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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

22. Sonntag nach Trinitatis, 01.11.2015

Predigt zu Matthäus 18:21.35, verfasst von Klaus Bäumlin

 

Dann trat Petrus zu ihm und sagte: Herr, wie oft kann mein Bruder an mir schuldig werden, und ich muss ihm vergeben? Bis zu siebenmal? Jesus sagt zu ihm: Ich sage dir, nicht bis zu siebenmal, sondern bis zu siebenundsiebzigmal. Darum ist es mit dem Himmelreich wie mit einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte. Als er abzurechnen begann, wurde einer vor ihn gebracht, der ihm zehntausend Talent schuldig war. Weil er sie nicht zurückzahlen konnte, befahl der Herr, ihn mit Frau und Kind und seiner ganzen Habe zu verkaufen und so die Schuld zu begleichen. Da warf sich der Knecht vor ihm auf die Knie und flehte: Hab Geduld mit mir, und ich werde dir alles zurückzahlen! Da hatte der Herr Erbarmen mit jenem Knecht und liess ihn gehen, und die Schuld erliess er ihm. Als aber der Knecht wegging, traf er einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denar schuldig war; und er packte ihn, würgte ihn und sagte: Bezahle, wenn du etwas schuldig bist! Da fiel sein Mitknecht vor ihm nieder und bat ihn: Hab Geduld mit mir, und ich werde es dir zurückzahlen! Er aber wollte nicht, sondern ging und liess ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld beglichen hätte. Als nun seine Mitknechte sahen, was geschehen war, überkam sie grosse Trauer, und sie gingen und berichteten ihrem Herrn alles, was geschehen war. Da liess sein Herr ihn zu sich rufen und sagte zu ihm: Du böser Knecht! Die ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast! Hättest nicht auch du Erbarmen haben müssen mit deinem Mitknecht, so wie ich Erbarmen hatte mit dir? Und voller Zorn übergab ihn sein Herr den Folterknechten, bis er ihm die ganze Schuld bezahlt hätte. So wird es auch mein himmlischer Vater mit euch machen, wenn ihr nicht vergebt, ein jeder seinem Bruder von Herzen.“

Liebe Gemeinde! Die Geschichte, die Jesus erzählt, hat drei Teile. Der erste Teil klingt wie ein Märchen. Ein König rechnet mit seinen Knechten ab. Im zweiten Teil geht es nicht mehr wie in einen Märchen zu. Was hier erzählt wird, das kennen wir; es ist die Realität unserer Welt. Da ist kein König anwesend, Menschen wie du und ich sind die Akteure. Im dritten Teil aber kommt der König wieder ins Spiel.

Hören wir also zunächst den ersten Teil. Ein König rechnet mit einem seiner Knechte ab. Der schuldet ihm zehntausend Talente. Das ist eine unvorstellbare Summe. Zur Zeit Jesu war das Talent die grösste Geldeinheit. Und zehntausend ist die höchste Zahl, mit der man damals überhaupt rechnen konnte. Zehntausend Talente – eine sagenhafte, eine märchenhaft grosse Schuld. Sie ist so gross, dass der Knecht sie niemals hätte zurückzahlen können. Seine Bitte „Hab Geduld mit mir, und ich werde dir alles zurückzahlen!“ ist lächerlich. Würde der König auf seinem Recht bestehen und die Schuld zurückfordern, es wäre das Ende des Knechts. Selbst wenn man ihn, seine Frau und seine Kinder als Sklaven verkaufte, es reichte bei weitem nicht, die Schuld zu bezahlen.

Doch der König fordert die Schuld nicht zurück. Er hat Erbarmen mit dem Knecht. Er erlässt ihm die Schuld und schenkt ihm obendrein die Freiheit. Es ist wirklich wie im Märchen oder wie in einem Traum. Es ist wie eine Geschichte aus einer andern Welt. Und das Geheimnis dieser Welt, der Schlüssel, der die Türe zu ihr hin öffnet, heisst „Erbarmen“. Der König beharrt nicht auf seinem guten Recht. Er hat Erbarmen.

*

Der zweite Teil der Geschichte beginnt ähnlich wie der erste. Auch hier geht es um eine Abrechnung. Diesmal sind es hundert Denare. Das ist auch nicht wenig. Eine Denar entspricht zur Zeit Jesu etwa einem Tagelohn. Hundert Taglöhne sind für den Gläubiger und den Schuldner ziemlich viel Geld. Sie sind, verglichen mit der absurd grossen Schuld des ersten Knechts, realistisch. So etwas kommt vor.

Man stelle sich vor, der zweite Teil der Geschichte lautete so: „Als aber jener Knecht hinausgegangen war, traf er einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldete. Da ergriff er ihn und sagte: Gib zurück, was du mir schuldest! Da warf sich sein Mitknecht nieder, flehte ihn an und sagte: Hab Geduld mit mir, ich werde es dir zurückzahlen. Da ward dem Knecht weh ums Herz um seinen Mitknecht und er liess ihn frei; auch das Darlehen erliess er ihm.“ So erzählt, würde der zweite Teil dem ersten entsprechen. Doch es geht nicht so weiter, Die Fortsetzung klingt nicht wie im Märchen oder wie aus einer andern Welt. Es ist eine Geschichte aus unserer bekannten Welt, zu der wir gehören.

Lassen wir uns nicht dadurch ablenken, dass dieser Knecht beschrieben wird als Ausbund eines brutalen Grobians, der seinen Kollegen packt und würgt. Dass er ihn Gefängnis werfen lässt, entspricht dem, was damals Brauch war. Zur Zeit Jesu gehörte es zur Tagesordnung, dass man jemand, der seine Schuld nicht zurückzahlen konnte, samt Frau und Kindern als Sklave verkaufte, um wenigstens einen Teil des Darlehens zurück zu bekommen.

Der zweite Teil der Geschichte zeigt uns unsere Welt, wie sie ist. Dass einer seine Schuld zurückzahlen muss, ist völlig normal. Wenn er es nicht tut, wird ihm eine erste und eine zweite Mahnung ins Haus geschickt, und zuletzt wird er betrieben und macht Konkurs. Unsere Welt geriete manches durcheinander, wenn die Leute einfach ihre Schulden nicht zurückzahlten. Das gilt nicht nur im Privat- und Geschäftsleben. Auch unsere Wirtschaftsbeziehungen zu armen Ländern folgen dem Prinzip, dass Schulden samt den Zinsen abzuzahlen sind. Manches Land in der Dritten Welt – und nicht nur dort: Man denke bloss an Griechenland – muss den Banken der westlichen Welt mehr Zins bezahlen als die ganze Entwicklungshilfe, die es erhält. Die Menschen in den armen Ländern sind im Würgegriff der reichen Nationen und ihrer Banken, Und die, die gewürgt werden, sind nicht die Regenten der armen Ländern; es sind die kleinen Leute, die je länger je weniger zum Leben haben und noch ihr letztes Äckerlein verlieren.

Ich denke schon, dass Jesus mit seiner Geschichte auch an materielle Schulden, an Geldschulden denkt. Aber er denkt nicht nur daran. Es geht noch um anderes: um unsere Beziehung zueinander. Es gilt doch als normal, dass jeder zu seinem Recht kommen will. Nachgeben gilt als Schwäche oder Dummheit. Das beginnt im Kindergarten und setzt sich fort im Zusammenleben der Menschen im Kleinen und im Grossen. Man muss sich wehren für das, was einem gehört. Und so bedrückt einer den andern auf feinere oder gröbere Weise. „Bezahle, wenn du etwas schuldig bist!“

Aber nun haben wir den ersten Teil der Geschichte gehört. Wir haben den König kennen gelernt. Es ist ein Bild. Mit ihm ist Gott gemeint, und die Knechte sind wir Menschen. Gott will nicht, dass uns die Last der Schuld niederdrückt. Er will überhaupt keine Knechte; er will Menschen, die frei sind von Schuld und Angst.

Das ist der Anfang einer neuen Welt. Jesus nennt sie „Himmelreich“. Es ist kein Märchen. Es ist eine Welt, in der andere Regeln gelten, eine andere Ordnung des Zusammenlebens. Sie beruht auf Erbarmen und Schonung. Es ist die Ordnung, an die Gott sich selber hält. Jesus zeigt uns den Anfang dieser neuen Welt, in der Menschen aus Gottes Erbarmen leben und deshalb auch miteinander barmherzig, schonungsvoll umgehen, einander nicht festlegen auf ihren Fehlern und Schulden, einander zum Leben und zur Freiheit helfen – und dabei selber frei werden.

Und nun wäre es doch das Selbstverständlichste, dass der freigesprochene Knecht so handelte wie sein König, dass er sich anstecken liesse von dessen königlichem Verhalten; dass er sich an die Ordnung hielte, der er Freiheit und Leben verdankt. Doch stattdessen führt er sich unmöglich auf. Er hat nichts begriffen. Die Zeit der Gnade ist gekommen – und er will es nicht wahrhaben. Er verhält sich unzeitgemäss. Wie er sich seinem Mitknecht gegenüber verhält, ist jetzt unvernünftig und dumm.

*

Und da ist jetzt noch der dritte Teil der Geschichte. Jetzt kommt der König wieder ins Spiel. Er sagt zum Knecht: „Du böser Knecht“. Man kann es auch übersetzen „Du untauglicher Knecht“. „Du Schalksknecht“ hiess es in der alten Lutherbibel, einer, der nichts begriffen hat. Wer die neue Ordnung ignoriert, die aus Gottes Erbarmen in unsere Welt kommt, der ist unvernünftig. Er ist ein Schalk. Er lebt die Freiheit nicht, die ihm geschenkt ist.

Ich denke, dies ist die Meinung des bösen und traurigen Endes unserer Geschichte. „Voller Zorn übergab ihn sein Herr den Folterknechten, bis er ihm die ganze Schuld bezahlt hätte.“ Ich denke nicht, dass man diese Worte so verstehen soll, als habe Gott sein Erbarmen zurückgezogen. Es ist doch die ganz einfache Wahrheit gemeint, dass sich, wer sich nicht anstecken lässt von Gottes Erbarmen und Vergebung, am Leben und an der Freiheit vorbeigeht, sie verspielt. Er bleibt blind und taub für Gottes Welt. Er meint vielleicht, wie klug er sei und wie er zu seinem Recht komme. Und darüber verspielt und verliert er alles. Denn Liebe und Erbarmen kann man nicht einschliessen und für sich allein in Anspruch nehmen. Es ist ein Nehmen und Geben, ein Geschenk und ein Schenken. Anders kannst du sie nicht haben. „Hättest nicht auch du Erbarmen haben müssen mit deinem Mitknecht, so wie ich Erbarmen hatte mit dir?“

*

Liebe Gemeinde! Vom Reich Gottes, vom Himmelreich redet Jesus. Mit dem Himmelreich verhalte es sich wie mit diesem König, der mit seinen Knechten abrechnet. Jesus redet von Himmelreich nicht wie von etwas, dass irgendwann, in einer unbestimmten Zukunft kommen wird. Das Himmelreich, das Jesus verkündet, ist die Zeit und Ordnung Gottes, die schon begonnen hat, schon mitten unter uns ist. Es ist da, wo Menschen sich anstecken lassen von Gottes Erbarmen und die ihnen geschenkte Freiheit mit andern teilen, damit auch sie frei werden von Schuld, Abhängigkeit und Angst. Wir können dabei sein. Jesus hat uns den Schlüssel zum Himmelreich gegeben. Wir können mit ihm das Tor aufschliessen. Aber wir können ihn auch in einer Schublade verschliessen und vergessen. Und dann bleibt das Tor zu und wir bleiben draussen – und sind selber Schalksknechte. Amen.

 



Pfarrer i.R. Klaus Bäumlin
CH-3006 Bern
E-Mail: klaus@baeumlin.ch

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