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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Erntedankfest, 04.10.2015

Erbschaft des Glaubens
Predigt zu Lukas 12:13-21, verfasst von Christian Wolff

„Dumm ist, wer den Dank vergisst“. Diesen einprägsamen Satz sagte Klaus Engelhardt, ehemals Ratsvorsitzender der EKD, in seiner Predigt zum Tag der Deutschen Einheit 1997. Gefährlich dumm und absolut töricht verhalten sich die Menschen, die seit Monaten in Dresden und vielen anderen Städten die 1989/90 gewonnene Freiheit dazu missbrauchen, sie anderen, die sie bei uns suchen, vorzuenthalten – ohne daran zu denken, dass sie damals etwas erreichten, was nicht unser Besitz ist sondern ein Gabe, die es immer neu zu teilen gilt. Dumm ist also, wer vergisst, wem er sein Leben, die Gaben der Schöpfung, Freiheit, Demokratie und Wohlstand verdankt und für wen er Besitz und Reichtum und die Möglichkeiten, das Leben zu gestalten, einzusetzen hat. Diese Einsicht ergibt sich aus dem Evangelium für das Erntedankfest, das heute auch Grundlage der Predigt ist.

Da trat ein Mann aus dem Volk vor und sagte:

„Meister! Befiehl meinem Bruder,

das Erbe mit mir zu teilen.“

Er aber antwortete ihm: „Du da! Mensch!

Ich bin kein Richter

und von niemandem bestimmt,

euer Erbe zu teilen.“

Und zu den anderen hat Jesus gesagt,

den vielen Menschen rings um ihn her:

„Seht zu und achtet darauf,

dass ihr nicht der Habsucht verfallt,

der Gier nach Besitz,

denn was wir Leben nennen,

ist nicht Überfluss,

nicht Habe, Geld und Besitz.

Bedenkt: Ihr könnt reich sein wie kein anderer Mensch -

und doch seid ihr gestorben, im Herzen!“

Und wieder sprach er in Bildern

und erzählte ihnen eine Geschichte:

„Es war einmal ein Mann,

der hatte reiche Länder,

und die Erträge seiner Güter waren so hoch,

dass er für sich überlegte:

‘Was soll ich tun?

Die Speicher sind zu klein,

um die Ernte zu bergen.

Wie helfe ich mir?

Aber gewiss doch, dachte er, so soll es geschehen:

Ich reiße sie ab, die Speicher,

und baue an ihrer Stelle riesige Hallen.

Da will ich all mein Hab und Gut aufbewahren,

das Korn und die Früchte

und kann getrost zu mir sagen:

mein Freund, nun hast du alles, was du willst.

Die Ernte ist in der Scheuer,

du darfst vergnügt sein,

für viele Jahre.

Ruh dich aus und lass fünf gerade sein,

iss und trink und mach dir von nun an fröhliche Tage.’

Da aber hat Gott zu ihm gesagt:

‘Du närrischer Mensch!

In dieser Nacht noch wird dir die Seele abgefordert - dein Leben!

Und alles ist hin,

dem du nachgejagt bist:

wem soll es wohl nützen?’

So geht es jedem, der für sich Schätze anhäuft

und darüber vergisst

- so reich, so arm und so närrisch! -,

dass er vor Gott ein Bettler ist.“

(Lukas 12,13-21 - nach der Übersetzung von Walter Jens)

 

Zunächst berichtet der Evangelist Lukas über einen Streit. Und worüber streiten Menschen am ausgiebigsten und beschäftigen damit jahrelang die Gerichte? Über die Erbschaft, auch über das historische Erbe. Anstatt froh darüber zu sein, dass es überhaupt etwas zu erben gibt, anstatt den Eltern dankbar zu sein, dass sie der nächsten Generation ein Vermögen überlassen haben, für das die Erben nichts getan haben, anstatt darüber nachzudenken, was die Voraussetzung dieser Erbschaft ist: nämlich Arbeit und Frieden, fordert ein junger Mann von seinem Bruder seinen Erbteil und ruft Jesus als Richter an. Er soll dafür sorgen, dass er zu seinem Erbanteil kommt. Doch wer nun erwartet, dass Jesus sich als salomonisch gesinnter Richter erweist, wird enttäuscht. Als ob Jesus das für völlig nebensächlich hält, wer nun in den Genuss des Besitzes kommt, fertigt er den Mann ab:

Du da! Mensch!

Ich bin kein Richter

und von niemandem bestimmt,

euer Erbe zu teilen

Jesus fühlt sich offensichtlich von der Bitte des Mannes missbraucht. Er kann und will keinen Streit schlichten, dessen Grundlage, nämlich die Gier nach Besitz, er für verwerflich hält. Also deckt Jesus das Problem auf, das er hinter der Frage des Mannes vermutet: die Abhängigkeit des Menschen vom materiellen Besitz.

Seht zu und achtet darauf,

dass ihr nicht der Habsucht verfallt,

der Gier nach Besitz,

denn was wir Leben nennen,

ist nicht Überfluss,

nicht Habe, Geld und Besitz.

Damit ruft Jesus den Mann und mit ihm uns auf: Prüfe als erstes, was die Beweggründe deiner Bitte sind. Willst du Teilhabe am materiellen Reichtum? Willst du durch die Erbschaft den Sprung nach Oben schaffen? Oder geht es dir um Gerechtigkeit, um Leben, um Freiheit? Und noch eine Frage wirft Jesus auf: Ist dir der Zusammenhang von Habsucht und Sterben bewusst? Nicht in dem Sinn, dass die Voraussetzung des Erbens der Tod der Vorfahren ist. Sondern: Aller Besitz erfährt seine radikale Entwertung durch den Tod. Mehr noch: Die Gier nach Besitz, die Habsucht als Triebkraft des Lebens lässt die Seele schon vor dem biologischen Tod absterben:

Bedenkt: Ihr könnt reich sein wie kein anderer Mensch -

und doch seid ihr gestorben, im Herzen!“

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich Deutschland zu einem Volk von Erben und Aktionären entwickelt (das gilt insbesondere für Westdeutschland). Die unvorstellbare Summe von über 600 Milliarden Euro der 500 reichsten Deutschen bewegt sich auf internationalen Finanzmärkten und vermehrt sich dort ständig auf ebenso wundersame wie rücksichtslose Weise. Bis 2020 werden allein in Deutschland 2,6 Billionen Euro Vermögenswerte vererbt. Jede fünfte Erbschaft beläuft sich auf mehr als 250.000 Euro. Das bedeutet: Vermögen wechselt den Besitzer, für das die, die es erhalten, keinen Finger gekrümmt haben. Gleichzeitig werden für das sich anhäufende Vermögen immer größere, höhere Lagerhäuser gebaut - nicht in der Landwirtschaft, sondern in dem Wirtschaftszweig, der heute dazu dient, Besitz zu horten: die sog. Kapitalmärkte. Wenn wir in einer solchen gesellschaftlichen Situation den Gedanken Jesu begegnen, dann haben wir zuerst und vor allem daran zu denken, wem wir ausreichendes Einkommen und Vermögen verdanken:

Aber dann ist da noch ein vierter Punkt:

Wie aber gehen wir mit dem Erbe und seinen Grundlagen um? Geben wir zurück, was wir entwendet haben? Setzen wir es ein für die nachfolgenden Generationen? Oder streiten wir nur über die Anteile und verbrauchen, was wir besitzen? Horten wir es in der Hoffnung, dass es sich weiter vermehrt, ohne dass wir dafür arbeiten müssen? Oder achten wir auf eine gerechte Verteilung, wohl wissend, dass aller Besitz vergänglich, aber auch ungerecht verteilt ist? Stellen wir das Erbe, Geld und Besitz, gierig und raffend in den Mittelpunkt unseres persönlichen und gesellschaftlichen Lebens? Oder verstehen wir unser Leben als eine Gabe des lebendigen Gottes, das für sich genommen einen unschätzbaren Wert darstellt?

Es ist interessant: Jesus will mit dem Gleichnis vom reichen Kornbauern nicht klären, wer von den beiden Brüdern welchen Anteil an der Erbschaft erhält. Vielmehr entlarvt Jesus ein Gesetz der Ökonomie als Trugschluss: Wenn die Gier, die Abhängigkeit vom Besitz, alleinige Triebfeder des Wirtschaftens ist, dann wächst durch Teilhabe am Besitz nicht die Gerechtigkeit, sondern sie verringert sich, und mit ihr verkümmert alles, worauf es Jesus ankommt: Nächsten- und Feindesliebe, Barmherzigkeit, Ehrfurcht vor dem Leben. Unsere ökonomische Wirklichkeit 2015 gibt Jesus recht: Mit dem sich anhäufenden Reichtum in unserer Gesellschaft und weltweit wächst gleichzeitig die Armut und all das, was wir derzeit in seinen dramatischen Auswirkungen spüren: Kampf um Ressourcen, Terror, Krieg und Bürgerkrieg, Flucht von Millionen Menschen. So steht mit der Frage des Erbes an die Frage nach der zukünftigen Gestalt unserer Erde. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass Jesus die Frage, wem der angehäufte Besitz des Kornbauern nach dessen angekündigtem Tod gehören wird, unbeantwortet lässt. Jesus sagt nicht, was wir vielleicht vermuten würden: Dieser Besitz soll den Armen zufallen, so dass diese sich daran bereichern können. In einer bloßen Umverteilung des Besitzes, in einer Umkehrung der materiellen Verhältnisse kann Jesus keinen Weg der Gerechtigkeit erkennen. Jesus bezweckt etwas anderes. Er erzählt das Gleichnis, um den Zusammenhang von Besitzstreben und Tod aufzuzeigen - mit dem Ziel, den Ursprung alles Lebens in den Mittelpunkt allen Mühens und Arbeitens zu rücken: Gott. An ihm und durch ihn zerbricht alle Abhängigkeit, in die uns Geld und Besitz führen und gefangen halten.

Wenn wir uns in dieser Weise von Jesus die Augen öffnen lassen, dann erkennen wir schnell, wie sich in unserer Wirklichkeit heute der Zusammenhang von Besitzstreben und Tod widerspiegelt: der Zusammenhang von Reichtum und Arbeitslosigkeit, von Konsumismus bei uns und Hunger in den Elendsregionen Afrikas und Lateinamerikas, von ungehemmter Geldwirtschaft und Korruption, von Kapitalismus und Kriminalität – dafür haben wir mit dem VW-Skandal eine drastische Illustration freihaus geliefert bekommen.

Das Gleichnis vom reichen Kornbauern deckt schonungslos alles auf, was auch in unserer Gesellschaft, in unserem persönlichen Leben an Mechanismen der Begierden wirksam ist. Und es hat gar keinen Zweck, das in irgendeiner Weise zu beschönigen oder - weil heute Erntedankfest ist - die analytische Schärfe Jesu vorschnell einzuebnen angesichts prachtvoll geschmückter Altäre. Denn es geht um jeden von uns, um unser persönliches Ich. Das Gleichnis besteht ja hauptsächlich aus einem Selbstgespräch des reichen Kornbauern. Diese selbstgefällige Selbstbespiegelung ist sprachlich gestaltet wie ein Tanz um das goldene Ich. Alles dreht sich um ihn: das ICH. Da ist kein Platz mehr für den anderen:

... (ich) kann getrost zu mir sagen:

mein Freund, nun hast du alles, was du willst.

Die Ernte ist in der Scheuer,

du darfst vergnügt sein,

für viele Jahre.

Ruh dich aus und lass fünf gerade sein,

iss und trink und mach dir von nun an fröhliche Tage.

Jedoch: Die Ruhe, die sich der Kornbauer selbst verspricht, ist trügerisch. Denn sein Herz, seine Seele müssen auf Hochtouren laufen, um den angehäuften Besitz zu sichern. Er wird sich auf Dauer nicht zufrieden geben können mit dem, was er hat. Rastlos, wie der Bauer Pachom in Tolstois Erzählung „Wieviel Erde braucht der Mensch“, muss der Kornbauer weiter für die Vermehrung seines Besitzes arbeiten. Doch am Ende ist es so wie bei Pachom: Er, dem das Land versprochen ist, das er an einem Tag umschreiten kann, erreicht zwar seinen Ausgangspunkt, doch bricht er abgehetzt am Ziel tot zusammen. Da braucht Pachom nur noch das kleine Stück Erde, das nötig ist, um seinen Leichnam zu verscharren.

Im Gleichnis Jesu stirbt der Kornbauer nicht. Ihm wird lediglich der Tod angekündigt:

In dieser Nacht noch wird dir die Seele abgefordert -

dein Leben!

sagt Gott zu ihm. Das griechische Wort für „abfordern“ stammt aus der Welt des Geldgeschäftes. Es wird gebraucht für das Zurückfordern von Darlehen und Diebesgut. Gott bedient sich der Sprache, die der Kornbauer versteht. Und Jesus versucht mit diesem Gleichnis uns Menschen eine grundlegende Lebens- und Glaubenseinsicht zu vermitteln, die sich auch auf die ökonomischen Bedingungen unseres Lebens auswirken: Unsere Seele, unser Leben, aber auch das, was wir unser Privateigentum nennen, gehören - mit den Augen Jesu gesehen - nicht uns selbst. Alles ist eine Leihgabe, ein Darlehen Gottes - und manchmal auch Diebesgut: die Arbeitsstelle wie die eigenen Kinder, das Gehaltskonto wie das Eigenheim, die Aktien wie das Grundstück. Der Sinn dieser Leihgaben ist nicht, materiellen Besitz und Reichtum privat anzuhäufen und zu horten. Vielmehr erfüllt sich unser Leben in der Befreiung von der gottlosen Bindung an Besitz, um Gottes Geschöpfen frei und dankbar dienen zu können (Barmen II). Diese Befreiung ermöglicht uns, eine klare Unterscheidung und Entscheidung zu treffen zwischen Gottesdienst und dem Dienst am Mammon, zwischen Glauben und dem Atheismus des Geldes.[1]

Können wir die Unterscheidung treffen? Wissen wir davon, dass das Immermehrhabenwollen die eigentliche Behinderung des Lebens, des Glaubens und der Nachfolge Jesu ist? Wissen wir, dass nach Überzeugung des Apostel Paulus die „Geldgier ... die Wurzel alles Übels (ist)“ (1. Timotheus 6,10) und den sicheren Tod bedeutet? Damit sollen weder Geld, noch Privatbesitz, noch Erbschaften verteufelt und moralisch madig gemacht werden. Aber es soll unser Bewusstsein über die uns beherrschende Funktion dieser Dinge geschärft werden - dann, wenn sie zum Selbstzweck werden, wenn wir sie an die Stelle Gottes setzen und ihnen alles zu opfern bereit sind - unsere Glaubensüberzeugungen und schließlich unser Leben. „Dumm ist, wer den Dank vergisst.“ Am Erntedankfest haben wir uns daran zu erinnern, was die Voraussetzung einer jeden Erbschaft, auch der Erbschaft des Glaubens, ist, die wir empfangen oder weitergeben:

Daran zu denken und dafür zu danken - das möchte heute unser Gottesdienst sein.

 

[1]Kein geringerer als Martin Luther verdeutlicht im Großen Katechismus, was gemeint ist: „Es ist mancher, der meinet, er habe Gott und alles gnug, wenn er Geld und Gut hat ... Siehe, dieser hat auch einen Gott, der heißest Mammon, das ist Geld und Gut, darauf er alle sein Hertz setzet, welches auch der allergemeinest Abgott ist auf Erden. Wer Geld und Gut hat, der weiß sich sicher, ist fröhlich und unerschrocken, als sitze er mitten im Paradies, und wiederümb, wer keins hat, der zweifelt und verzagt, als wisse er von keinem Gott.“



Pfarrer Christian Wolff
Leipzig
E-Mail: info@wolff-christian.de

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