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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

21. Sonntag nach Trinitatis, 25.10.2015

Predigt zu Matthäus 5:38-48, verfasst von Rudolf Schulze

 

Liebe Gemeinde,

1. Es ist ganz wunder bar. Und es ist ganz schrecklich. Es ist wunderbar, dass es Liebe gibt. Wie wunderbar, wenn Liebe die Menschen trägt: in der Ehe, ein Leben lang, Über Höhen und durch Tiefen . Oder in der Fürsorge für Pflegebedürftige und Leidende. Oder als Gastfreundschaft gegenüber den Fremden und Flüchtlingen , die zu uns kommen. Wie wunderbar und bewundernswert. Und es ist schrecklich, dass es so viel Hass gibt. Wenn Menschen einander zum Feind werden. In der Ehe. Im Nachbarschaftsstreit. In den nicht enden wollenden Kriegen. Im Terror gewalttätiger Islamisten. Im Hass der Neonazis. Wie nah wohnt beides bei einander: Liebe und Hass, Frieden und Krieg, wie nah wohnt es manchmal in uns selbst. In diesen spannungsgeladenen Zusammenhang zwischen Liebe und Hass, Freundschaft und Feindschaft hinein spricht Jesus unser heutiges Predigtwort.

 

Matthäus 5,38-48

2. Dieses Wort aus der Bergpredigt provoziert. Von Anfang bis Ende. Gerade deshalb gehört Jesu Aufruf zur Feindesliebe zu den bekanntesten Worten der Christenheit. „Liebt eure Feinde“ – „Wenn dich einer auf die rechte Backe schlagt, dann halte ihm auch die linke hin“- wer kann das schon? Wer kann das ernsthaft wollen: den Schläger zum Weiterschlagen einladen? Und wo kämen wir hin, wenn wir dem Bösen nicht widerstehen? Man stelle sich das einmal im großen Maßstab vor: Wenn Neonazis einen Ausländer brutal zusammenschlagen oder islamistische Fanatiker Selbstmordattentate ausführen – soll man dann zusehen? Man könnte meinen, Jesus mute uns etwas Unsinniges zu. Als ein allgemeines Gesetz können diese Worte nicht dienen. Denn damit wäre kein Staat zu machen. Die Polizei ist keine überflüssige Einrichtung und das Militär auch nicht, wenn es um den Schutz vor brutaler Gewalt geht. Was also können wir mit diesen Worten aus der Bergpredigt Jesu dann anfangen?

 

3. Schauen wir uns das Predigtwort noch einmal näher an. Jesus zitiert zuerst das atl Gesetz: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Das uralte Gesetz regelt die Vergeltung. Die Strafe für den Übeltäter soll dem Unrecht entsprechen. Sie darf nicht maßlos sein. Wenn dich einer verwundet, dann darfst du ihn deswegen nicht totschlagen. Unsere Rachegefühle neigen ja zur Maßlosigkeit. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – das setzt der Rache Grenzen. Du darfst Gleiches nur mit Gleichem vergelten. Das soll die Eskalation der Gewalt verhindern. In der Entwicklung der Menschheit war diese Regel ein gewaltiger Fortschritt, ein Zugewinn an Humanität. Bis heute ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Säule der Rechtsprechung .

Aber nun geht Jesus noch einen Schritt weiter. Denn er trägt in sich eine große Vision. Die vision vom Reich Gottes. Dort liegt unsere Zukunft. Darum bitten wir doch immer wieder: „dein Reich komme“, weil auch wir uns nicht zufrieden geben mit dieser unvollkommenen Welt. Immer und immer wieder erzählt Jesus Beispiele, wie das kommende Gottesreich schon heute seine Kraft unter uns entfaltet. So auch hier : „Ich aber sage euch“, verzichtet auf Vergeltung. Lasst das elende Wie-du- mir-so-ich-dir hinter euch.Wie das aussehen kann, macht er an 3 konkreten Beispielen deutlich.

a) „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.“

b) Oder: „Wenn dir einer das Untergewand pfänden will, dem gib auch deinen Mantel“. Einem Armen konnte bei Verschuldung auch die Kleidung gepfändet werden, freilich nur bis zum Existenzminimum, und das war der Mantel. Wer diesen Ratschlag befolgt, steht nackt da. Stellen wir uns das mal wörtlich vor: immerhin dürfte er durch seine Nacktheit ein Zeichen gegen die Willkür dessen setzen, der ihm alles nehmen will.

c) Und dann die 3.Situation: „Wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei“. Vielleicht geht es hier um das Recht der römischen Besatzungssoldaten, einen beliebigen Bürger zu verpflichten, ihm die Lasten zu tragen. Stellen wir uns auch diese Situation bildlich vor: der erniedrigte Kofferträger stellt nach 1 Meile den Koffer nicht ab, sondern sagt freundlich: „ich trage dir gern dein Gepäck nach hause“ .Der Römer dürfte nicht schlecht gestaunt haben. In allen drei Beispielen geht es um einen Verblüffungseffekt. Wenn ich die linke Backe auch noch hinhalte oder selbst noch mein Existenzminimum, den Mantel, drangebe – das verblüfft. Und es kann die Situation aufbrechen.

Jesus sagt nicht nur: „ Ertragt eure Erniedrigung, leistet keinen Widerstand.“ Nein, Jesus will mehr! Er ermuntert zu einer kreativen Lösung von Konflikten. Auch hier gilt: Not macht erfinderisch. Jesus ermutigt dazu, selbst die Initiative zu ergreifen; denn dann ist der Erniedrigte nicht mehr nur Opfer, sondern er kommt auf Augenhöhe mit dem Peiniger. Er wird Herr seiner Handlung.

Diese drei Beispiele machen aber nun auch eines ganz deutlich: Es geht hier nicht um ein neues Gesetz. Es geht um beispielhafte Verhaltensmodelle, an denen wir uns orientieren können. Es geht nicht um immer gültige, unveränderliche Regeln, sondern es geht um Beispiele, wie wir bereits heute mit den Spielregeln des Reiches Gottes Erfahrungen sammeln können, wie mehr Gemeinschaft und Vertrauen wachsen können. Sie machen nicht blind gegenüber dem Unrecht oder dem Bösen. Aber sie überschreiten die Frage von Recht und Unrecht.

Wie viel Unheil unter Menschen kann überwunden werden, wenn wir uns an solchen Beispielen orientieren. Getreu dem Wort des Apostels Paulus, das uns als Wochenspruch in die neue Woche begleitet: „Überwinde das Böse mit Gutem“ (Röm 12,21). Das ist eine verheißungsvolle Regel für Nachbarschaftsstreit und Familienkonflikte: Zahle nicht mit gleicher Münze heim, sondern springe aus dem Karee und setze einen positiven Impuls. Verblüffe durch Freundlichkeit und Geduld. So will Jesus uns helfen, gegenseitige Verteufelungen und Festlegungen zu überwinden, in dem wir uns Neue Verhaltensmöglichkeiten einfallen lassen.

 

4. Was ich bisher gesagt habe, das lässt sich vielleicht alles noch nachvollziehen. Seine eigentliche Zuspitzung aber findet unser Predigtwort in der Aufforderung zur Feindesliebe. Sie ist die eigentliche Pointe der Bergpredigt: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage auch: liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit seid ihr Kinder eures Vaters im Himmel.“

Wenn ich das auf mich wirken lasse, dann muss ich erst mal tief durchatmen. Es fällt schon nicht immer leicht die Nächstenliebe gegenüber unseren vertrauten Mitmenschen durchzuhalten. Und jetzt sagt Jesus: die Nächstenliebe gilt sogar deinem Feind. Was für eine Provokation. Den Feind lieben – wer kann das schon? Der, der mich bedroht oder der mir geschadet hat. Soll ich islamistische Terroristen oder menschenverachtenden Neonazis, oder wer auch immer für Unheil sorgt, lieb gewinnen? Ich spüre, wie sich alles in mir dagegen wehrt.

 

5. Aber dann sehe ich das Lebensbeispiel Jesu. Er hat diese Botschaft mit seinem Schicksal beglaubigt. Seine letzten Lebenstage zeigen das. Sehenden Auges begibt er sich auf seinen Leidensweg nach Jerusalem. Dort lässt er sich widerstandslos gefangen nehmen. Als Petrus ihn mit dem Schwert verteidigen will, gebietet er Einhalt. Und als er am Kreuz stirbt, selbst da betet er für seine Feinde: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“ So hat er die Botschaft der Bergpredigt wahr gemacht.

Wir könnten jetzt die billige Ausrede finden: wir sind doch nicht Jesus. Jesus, der konnte das, aber wir sind doch nur normale Menschen. Ja, das stimmt, liebe Gemeinde. Doch genau vor dieser Resignation möchte uns Jesus bewahren. Denn nicht nur Not macht erfinderisch. Auch die Liebe macht erfinderisch. Jeder Liebende weiß das. Das gilt auch für die Nächstenliebe gegenüber Fremden. Das zeigen uns die vielen Helfer, die in diesen Tagen den Flüchtlingen beistehen und Hilfe improvisieren, wo der Staat überfordert ist. Das sind sehr tagesaktuelle Beispiele dafür, wie sich das Reich Gottes schon heute in der Nächstenliebe Bahn bricht. Für Jesus gilt die Nächstenliebe sogar dem Feind. Denn in seiner Vision vom Reich Gottes sind Fremdheit und Feindschaft überwunden. Gleichsam wie mit einem Prisma schaut Jesus auf das künftige Gottesreich und erkennt wie es bereits in dieser Welt in vielerlei Brechungen aufscheint. Da erkennt er auch im Feind den Menschen, den Bruder, die Schwester, die einst mit uns Heimat im Reich Gottes finden wird. Aus dieser Perspektive heraus kann Jesus für seine Feinde bitten.

 

6. Kann man so leben, liebe Gemeinde? Unzählige Menschen sind dem Beispiel Jesu gefolgt und haben sich an dem Verhaltensmodell der Bergpredigt ausgerichtet und waren bereit, die andere Wange hinzuhalten. Ich denke an Mahatma Gandhi. Er führte in einem jahrelangen Kampf und durch persönliche Erniedrigung mit der Parole der Gewaltlosigkeit Indien in die Unabhängigkeit. Und ich denke an Martin Luther King. Er erzwang mit der Energie passiver Gewalt das Ende der Rassentrennung in den Südstaaten der USA. Gandhi und King haben das Vermächtnis Jesu praktiziert. Wie Jesus haben sie haben auch in Kauf genommen, einen gewaltsamen Tod sterben zu müssen. Die Kraft der Liebe in ihnen war stärker als Angst und Furcht vor dem Tod. In solchen beispielhaften Menschen scheint etwas Reich Gottes mitten in unserer Welt.

Aber können auch wir so leben? Wenn wir nicht so glaubensfest und liebesstark sind? Können auch uns die Worte Jesu etwas sagen, das wir umsetzen können in unserem Leben ohne gleich Märtyrern werden zu müssen. Mich selbst ermutigt ein Beispiel solcher Feindesliebe, das sich vor 25 Jahren in unserem Volk ereignet hat. Es ist die wunderbare friedliche Revolution. Da hat auch die Nächstenliebe vor dem Feind nicht halt gemacht. Die Montagsgebete in Leipzig und vielen anderen Orten der DDR haben auch den Unterdrückern gegolten. Bei aller Auseinandersetzung blieb klar, dass der Gegner ein Mensch ist. Das Befolgen dieser Regel war die heimliche Kraft der friedlichen Revolution. Bei den Leipziger Montagsgebeten in der Nicolaikirche wurden auch die Stasi-Leute begrüßt und als Menschen behandelt. Trotz der jahrelang aufgestauten Wut über Bespitzelung und Unterdrückung hieß die Parole: keine Gewalt. Bewusst stellte man sich in die Nachfolge Jesu und nahm sein Gebot wörtlich: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.“ Solche Liebe ist ohnmächtig und mächtig zugleich. Kerzen und Gebete waren sich im November 1989 stärker als die Waffen der Diktatur. Das muss nicht immer so sein. Die Aufforderung zur Feindesliebe trägt ein großes Risiko in sich. Wer sich im Sinne der Feindesliebe verhält, kann zum Opfer werden. Das Wangehinhalten ist keinesfalls für alle Situationen geeignet. Aber manchmal passt sie tatsächlich und dann entsteht aus der Ohnmacht eine Dynamik, die die Welt verändert.

 

7. Liebe Gemeinde, wir erleben jetzt wieder einen dramatischen Herbst. Tausende von Flüchtlingen strömen Woche für Woche in unser Land.

Menschen, die ihre Heimat und ihren Besitz – oft auch ihre Angehörigen - verloren haben, suchen bei uns Schutz und endlich Sicherheit. Und ungezählte Menschen stehen ihnen zur Seite und praktizieren ganz im Sinne Jesu eine Kultur der Barmherzigkeit. Daneben treten aber auch die anderen auf den Plan, die mit ihren ausländerfeindlichen Parolen das Volk gegen die neuen Nachbarn aufhetzen wollen. Solche spannungsgeladenen Bilder von Nächstenliebe und Hass, Gastfreundschaft und Feindseligkeit liefern uns die Fernsehnachrichten täglich.

Und dann ist da die große Menge derer, die zwischen Gastfreundschaft und Feindseligkeit besorgt fragt: wie soll das weitergehen? Es geht ja noch nicht einmal um Feinde, nein, es geht nur um Menschen, die uns fremd sind. Menschen aus einer fremden Kultur, zumeist mit einer fremden Religion. Solche Fremdheit kann bei uns auch Ängste hervorrufen. Die Beispiele, die Jesus uns gegeben hat und von denen heute die Rede war, sie zielen darauf, unsere Ängste zu überwinden, Vertrauen aufzubauen und Gemeinschaft möglich zu machen. Wenn ich auf diese bewegenden Tage im Lichte des heutigen Predigtwortes sehe, dann denke ich: auch in dieser Flüchtlingskrise gibt es keinen besseren Weg als den, dem Beispiel Jesu zu folgen und unsere Barmherzigkeit größer sein zu lassen als unsere Befürchtungen. Die Kraft der Nächstenliebe will sich gerade auch jetzt in unserem Volk bewähren. Sie hat vor 25 Jahren die Tyrannei der DDR besiegt. Sie kann uns auch heute beflügeln, um den großen Herausforderungen dieser Flüchtlingskrise zu begegnen.

 



Kirchenrat, Dekan i.R. Rudolf Schulze
34212 Melsungen
E-Mail: rudolf-schulze@web.de

Bemerkung:
Herr Kirchenrat Rudolf Schulze ist Präses der Landessynode
der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck


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