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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Tag d. Erzengels Michaels und aller Engel/Michaelistag, 29.09.2015

Predigt zu Lukas 10:17-20, verfasst von Güntzel Schmidt

Liebe Schwestern und Brüder,

die 72 Jünger, die Jesus in die Städte und Dörfer der Umgegend ausgesandt hatte, kehren fröhlich zu ihm zurück. Ihre Mission war erfolgreich: Sie hatten an Türen geklopft und waren aufgenommen worden. Sie hatten die Nähe des Gottesreiches angekündigt und Gehör gefunden. Hatten Dämonen mit dem Namen Jesu bedroht und sie ausgetrieben. Mission accomplished, Auftrag erfüllt. Verständlich, dass sie fröhlich über ihren Erfolg sind, sogar stolz darauf.

Jesus gönnt ihnen ihren Erfolg, bekräftigt ihn sogar: "Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel fallen". Mit den Dämonen verlor auch ihr Herr seine Macht. Indem die Jünger das Nahen des Gottesreiches ankündigten, ist es tatsächlich gekommen und hat die Mächte des Bösen verdrängt. Die Jünger brauchen sich vor ihnen nicht mehr zu fürchten; sie können ihnen nichts mehr antun.

Nur eins schärft Jesus ihnen ein: Es ist nicht ihr Erfolg, über den sie sich freuen sollen, sondern die Tatsache, dass ihre Namen im Himmel aufgeschrieben sind. Dass ihnen also ein Platz im Reich Gottes sicher ist: sie stehen auf der Teilnehmerliste.

 

I

Die theologische Forschung hat sich mit der sog. "Naherwartung" Jesu und seiner Jünger intensiv beschäftigt. Sie, wie auch der Apostel Paulus, waren davon überzeugt, das Gottesreich noch zu Lebzeiten anbrechen zu sehen. Doch schon bei Paulus zeigt sich ein Problem, das die Forschung "Parusieverzögerung" nennt: das Reich Gottes will und will einfach nicht kommen. Inzwischen sind es fast 2000 Jahre, in denen nichts passiert ist. Kein Wunder, dass manche ungeduldig werden und immer wieder mal ein Datum berechnen, an dem es nun aber endlich wirklich und wahrhaftig kommt, das Gottesreich.

Das Reich Gottes teilt dieses Schicksal mit den Engeln, an die wir an diesem Sonntag denken: Von denen wird auch immer wieder behauptet, sie seien da. Aber wenn man dann nachfragt, kann niemand Genaueres sagen. Sie bleiben im Ungefähren - ungreifbar, und unbegreiflich.

Möglicherweise liegt das Problem mit den Engeln wie mit dem Reich Gottes gar nicht daran, dass sie so unbegreiflich und so wenig greifbar sind, sondern vielmehr an dem Begriff, den wir uns von ihnen machen. Es könnte nützlich sein, darauf zu achten, was Jesus eigentlich meint, wenn er vom "Reich Gottes" spricht. Ganz nebenbei erfahren wir vielleicht auch noch etwas über die Engel …

 

II

Als Jesus die 72 Jünger ausschickt, gibt er ihnen drei Aufträge:

  1. sollen sie um Aufnahme in ein Haus bitten und, wenn sie aufgenommen werden, Frieden wünschen;
  2. sollen sie die Kranken heilen und
  3. ihnen sagen, dass das Reich Gottes nahe gekommen sei.

 

Nun muss man wissen, dass zur Zeit Jesu manche Krankheiten auf böse Geister, die Dämonen, zurückgeführt wurden. Vor allem seelische Erkrankungen, die wir heute als Psychose oder Schizophrenie bezeichnen, und auffälliges Verhalten, wie es z.B. eine Epilepsie hervorruft, wurden dem Wirken von Dämonen zugeschrieben. Einerseits sicherlich der Versuch, etwas zu erklären, was man nicht verstand. Woher eine Wunde, ein Knochenbruch rührte, war klar. Aber warum und woher wird eine Seele krank? Man weiß es im Grunde heute immer noch nicht genau. Man beobachtet, dass es passiert, aber warum und woher, darüber herrscht große Unklarheit. Trotzdem würde heute niemand mehr auf die Idee kommen, Dämonen für seelische Erkrankungen verantwortlich zu machen.

Doch obwohl man zur Zeit Jesu noch an Dämonen glaubte, waren sie andererseits zugleich ein Begriff für etwas, das auch wir Heutigen kennen: Auch wir sprechen manchmal von einem "Ungeist", wenn wir eine schlechte, schädliche Einstellung meinen. Wenn also zur Zeit Jesu von Dämonen die Rede war, ging es nicht nur um die Besessenheit durch einen bösen Geist, den man austreiben konnte und musste, sollte der Patient wieder gesund werden. Man meinte damit vor allem, dass dieser Mensch unter einem krank machenden Einfluss stand. Der Dämon verkörperte diesen krank machenden Einfluss; er stand für ein Übel, das man nicht anders namhaft machen konnte.

 

III

Wenn wir Dämonen einmal so verstehen: nicht leibhaftige Bösewichte, an die wir sowieso nicht glauben können, sondern schlechte, krank machende Einflüsse, dann könnten wir auch heute noch etliche Dämonen benennen. Sie zeigen sich gerade nicht mit teuflischer Fratze, sondern im Gewand des Fortschritts und des wirtschaftlichen Erfolges. Diese Dämonen heißen z.B. "Wachstum", "Mobilität", "Shareholder Value" oder "Ich-AG"; sie firmieren als "Leistungswille", "Flexibilität", "Zielorientiertheit" oder "Effektivität". Was sie allerdings mit den guten, alten Dämonen gemein haben: sie machen die Menschen krank, die von ihnen besessen sind. In unserer heutigen Wirtschaftswelt nimmt die Zahl der psychischen Erkrankungen stark zu. Depressionen und Burnout sind keine Seltenheit bei Arbeitnehmern wie Vorgesetzten, die der Belastung durch immer neue und immer höhere Anforderungen bei der Arbeit nicht mehr gewachsen sind.

Wenn man dann aber fragt, welche Hoffnungen solche Menschen haben; was sie motiviert, sich trotzdem diesem Stress auszusetzen, erschrickt man darüber, wie klein ihre Hoffnungen inzwischen geworden sind. Es wird nicht mehr das Reich Gottes erwartet, nicht einmal mehr "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit"; auch nicht, dass sich eine politische Überzeugung, die Vernunft oder der Schutz der Umwelt durchsetzen. Erhofft wird nur noch das kleine, private Glück: Gesundheit, Familie, Haus und eine sichere Rente - und das bereits von Konfirmandinnen und Konfirmanden!

 

IV

Jesus verbindet die Heilung von Kranken mit der Ankündigung des Reiches Gottes; beides gehört bei ihm zusammen: Die Austreibung der krank machenden Dämonen zeigt, dass das Reich Gottes angebrochen ist. So sagt Jesus: "Wenn ich durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen" (Lukas 11,20).

Bleiben wir noch dabei, die Dämonen als schlechten, krank machenden Einfluss zu verstehen, dann bricht das Reich Gottes dort und in dem Fall an, wo Menschen von solchen schlechten, krank machenden Einflüssen befreit werden und unter den Einfluss Gottes geraten. Und wo Menschen unter den Einfluss Gottes geraten, da sind sie im Frieden.

 

Jetzt verstehen wir, warum Jesus seinen Jüngern gerade diese drei Aufträge gab, und dass die drei eigentlich ein Auftrag sind: Wo die Jünger aufgenommen werden, da treiben sie die Dämonen aus und kündigen das Reich Gottes an; so bringen sie den Frieden Gottes, der alle Vorstellungen weit übersteigt.

 

V

Die Geschichte von der Rückkehr der Jünger ist kein Märchen aus guter, alter Zeit. Lukas hat diese Geschichte für seine Gemeinde geschrieben und damit seine Zeitgenossen gemeint. Die 72, die Jesus aussendet, sind nicht seine damaligen Jünger - das waren 12 -, sondern es sind die, die zur Zeit des Lukas lebten; es sind die, die heute zu Jesus gehören. Wir alle sind es. Uns beauftragt Jesus, an die Türen zu klopfen und um Aufnahme zu bitten. Nicht, um vom lieben Gott zu erzählen oder vom nahen Ende der Welt. Sondern um die Dämonen auszutreiben, unter denen die Menschen heute leiden: die Dämonen eines Wirtschaftssystems, das alles und jeden unter seine Kontrolle bringen will. Bei dem alles und jeder Ware ist, die man besitzen, kaufen oder verkaufen kann, sogar das Trinkwasser, bald auch unsere Atemluft. Dem nichts heilig ist, weil es alles vereinnahmt und dem Diktat des Geldes und der Verwertbarkeit unterworfen hat. Wie Momos graue Herren hat es unsere Träume gestohlen. Wir haben keine Hoffnungen, keine Wünsche mehr für die Welt, sondern nur noch für uns. Und wenn Menschen, die noch Hoffnung haben, die auf ein besseres Leben hoffen, diese Hoffnung ergreifen und zu uns kommen, erleben wir sie als Bedrohung.

 

VI

Ich äußerte Eingangs die Vermutung, dass wir beim Nachdenken über das Reich Gottes vielleicht auch etwas über die Engel lernen. Sie ahnen jetzt sicher, wer diese Engel sind: Es sind jene, die sich von Jesus aussenden lassen, um Menschen den Frieden Gottes zu bringen, sie von ihren Dämonen zu heilen und ihnen die Nähe des Reiches Gottes anzukündigen.

Das gelingt nicht so leicht, wie es klingt. Wenn schon viele Jugendliche keine Hoffnungen und Träume für die Zukunft mehr haben, wie sollen sie dann Engel aufnehmen? Wie werden wir, die wir von der Notwendigkeit des Wachstums überzeugt sind, die wir uns freiwillig dem Zwang der Mobilität unterwerfen und an die Weisheit der Wirtschaft glauben, unsere Dämonen los?

 

Nur ein Engel kann uns zu träumen lehren. Nur ein Engel wird uns mit der Hoffnung auf eine Gerechtigkeit anstecken, für die alle Menschen den gleichen Wert haben; auf einen Frieden, der höher ist als alle Vernunft, und nicht nur die Feuerpause zwischen zwei Gefechten; auf eine Welt, die nicht wenigen Reichen gehört, sondern allen gemeinsam, und auf der auch Tiere und Pflanzen ihr Recht zu leben haben.

 

VII

Wir sind hier in der Kirche. Ein Raum in dieser Welt, und doch nicht ganz von dieser Welt. Wo, wenn nicht hier, in der Kirche, begreifen wir, was es heißt, dass das Reich Gottes nahe herbeigekommen ist? Nur eine dünne Wand trennt uns davon; wir leben in seiner ständigen Gegenwart. Wir leben als solche, die keine Angst vor den Dämonen haben müssen, weil sie in Gottes Reich keinen Platz haben, und weil wir bereits Bürgerinnen und Bürger dieses Reiches sind.

Darum lasst uns beginnen zu träumen von einer Welt des Friedens, der Gerechtigkeit und der Bewahrung von Gottes Schöpfung, und lasst uns diesen Traum zu den Menschen bringen und dadurch ihre Dämonen vertreiben.

Amen.



Pfarrer Güntzel Schmidt
Meiningen
E-Mail: guentzel.schmidt@gmx.de

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