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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

21. Sonntag nach Trinitatis, 25.10.2015

Mit Liebe entwaffnen
Predigt zu Matthäus 5:38-48, verfasst von Sibylle Rolf

 

Liebe Gemeinde,

Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Vielleicht hat er die Eile nur vorgeschützt, und er hat was gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts getan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s mir wirklich. - Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er "Guten Tag" sagen kann, schreit ihn unser Mann an: "Behalten Sie Ihren Hammer".

Diese Geschichte hat Paul Watzlawick in seiner „Anleitung zum Unglücklichsein“ aufgeschrieben. Und ich gestehe, sie kommt mir bekannt vor. Nicht dass ich mir von meinen Nachbarn regelmäßig einen Hammer ausleihen müsste. Es ist eher die Erwartung, die ich kenne. Die dazu führt, dass im Kopf schon die Gedankenmühle losgeht, noch bevor ein Wort gesprochen wurde. Der andere hat eh was gegen mich. Den brauche ich ja gar nicht zu fragen. Oder: es geht eh schief. Ich weiß schon von vornherein, dass nichts gutes dabei herauskommen kann. Und dann geht es tatsächlich schief. Noch bevor der andere auch nur ein einziges Wort gesprochen hat.

Psychologen nennen das die self-fulfilling prophecy: die sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wir sind so sicher, dass etwas gar nicht klappen kann, dass es dann auch tatsächlich nicht klappt. Und was hätte dem Mann in der Geschichte geholfen? Es wäre ganz einfach gewesen. Ein Blick, vielleicht ein Lächeln, ein Moment Freundlichkeit, und ich bin sicher, dass das mit dem Hammer kein Problem gewesen wäre. So aber hat sich eine ganze Kaskade von Schwierigkeiten aufgebaut, und wahrscheinlich ist am Ende eine gute Nachbarschaft unmöglich. Der Nachbar wird wahrscheinlich nicht auf die Idee kommen, seine Bohrmaschine zu verleihen oder jemals um einen Gefallen zu bitten geschweige denn zu einem gemeinsamen Grillfest einzuladen.

Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. Die Geschichte mit dem Hammer ist zunächst keine Geschichte von Bosheit. Aber spinnen wir sie noch ein bisschen weiter. Stellen Sie sich vor, wie der Nachbar reagieren könnte. Er könnte unausgeschlafen sein oder gerade ein schwieriges Gespräch geführt haben. Und dann soll er ganz unvorbereitet und ungefragt seinen Hammer behalten und wird auch noch angeschrien. Ohne dass er nur ein einziges Wort gesagt hat. Das lädt geradezu zum Streit ein. Und ich stelle mir vor, wie die beiden Kampfhähne im Hausflur stehen. Schnell ist der schönste Streit im Gange. „Ich behalte gerne meinen Hammer“, sagt der Nachbar vielleicht. „Und außerdem wollte ich Ihnen schon immer mal gesagt haben, dass die Schuhe vor Ihrer Wohnungstür mich gewaltig nerven.“ – Ein Perspektivwechsel tut not. Gut und hilfreich wäre die Erkenntnis: der andere will mir nichts Böses. Darum kann ich ihm auch gut sein. Feinde werden häufig im Kopf gemacht, und dann tut es gut, es anders zu probieren. Den Blick zu wenden. Im anderen den Menschen zu sehen, der einen Hammer verleiht oder einen Hammer braucht. Und nicht einen, der mich bedroht.

Das Beispiel mit dem Hammer ist noch ziemlich leicht. Und es leuchtet direkt ein. Im Evangelium fordert uns Jesus zu einem noch radikaleren Perspektivwechsel heraus.

 

Matthäus 5,38-48

38 Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2.Mose 21,24): »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« 39 Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. 40 Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. 41 Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. 42 Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.

43 Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« (3.Mose 19,18) und deinen Feind hassen. 44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, 45 damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. 46 Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? 47 Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? 48 Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

In der Bergpredigt, aus der unser Abschnitt kommt, ruft Jesus uns zu: Probier’s mal anders. Lass deinen Blick verändern. Wechsle die Perspektive! Ich gestehe, ich kann mir keinen radikaleren Perspektivwechsel vorstellen, als diejenigen zu lieben, von denen ich überzeugt war, sie wollten mir böses. Oder einem, der mich schlägt, auch noch die linke Wange hinzuhalten. Ins Gesicht schlagen, das ist eine Demütigung. Es ist nicht nur der physische Schmerz, sondern es ist auch die Verletzung einer Grenze. Da tritt einer ein in meinen persönlichsten Bereich. Er missachtet meine Integrität und meine Bedürfnisse. Und ich soll mir das nicht nur gefallen lassen, sondern mich ihm aktiv ausliefern? Ich versuche, die Perspektive zu wechseln. Es einmal anders zu versuchen. Ich verstehe: Jesus fordert mich zum Rechtsverzicht auf. Auf das zu verzichten, das mir zusteht. Dem anderen zugute.

Na gut, denke ich. Das kann ich so stehen lassen. Tatsächlich tut es manchmal gut, nicht auf meinem Recht zu beharren, sondern auch mal fünfe gerade sein zu lassen. In der Familie. Oder in Beziehungen. Auch im Beruf. Mit Überzeugung nachzugeben, weil der andere mir wichtiger ist als das, worum wir uns streiten. Aber ich frage mich: wie wirkt das auf die syrische Frau, die ihr Haus verlassen musste? Die geflohen ist, weil ihre Nachbarin vergewaltigt wurde und sie Angst um ihre Töchter hat? Soll sie stehen bleiben und sich den Peinigern ausliefern?

Und mir fällt noch ein anderes Beispiel ein: vor drei Tagen haben unsere Glocken zum Gedenken an die Deportation der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger nach Gurs geläutet. Vor 75 Jahren, 1940, sind sie aus ihren Häusern getrieben und nach Frankreich gebracht worden, weil unsere Region nach der irrwitzigen Ideologie der Nationalsozialisten vorbildlich judenfrei sein sollte. Kann man von den Opfern verlangen, dass sie sich auch noch freiwillig den Tätern unterwerfen? Ist das nicht blanker Zynismus? Die Geschichte mit dem Hammer scheint weit weg. So einfach ist es eben nicht. Schon bei mir selbst nicht. Erst recht nicht bei anderen.

Versuch’s mal anders, denke ich. Aber wie? – Ich finde eine Antwort im Leben und Sterben Jesu. In seinem Gesicht mit der Dornenkrone. Als ihm die Soldaten nicht nur den Mantel nehmen, sondern er ihnen auch das Untergewand noch lässt. Als sie ihn auf die rechte Wange schlagen und er ihnen auch noch die linke darbietet. Und den Rücken für ihre Geißelhiebe. Als er auf sein Recht verzichtet, obwohl es zum Himmel schreit, dass er zu Unrecht gefangen genommen, gefoltert und gekreuzigt werden soll. Als er sich ausliefert. Er hat es anders versucht, ist neue Wege gegangen, hat nicht Böses mit Bösem vergolten. Und dabei wird mir klar: indem er sich ausliefert, legt er den Finger auf die Monstrosität des Bösen. Er lässt die Gewalt an sich selbst auslaufen und zeigt das Unrecht, ohne mit einem Gewaltakt zu antworten. Gerade indem er sich nicht wehrt, macht er offenbar, was hier geschieht: die Folter und der Tod eines Unschuldigen. Und damit durchbricht er die Spirale von Gewalt und Gegengewalt. Und er tut es nicht duldsam oder passiv mit gesenktem Kopf. Seine letzten Stunden strahlen vielmehr eine Größe und Stärke aus, die den römischen Hauptmann zu dem Bekenntnis veranlassen: dieser ist wahrhaftig Gottes Sohn.

Die Gewalt so zu beenden, das kann wohl nur Gott. Gott war in Christus, schreibt Paulus. Aber Christus hat uns damit einen Raum eröffnet, neue Wege zu gehen. Es anders zu versuchen. Die Täter zu entwaffnen. Nicht gewaltsam, sondern mit Liebe. Ich glaube: die Opfer brauchen uns. Das Gedenken an die Deportierten nach Gurs genauso wie das Engagement für Flüchtlinge. Aber sie brauchen keine Gewalt, die in die Spirale von Gewalt und Gegengewalt führt. Sie brauchen entschiedenen Widerstand, der die Feindseligkeit aufdeckt und das Böse entlarvt, das oft so banal daherkommt. Widerstand, der sich der Versuchung verschließt, sich zu wehren und stattdessen dem Gegner ins Gesicht sieht.

Versuch’s mal anders. Vielleicht mit dem Gedanken: Der andere ist auch ein Mensch. Zum Leben geschaffen wie ich selbst. Ein Geschöpf Gottes, der die Sonne über Gerechte und Ungerechte aufgehen lässt. Einem anderen so zu begegnen, braucht Mut und Vertrauen. Sicherlich dürfen wir nicht naiv sein. Der erhobene Kopf der Syrerin beendet noch nicht den Bürgerkrieg. Es gibt so etwas wie ein strukturelles Böses, dessen wir nicht so ohne weiteres Herr werden. Und doch... Das Böse ist nicht nur das Große Böse der Anderen. Es fängt in meinem eigenen Kopf an. Wie bei der Geschichte mit dem Hammer. Und in den kleinen Feindbildern, die ich täglich nähre. Und was kann wirklich passieren, wenn ich es einmal anders versuche? Vielleicht hat der andere ja gerade darauf gewartet, dass ich ihm mit Vertrauen begegne und einen Raum eröffne, nach dem er sich sehnt.

Es erfordert Mut und Vertrauen. Aber genau diesen Raum hat Christus mir eröffnet. Dir kann nichts geschehen, spricht er mir zu. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin neue Wege gegangen, damit du neue Wege gehen kannst. Und dann wird auf einmal vieles möglich. Ich kann dem anderen ins Gesicht blicken, meine Augen erheben, Augenhöhe suchen, den anderen ernst nehmen und mich selbst ernst nehmen. Ich bin weder Täter noch Opfer. Der andere ist weder Täter noch Opfer. Er ist Mensch wie ich, Kind des himmlischen Vaters, keine Bedrohung meiner Integrität. Darin liegt ein Akt der Achtung und des Respekts. Und dann wird die Feindesliebe zum alltäglichen Gebot. Und die Geschichte mit dem Hammer wird zum Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Amen.

 



Pfrin. PD Dr. Sibylle Rolf
68535 Oftersheim
E-Mail: sibylle.rolf@kbz.ekiba.de

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