dass ich gebraucht werde. Dass meine Hilfe willkommen ist. Aber das „Ich“ steht immer in der Gefahr der Überforderung. Und auch einer Verabsolutierung, die das, was geboten ist, nicht an denen orientiert, die Hilfe brauchen, sondern an dem, was ich geben kann und will.

Deshalb bin ich so froh über das „Wir“: „Wir schaffen das!“ Darin sehe ich die Aufgabe der Kirche, dieses „Wir“ erfahrbar zu machen und zu stärken.

Vater unser im Himmel“ – ich kann auch alleine so beten. Aber schon in der Anrede Gottes wird sichtbar, dass es nie um mich alleine geht. Auch, dass Gott die Tür in sein Reich nicht für mich alleine öffnet. Und dass das Tun seines Willens – Trachtet nach seiner Gerechtigkeit! – nicht die Sache Einzelner ist, sondern wohl von Einzelnen ausgehen kann, aber doch alle erfassen will.

 

Liebe Gemeinde,

das erste Buch, das Roger Schutz (der Gründer von Taizé, einer klösterlichen ökumenischen Gemeinschaft) vor etwa 50 Jahren veröffentlicht hat, trägt den programmatischen Titel „Im Heute Gottes leben“.

Ich verstehe die Predigtbilder Jesu genau so: „Die Vögel unter dem Himmel, die Kräuter am Wegesrand – sie leben im Heute, das Gott schenkt. Ihr könnt das auch!“

Natürlich könnte man einwenden: Gar so friedlich geht es in der Natur auch nicht zu. Nicht alle Vögel überleben den nächsten Winter, und es gibt nicht nur die schönen Blumen. Es wird also doch etwas mehr von uns verlangt, als uns an Tieren und Pflanzen ein Vorbild zu nehmen.

Wir werden die drängenden Probleme nicht ohne Planung und Vorsorge lösen können. Jesu Appell „Sorget nicht!“ redet ganz gewiss keiner Vogel-Strauß-Politik das Wort und ist auch kein Ruf in die Verantwortungslosigkeit. Es wäre ein grobes Missverständnis, Gottvertrauen mit Unvernunft gleichzusetzen.

Im „Heute Gottes zu leben“, das haben auch die Brüder von Taizé immer betont, bedeutet nicht, die Hände zu falten und sie ansonsten in den Schoß zu legen. Im Gegenteil: Beten und Tun des Gerechten (Bonhoeffer – in Taizé hörten wir: „Kampf und Kontemplation“) gehören untrennbar zusammen.

Im Kern geht es nicht um das eine (Beten) oder das andere (Tun des Gerechten) sondern um eine Lebenshaltung, die mit Gottes Gegenwart rechnet. Und das tue ich nur, wenn ich mich herausrufen lasse aus dem ewigen Kreisen um mich selbst. Wenn ich Gott für mich sorgen lasse, dann werde ich auch frei für die Aufgaben, vor die Gott mich stellt.

Am Anfang steht Freude. Freude über die Schönheiten dieser Welt. Freude über mein Leben. Das Gefühl, dass Gott mich liebt. Mich genau so geschaffen hat. Und begabt hat zu einem Leben in dieser Welt. Mich brauchen will, damit seine Liebe sichtbar wird.

Wenn ich in diesem Sinn die Gedanken frei habe für die, die um mich sind – ich habe gestern im Supermarkt in die Gesichter zweier Flüchtlinge gesehen, die Lebensmittel einkauften: einen Einkaufswagen voller Reis, Nudeln und Gemüse. Wie viel Erleichterung und Freude habe ich gesehen. – wenn ich auch die Hände frei habe, weil ich loslassen kann, dann kann ich tun, was nötig ist: Der Vater eines Konfirmanden zeigt Flüchtlingen, wie sie die gebrauchten Fahrräder reparieren können, die Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt gespendet haben.

Schließlich werde ich mich nach Verbündeten umschauen. Nach denen, die mich bestärken. Nach denen, die mit anpacken. Nach denen, mit denen Gott uns verbunden hat.

Wir schaffen das, wenn wir beten: Vater unser im Himmel, dein Reich komme, dein Wille geschehe. Wir schaffen das, wenn wir mit Gottes Gegenwart rechnen und uns durchdringen lassen vom Geist der Seligpreisungen. Wir schaffen das, wenn wir uns gegenseitig ermutigen und stärken. Dazu helfe uns Gott.

Amen.

 



Domprobst Gert-Axel Reuß
23909 Ratzeburg
E-Mail: gertaxel.reuss@ratzeburgerdom.de

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