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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

16. Sonntag nach Trinitatis, 20.09.2015

Predigt zu Lukas 7:11-17 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Marianne Frank Larsen

Elf Tage nach dem Tod ihres Mannes beginnt Marie Curie Tagebuch zu schreiben. Sie schreibt, um Klarheit darüber zu gewinnen, was in den bewegenden Tagen geschehen ist, als sie die Nachricht erhielt, dass Pierre Curie auf dem Wege von einer wissenschaftlichen Sitzung zu einer anderen überfahren wurde. Sie schreibt, wie er zurückkam, in einen Sarg gelegt wurde, wie er unter den Lindenbäumen auf einem Friedhof bei Paris beerdigt wurde, wie sie sah, dass das Grab zugedeckt wurde und fühlte, dass nun alles vorbei war. Aber sie schreibt auch, weil sie ihn nicht mehr als Gesprächspartner hat. Die Worte im Tagebuch sind an ihn gerichtet, denn als 38-jährige ist sie nun allein mit ihren beiden kleinen Töchtern und allein mit ihrem Lebenswerk: der Forschung über Radioaktivität. Die beiden waren tief verbunden nicht nur zuhause, sondern auch im Laboratorium, wo sie einander die engsten Mitarbeiter waren. Nach der Beerdigung beginnt Marie Curie wieder im Laboratorium zu arbeiten, aber es ist wie eine Wüste ohne Pierre. Mit fällt nichts mehr ein, was mir Freude bereiten kann, schreibt sie, abgesehen vielleicht von wissenschaftlicher Arbeit, und dennoch. Auch wenn mir etwas gelingen sollte, ist es für mich nicht zu ertragen, dass du es nicht wissen sollst. Nachts träumt sie von ihm; in den Träumen ist er lebendig, und deshalb tut es weh zu erwachen. Tagsüber sehnt sie sich nach ihm, so dass sie nirgend anderes sein kann als allein im Laboratorium und auf dem Friedhof, wo er liegt. Dort ist sie jeden Tag. Denn die Sache ist ja die, dass die Liebe stärker ist als der Tod. Sie stirbt nicht, auch wenn der Geliebte stirbt. Pierre Curie stirbt am 19. April 1906, aber die Liebe von Marie stirbt nicht. Sie lebt noch immer weiter in ihren Träumen, in ihrer heftigen Sehnsucht, in ihrer freudlosen Arbeit im Laboratorium, in ihren täglichen Besuchen auf dem Friedhof. Oder kurz gesagt, die Liebe lebt weiter in der Trauer. Deshalb weint die Mutter im heutigen Evangelium. Der Tod hat hart ihr zwar den Sohn genommen, aber nicht ihre Liebe. Sie ist stärker als der Tod, und sie lebt noch immer weiter in Leib und Seele und in ihrer verweinten Augen. Sowohl die Mutter als auch Marie und all die anderen, die jemanden verloren haben, die sie geliebt haben, wissen instinktiv, dass die Trauer anhält, solange die Liebe lebendig ist. Will man der Trauer entfliehen, muss man aufhören zu lieben, die Liebe hinter sich lassen, den geliebten vergessen, versuchen weiterzukommen. Das aber will kein Liebender. Und es ist ein Hohn, wenn wohlmeinende Menschen dazu auffordern. Den das wäre sowohl den verraten, den man geliebt hat, und das, was das Glück in eigenen Leben war. Dann lieber trauern.

Es sei denn also, dass es eine Liebe gibt, die nicht nur stärker ist als der Tod in der Weise, dass sie ihn überlebt, wie die Liebe Maries den Tod Pierres überlebt, und die Liebe der Mutter, die den Tod des Sohnes überlebt. Sondern eine Liebe, die stärker ist als der Tod in der Weise, dass sie ihn besiegen kann. Wenn es eine andere Liebe gibt, in der der Tote leben kann, dann ist es vielleicht eines Tages möglich, nicht mehr zu trauern, ohne die Liebe aufzugeben. Dann ist es vielleicht möglich, nicht mehr zu weinen und ein Auge zu haben für etwas, was einem Freude bereitet, auch wenn der Geliebte nicht mehr da ist. Wenn es eine solche Liebe gäbe.

Eine solche Liebe kommt zu Worte, als Jesus dem Leichenzug begegnet und ihn anhält im heutigen Evangelium. Sie gehen zum Grabe, aber er unterbricht sie und spricht – sowohl zu den Trauernden als auch zu dem Toten. Weine nicht, sagt er zu der Mutter, und wenn das einzige gewesen wäre, was er gesagt hat, wäre das ein Hohn auf ihre Trauer, auch wenn es gut gemeint war, eine Bagatellisierung ihres Verlustes, so gesehen eine Aufforderung, nicht mehr zu lieben. Aber nun begnügt sich Jesus nicht damit nur Weine nicht zu der Mutter zu sagen. Er überschreitet eine Grenze des Allgemeinmenschlichen, wendet sich an den Toten und sagt: Steh auf. Worte, die im Munde aller anderen ungeheuerlich wirken würden, denn so kann man nicht zu einem Toten reden. Aber Jesus sagt es dennoch, und seine Worte sind offenbar eine so lebensschaffende Liebe, dass der Tote beginnt zu atmen, seine Wangen röten sich, er steht auf und beginnt zu sprechen.

Kein Wunder, dass die Leute voller Furcht sind und Gott preisen, weil er sein Volk besucht hat. Sie meinen Jesus. In ihm ist Gott zu Besuch gekommen. Anders könne sie das nicht deuten, was sie gerade gesehen und gehört haben. Denn in seinen Worten begegnen sie gerade einer Liebe, die stärker ist als der Tod, nicht nur so, dass sie nach dem Tode lebt wie die Liebe von Marie und die Liebe der Mutter und unsere Liebe, sondern so, dass sie dem Tod Einhalt gebietet, den Tod überwindet und Leben schafft, wo kein Leben ist. Und diese Liebe – die kennen sie wohl, und das tun wir auch. Wir kennen sie aus unserem Alltag, wir halten Erntedankgottesdienst, um wieder den Blick dafür zu schärfen, dass es im Grunde diese Liebe ist und nicht wir selbst, die uns jeden einzigen Tag am Leben erhalten. Dass da nicht nur nichts ist; dass dort Stimmen und Farben sind und Leben, das beginnt und wächst, Atem und Herzschlag – das schulden wir nicht uns selbst. Liebe Menschen, mit denen wir leben. Und eine freigiebige Welt, von und in der wir leben. So reichlich Regen im Juni und Juli. Sonnenschein im August. Der blaue Himmel im September. Und alles was nun rote Farbe annimmt: Hagebutten, Vogelbeeren, Äpfel. Spinnwegen mit Tau und kühle Morgen. Kinder, die wachsen und mehr können, als wir glaubten. Unerwartete Zärtlichkeit und Nachsicht. Lachen, das uns überrascht. Dass wir jeden Morgen aufstehen können, solange es währt, und sehen und hören können, einander die Hand reichen und das ernten, was wir brauchen, um zu leben – das verdanken wir der lebensschaffenden Liebe, die nicht unsere ist sondern die von Gott kommt.

Diese Liebe Gottes kommt zu Besuch in Nain im heutigen Evangelium in der Gestalt dessen, der den Leichenzug anhält und die Wanderung zum Grabe unterbricht. Diese Liebe sagt: Steh auf, und schafft neues Leben, wo kein Leben ist, in dem toten Leib auf der Bahre. Und Jesus gab ihn seiner Mutter, erzählt Lukas, und das ist die ganze Pointe. Nicht allein der Tote bekommt sein Leben zurück, sondern die Mutter bekommt ihren Sohn wieder. Die Auferweckung handelt nicht nur vom Leben des einzelnen. Sondern vom Leben miteinander. Dass das Verhältnis, das der Tod unterbrochen hatte, zwischen zweien, die so eng verbunden waren, dass der eine nicht ohne den anderen leben konnte, wieder hergestellt wird. Und da muss die Mutter nicht mehr weinen. Da ist die Trauer in Freude verwandelt. Nicht weil sie ihren Sohn nicht liebt, sondern weil da eine andere L:iebe ist als ihre, die ihn lebendig gemacht hat, obwohl er tot war.

Mit der Auferweckung des Sohnes der Witwe greift Jesus dem vor, was mit ihm selbst Ostermorgen geschehen wird. Da ist es er selbst, der tot daliegt wie der Jüngling auf der Bahre, und sein eigener Vater besiegt den Tod und schafft neues Leben, wo kein Leben ist, in seinem Leib. Der Leib, der wohlgemerkt ist wie unserer und der ihn zu einem von uns macht. Dort ist die Verbindung zu unserem Leben und unserem Tod. Deshalb wird die Erzählung vom Sohn der Witwe auch eine Erzählung von uns und denen die wir lieben und verlieren; ein Bild für das, was wir hoffen und glauben.

Denn immer wenn wir einen Toden forttragen, werden wir angehalten, ganz wie damals an jenem tage zu Nain. Wir können ihn nicht sehen, der redet, aber wir können hören, dass er dasselbe zu unseren Toten sagt, was er zum Jüngling zu Nain sagte: Steh auf. Aus der Erde sollst wieder auferstehen. Was diese Worte bedeuten, darüber können wir nur in Bildern reden wie dem von dem Jüngling, der sich aufrichtete und zu reden begann, und der Mutter, die ihren Sohn wieder in die Arme nehmen darf. In den Worten, die Jesus spricht, immer wenn er uns anhält, finden wir eine Liebe, die so mächtig ist, dass sie den Tod besiegt. Und deshalb brauchen wir nicht aufhören zu lieben, um nicht mehr zu weinen, wenn wir die verlieren, die wir lieben. Wir dürfen den Blick dem zuwenden, was uns noch Freude bereitet, wohl wissend, dass in dieser mächtigen Liebe die Toten bei uns lebendig sind. Amen.



Pastorin Marianne Frank Larsen
DK-8000 Aarhus C
E-Mail: mfl(at)km.dk

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