Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

21. Sonntag nach Trinitatis, 25.10.2015

„Die christliche Vollkommenheit“
Predigt zu Matthäus 5:43-48, verfasst von Matthias Wolfes

 

„Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.’ Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel; denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und so ihr euch nur zu euren Brüdern freundlich tut, was tut ihr Sonderliches? Tun nicht die Zöllner auch also? Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ (Jubiläumsbibel 1912)

Liebe Gemeinde,

drei Aufforderungen läßt der Text an uns ergehen, und alle drei kann man wohl extrem nennen: „Liebt eure Feinde“, „Seid Kinder Gottes“ und „Seid vollkommen“. Das Gebot der Feindesliebe wird dahin bestimmt, daß wir denen, die uns hassen, „wohl tun“ sollen und für diejenigen bitten, die uns beleidigen und verfolgen. Dies sollen wir tun, „auf daß“ wir „Kinder unseres Vaters im Himmel“ seien. „Denn“ der Vater im Himmel – also Gott – „läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten“. Man kann fragen, weshalb dies eine Begründung für die vorangehende Mahnung ist. Sollen wir, weil Gott mit der Gabe von „Sonne“ und „Regen“ keinen Unterschied zwischen den Menschen macht, auch unterschiedslos allen mit der gleichen Zuwendung begegnen? Stehen die Naturgewalten für das Schicksal, für die vorsehende Allgüte Gottes? Anerkennenswert ist nach Auffassung des Evangelisten nur ein solches Verhalten, das eben auch denen Gutes erweist, die einem selbst übelwollen. Hier geht es ausdrücklich um Leistung und „Lohn“, der um des Geleisteten willen entrichtet wird. Weit darüber hinaus weisen schließlich die Schlußworte des Abschnittes, formuliert als eine Art Schlußfolgerung aus dem Bisherigen: „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Das ist nun eine ganz andere Kategorie. „Vollkommenheit“ ist etwas Absolutes. Das wird dadurch unterstrichen, daß der Evangelist Jesus nicht nur von der Vollkommenheit an sich sprechen läßt, sondern von einer solchen, die irgendwie derjenigen gleicht, die Gott selbst zukommt. Welchen Ort, welchen Sinn kann sie dann aber für uns haben?


I.

Worum geht es überhaupt? Handelt es sich um Mahnungen für unser alltägliches Verhalten anderen gegenüber? Nimmt man den Zusammenhang der Bergpredigt, aus der unser Abschnitt ja stammt, dann dürfte klar sein, daß es sich so verhält. Zuvor ging es um die Erfüllung des Gesetzes, um Versöhnungsbereitschaft, um den Respekt vor der Ehe und um die Verläßlichkeit. Es folgen Ausführungen über das Almosengeben und die rechte Einstellung zu Besitz und Eigentum. Wir hören aber auch Jesu Worte über das rechte Beten, wie ja im ganzen seine Rede eben auch das Verhältnis des gläubigen Menschen zu Gott beschreibt. Das ganze Verhalten ist Ausdruck der Beziehung zu Gott. Das ist der Grundgedanke der Bergpredigt, und alles einzelne, was Jesus vorbringt, kann nur richtig verstanden werden, wenn man diesen Grundgedanken in Rechnung stellt.
Auch unser Text bekommt seinen Sinn erst von ihm her. Überhaupt ist die sogenannte Feindesliebe das beste Beispiel für das, was Jesus mit seiner Botschaft eigentlich sagen will, hier dem Evangelisten Matthäus zufolge, aber so auch in den anderen Evangelien. Es geht ihm in erster Linie um ein bestimmtes Verhältnis. Jesus sieht den Menschen nicht als vereinzeltes Wesen an, das ins Dasein geworfen ist und sich dann mehr oder weniger glücklich durchkämpft. Für ihn ist er vielmehr immer in ein ganzes Netz von Beziehungen hineingestellt, und erst so wird überhaupt deutlich, wer er selbst ist.
Die Anweisungen, die Jesus gibt, wollen allesamt auf dieses Beziehungsnetz einwirken. Sie wollen das Verhalten der Hörer so bestimmen, daß neue Verknüpfungen entstehen, daß gerissene Fäden wieder verbunden und insgesamt lebendige Verbindungen zwischen den einzelnen geschaffen werden. Doch nicht allein um die Ebene der Zwischenmenschlichkeit geht es, sondern in jedem Punkt immer auch um die Beziehung zu Gott. Beides geht ineinander. Die Nähe zu Gott wird aus der Verbundenheit untereinander gestärkt, wie auch das menschliche Miteinander aus einem versöhnenden Geist der Gottesnähe heraus kräftig wird.
Die „Feindesliebe“ ist der weitgehendste Fall aus einer Vielzahl von gleichlaufenden Mahnungen. Ob vom Einzelnen oder einer Gemeinschaft: Feindselige und haßerfüllte Einstellungen sollen durch ein entgegengesetztes Verhalten, durch Wohltun, durch den Verzicht auf Vergeltung und die Bereitschaft zum Entgegenkommen überwunden werden. Das Ziel ist nicht bloß ein allgemeiner Friedenszustand, sondern eine wirklich erfüllte Gemeinsamkeit, ein Geschehen von Versöhnung und ein Zustand von Versöhntheit.


II.

„Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen [...].“ Diese Forderung mutet unrealistisch an. Sie widerstreitet einem tief in uns eingesenkten Willen zur Selbstbehauptung und könnte, nimmt man sie im strengsten Sinne, die Integrität der eigenen Person zweifellos schwer beschädigen. Man wird auch fragen dürfen, ob nicht Situationen denkbar sind, in denen sich eine solche Haltung schon aus der Sache heraus verbietet. Es gibt eine Versöhnungsbereitschaft, die allem natürlichen Empfinden so sehr widerstreitet, daß ihr etwas Krankhaftes anhaftet.
So verwundert es auch nicht, wenn an dem Grundsatz der Feindesliebe, wie auch schon an dem der Nächstenliebe, viel Kritik geübt worden ist. „Meine Liebe“, wird gesagt, „ist etwas mir Wertvolles, das ich nicht ohne Rechenschaft verwerfen darf. Sie legt mir Pflichten auf, die ich mit Opfern zu erfüllen bereit sein muß. Wenn ich einen anderen liebe, muß er es auf irgendeine Art verdienen. Er verdient es, wenn er mir in wichtigen Stücken so ähnlich ist, daß ich in ihm mich selbst lieben kann; er verdient es, wenn er so viel vollkommener ist als ich, daß ich mein Ideal von meiner eigenen Person in ihm lieben kann [...]. Aber wenn er mir fremd ist und mich durch keinen eigenen Wert, keine bereits erworbene Bedeutung für mein Gefühlsleben anziehen kann, wird es mir schwer, ihn zu lieben. Ich tue sogar unrecht damit, denn meine Liebe wird von all den Meinen als Bevorzugung geschätzt; es ist ein Unrecht an ihnen, wenn ich den Fremden ihnen gleichstelle. Wenn ich ihn aber lieben soll, mit jener Weltliebe, bloß weil er auch ein Wesen dieser Erde ist, wie das Insekt, der Regenwurm, die Ringelnatter, dann wird [...] ein geringer Betrag Liebe auf ihn entfallen [...]. Wozu eine so feierlich auftretende Vorschrift, wenn ihre Erfüllung sich nicht als vernünftig empfehlen kann?“
Nun ist natürlich auch den Kritikern bewußt, dass die Forderung – ob sie nun auf den „Nächsten“ oder den „Fremden“ zielt – Ausdruck der ganz elementaren Kulturnotwendigkeit ist, der Aggressionsneigung Schranken zu setzen. In ihrer Radikalisierung zu einem Idealgebot „rechtfertigt“ sie sich dadurch, „daß nichts anderes der ursprünglichen menschlichen Natur so sehr zuwiderläuft“. Ist dann aber die Unterstellung, sie sei überhaupt befolgbar, nicht bloß eine haltlose Illusion? Untergräbt sie nicht sogar durch ihre offenkundige Unerfüllbarkeit, ja durch ihre Vernunftwidrigkeit alle geregelte, zielgerichtete und insofern vernünftige Kulturarbeit? Jesus muß sich von dieser Seite jedenfalls ein „unpsychologisches Vorgehen“ vorwerfen lassen: „Das Gebot ist undurchführbar; eine so großartige Inflation der Liebe kann nur deren Wert herabsetzen, nicht die Not beseitigen.“


III.

Mir scheint, als wenn hier durchaus etwas Bedenkenswertes gesagt wird. Und doch ist das nicht das letzte Wort. Ginge es ausschließlich um das Verhalten des Menschen anderen Menschen gegenüber, also um den Entwurf eines Handlungsprogrammes, dann dürfte man in der Tat in Zweifel geraten, ob das Gebot der Feindesliebe wirklich als Idealforderung für eine gemeinschaftsorientierte Ethik taugt. Aber so ist sie eben weder im Rahmen der Bergpredigt ausgesprochen noch gemeint. Man muß ernstnehmen, daß hier alle Verhaltensweisen den anderen gegenüber, den Nahe- wie auch den Fernstehenden, zugleich Ausdruck der Beziehung zu Gott sind. Das ist keine Ausflucht, um das Gewicht der Forderung abzuschwächen. Es ist eben der Zusammenhang, in dem sie steht.
Deshalb lesen wir am Ende unseres Abschnittes auch jenes sehr markante und aufrüttelnde Wort von der Vollkommenheit. Auch hier kann man ja nach der Rationalität fragen. Wer von uns würde es allen Ernstes wagen, für sich selbst als Ziel seines christlichen Lebens die „Vollkommenheit“ anzugeben? „Vollkommen“ zu sein – was bedeutet das überhaupt? Die Worte lauten aber: „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“
Vollkommenheit kann, im Kontext des Glaubens, nur eines bedeuten: Das Leben in ungetrübtem Vertrauen auf Gottes gütige Zuwendung leben und es aus diesem Vertrauen heraus bewältigen. Es in allen Höhen und Tiefen, und gerade auch in den Tiefen, aus diesem Vertrauen heraus leben und führen, es daraus gestalten, sei es Tag, sei es Nacht, zuhause oder in der Fremde, als das immerwährende, tragende Grundgefühl der glaubenden Existenz – das ist Vollkommenheit.
Vollkommenheit ist für den christlichen Glauben hingegen keine ethische Kategorie. Es gibt Ziele, Ideale, Vorstellungen von mir selbst, denen ich mich in meinem Handeln annähern möchte, doch daß dieser Weg mich nicht zu einer sittlich vollkommenen Person machen wird, das braucht mir nicht extra gesagt zu werden. Es kann nicht oft genug betont werden: Der Glaube ist eine Deutung der Wirklichkeit. Im Glauben, das heißt im Vertrauen auf Gott, sieht die Welt anders aus. Und in dieser Sicht sollen Haß, Vergeltung, Bestrebungen der Rache, überhaupt die Schädigung anderer keinen Platz haben. Sie gehören nicht hinein, und zwar ganz und gar nicht. Auch Mißgunst, Neid, die Neigung zu Hader und Streit – alle diese Dinge, die das Leben verdüstern, weil sie eben Verbindungen lösen oder nicht zustande kommen lassen, sind der Sicht des Glaubens fremd.
Die Mahnung Jesu, nicht nur den Nächsten, sondern sogar den „Feind“, zu lieben, ihm mit Wohlwollen und Güte zu begegnen, wo er sich gegen uns wendet, ist sehr konsequent, und zwar dann, wenn man sie so gelten läßt, wie sie zu verstehen ist: als Ausdruck der innigsten Nähe zu Gott, die sich eben gar nicht anders aussprechen kann als in der Nähe zu den Menschen, die die Welt mit mir teilen. Es ist die Mahnung Jesu. Und ich werde sie hier nicht als die Meinige ausgeben. Zu kraß ist der Widerstreit, in dem sie zu meinem eigenen Leben steht. Ich müßte befürchten, alle Glaubwürdigkeit einzubüßen. Jesus aber ist glaubwürdig. Er tritt ja als derjenige auf, der in völliger Ungetrübtheit Gott nahe ist. Er ist vollkommen, denn sein Vertrauen ist unbeschränkt.
Was uns betrifft, so wissen wir, worum es geht. Jene Situationen bleiben bestehen, in denen es geradezu aberwitzig scheint, nun die bedingungslose Versöhnungsbereitschaft zu fordern. Und man kann im Blick auf diese Situationen auch nicht einfach von einer Art Verstrickung sprechen, in der wir uns befänden, denn das Leid, das Übel, die Schädigung muß ja nicht uns selbst betreffen. Doch sollen wir eben auch dies wissen: Aus der Welt schaffen werden wir nichts. Wir lassen uns auf einen Kampf ein, den wir nicht gewinnen können. Einen Weg in die Freiheit weist hingegen jene Mahnung, die wir uns, so schwer sie zu begreifen ist, eben doch gesagt sein lassen.

Amen.

 



Pfarrer Dr. Dr. Matthias Wolfes
10625 Berlin
E-Mail: wolfes@zedat.fu-berlin.de

(zurück zum Seitenanfang)