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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

22. Sonntag nach Trinitatis, 01.11.2015

„Schuldenerlass“
Predigt zu Matthäus 18:21–35, verfasst von Dietz Lange

 

Liebe Gemeinde! Die moralische Entrüstung ist ihm bis heute sicher, diesem Kerl mit den astronomisch hohen Schulden, von dem Jesus in der Parabel erzählt. Sie wird noch verstärkt, wenn man bedenkt, dass dieser „Knecht“ ganz bestimmt kein Sklave war. Denn er hatte nach den Berechnungen eines modernen Kommentators Schulden, die nach heutigem Geldwert in die Milliarden gehen. Da denkt man an griechische Verhältnisse, aber auch an den Schuldenberg der Bundesrepublik, der sich auf über 2 Billionen Euro beläuft und, wie ich im Internet gelesen habe, weiterhin um 1556 Euro pro Sekunde wächst. Jedenfalls war der „Knecht“ in der Parabel keine kleine Nummer in der damaligen Gesellschaft, sondern eher Statthalter einer Provinz des römischen Reiches, der das Steueraufkommen eines ganzen Jahres oder mehr unterschlagen hatte. Und dann will er seinem Kollegen nicht einmal ein Zehntausendstel des Betrages stunden, der ihm gerade erlassen worden ist, sondern er geht ihm sofort an die Gurgel. Da gesellt sich zu unserer Entrüstung noch eine kräftige Portion Sozialneid gegen „die da oben“. Die haben ja offenbar bei ihrem korrupten Treiben nicht das leiseste Schuldbewusstsein, regen wir uns auf, obwohl wir gerade dabei sind, uns angesichts von FIFA-Skandal und VW-Betrug an all die beinharten Dementis zu gewöhnen.

Moralische Entrüstung fühlt sich gut an, besonders weil wir uns so schön auf der sicheren Seite wissen können. Denn selbst diejenigen unter uns, die sich ein Haus gekauft haben, stehen doch jenem Statthalter gegenüber mit sehr überschaubaren Schulden da, und die bezahlen sie brav Monat für Monat ab. Insofern können wir uns durchaus mit den Zuhörern Jesu von damals vergleichen. Die gehörten noch viel weniger als wir zu den Reichen und Schönen der Gesellschaft. Umso irritierender ist der Schluss unseres Predigttextes, wo Jesus all denen mit drastischen Strafen droht, die ihren Mitmenschen nicht vergeben: „So wird mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht jeder seinem Bruder von Herzen vergebt“, nämlich euch der Folter überantworten wie damals den hartherzigen Statthalter. Spätestens hier zeigt sich, dass die Geldschulden lediglich ein Bild sind für das, was wir einander menschlich schuldig bleiben, und noch viel mehr für das, was wir Gott schuldig bleiben. Und wer müsste sich da nicht schuldig fühlen, wer könnte von sich sagen, dass Gottes Liebe und Vergebung sein oder ihr ganzes Leben bestimmt? Wer von uns war nicht schon einmal nachtragend oder hat den bequemen Weg des Kontaktabbruchs gewählt, statt den Konflikt beizulegen und einen neuen modus vivendi zu finden? Da kehrt sich die Entrüstung flugs gegen uns selber!

Aber auf was für ein Gleis sind wir jetzt geraten? Vielleicht ist Ihnen an dieser Stelle genauso unwohl, wie mir bei der Vorbereitung für diese Predigt war. Da war doch gestern der Reformations-Gedenktag. Hat denn Luther nicht ein für alle Mal der mittelalterlichen Angstmacherei vor der Hölle ein Ende bereitet? Zwar haben auch evangelische Eltern noch lange nachher ihren Kindern mit einem Gott gedroht, der all ihre kleinen Missetaten sieht, und ihn so als Schutzschild für ihre eigene pädagogische Hilflosigkeit missbraucht. Aber auch das ist längst vorbei. Wir haben es doch mit dem gnädigen Gott zu tun, der uns annimmt, so wie wir sind. Hat er uns nicht alles vergeben, womit wir allenfalls seinen Zorn verdient hätten? Es herrscht doch eitel Harmonie zwischen Gott und uns. Diese Auffassung spiegelt sich in unserer gesamten Frömmigkeit bis hinein in die Kirchengebete.

Jesus hat nicht vorausgesehen, was wir da aus seiner Botschaft gemacht haben. Trotzdem bietet seine Parabel eine Antwort auf unsere Anfrage. Wie ist das mit der Vergebung? Jemandem vergeben heißt nicht: „Alles nicht so schlimm! Schwamm drüber.“ Unter Menschen kann von Vergebung im Ernst nur da die Rede sein, wo eine tiefgehende Verletzung stattgefunden hat. Wir wissen aus eigener Erfahrung nur zu gut, dass so etwas gar nicht in erster Linie unter wildfremden Menschen passiert, sondern gerade in den engsten persönlichen Beziehungen. Darum ist das ja auch so schmerzhaft, und auch so schwer, aus dem Gefühl des Gekränkt Seins auszubrechen.

Erst recht ist das Verhältnis zu Gott durch eine massive Störung unsererseits belastet. Hier handelt es sich nicht um Moral, sondern um den Grund und Sinn unserer ganzen Existenz. Gott ist natürlich nicht in einem kleinlichen Sinn beleidigt, wie es Menschen sein können. Aber er hat als unser Schöpfer ein Recht darauf, dass wir unser Leben ganz und gar durch ihn bestimmen lassen. Wer von uns wollte behaupten, dass er oder sie das tatsächlich tut, im Gebet, im Nachdenken über die Ausrichtung unseres Lebensplans und auch über unser Ende? Jesus hat in seiner Erzählung von dem brutalen Statthalter nicht umsonst die Höhe seiner Geldschuld in so astronomische Höhen getrieben. Da mussten die Zuhörenden sich sofort sagen: Das kann der doch nie und nimmer zurückzahlen! So geht es uns Gott gegenüber auch: Wir können nie und nimmer wiedergutmachen, was wir ihm schuldig geblieben sind. Wenn er uns vergibt, ist das eine riesige, ganz reale Erleichterung für uns, die alles andere als selbstverständlich ist. In der Erzählung heißt es deshalb auch, der König habe zunächst erwogen, diesen Kerl in die Sklaverei zu verkaufen – unter nichtjüdischen Völkern damals gängige Praxis –, um jedenfalls einen Teil des Schadens auszugleichen. Dann aber die radikale Kehrtwende: Auf die inständige Bitte des Übeltäters hin macht er nicht etwa nur einen halbwegs zumutbaren Schuldenschnitt, sondern erlässt die ganze Schuld. Genauso unvorstellbar großzügig ist Gott uns gegenüber. Um das zu begreifen, müssen wir uns freilich wieder auf den Ernst unseres Verhältnisses zu Gott und damit auch auf unsere Schuld ihm gegenüber zu besinnen, müssen ihn täglich neu um Vergebung bitten. Erst dann geht uns das ganze Gewicht des Evangeliums auf. Erst dann wird uns klar, wie wenig selbstverständlich und wie befreiend die Nachricht für uns ist, das Gott uns vergibt. Das hat Jesus so gesehen, und Martin Luther ganz genauso.

Ganz sicher gibt die ungeheure Großzügigkeit des Königs gegenüber seinem Statthalter den Kern der Lehre Jesu wieder. Die große Befreiung von der Gottesangst zu einer freien, zuversichtlichen Lebenseinstellung steht bei ihm auf alle Fälle im Vordergrund. Aber diese Freiheit bedeutet nicht, dass wir von nun an einfach nach unserer eigenen Mütze leben könnten, ohne Rücksicht auf die Folgen. Darum kommt Jesus am Schluss so nachdrücklich auf das Strafgericht zu sprechen. Das ist eben nicht einfach erledigt, sondern bildet nach wie vor den ernsten Hintergrund unserer Zuversicht, erlöst zu sein. Wir können aus der Gnade Gottes auch wieder herausfallen. Es gibt durchaus Biographien, die so etwas nahelegen. Gott hat unsere Schuld vergeben, nicht vergessen. Und genauso sollen wir unseren Mitmenschen die Schuld gegen uns vergeben, die wir auch nicht vergessen können und die uns daher das Vergeben so schwer macht. Wer vergibt, geht immer ein Risiko ein; das kann man sogar von Gott sagen. Erst in dieser Spannung aber macht uns Vergebung wirklich glücklich.

Zum Schluss noch die Frage, ob dies alles nur im Verhältnis zwischen einzelnen Individuen gilt. In gesellschaftlichen und politischen Fragen scheint für Vergebung keine Verwendung zu sein. Da ist insofern etwas dran, als die kollektiven Interessen einer großen Zahl von Menschen, mit denen wir es da zu tun bekommen, sich nicht so suspendieren lassen, wie das für meine individuellen Interessen möglich ist. Kein Regierungschef, kein Vorsitzender einer großen Organisation kann freihändig über die Interessen vieler Menschen verfügen. Trotzdem ist die strikte Unterscheidung zwischen Persönlichem und Politischem so nicht richtig. Ein Beispiel ist die Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen oder Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Die wurde zwar offiziell nicht christlich begründet. Das wäre in unserer säkularen Welt gar nicht zu vermitteln gewesen. Trotzdem hat zu dem Verzicht auf die deutschen Ostgrenzen von 1937 christlicher Einfluss mitgewirkt: wie ein Sauerteig, mit Jesus zu reden. Ähnliches wird heute für Griechenland gelten müssen. Denn anders als mit einem Schuldenschnitt werden die Folgen jahrzehntelanger Vetternwirtschaft dort nach der begründeten Auffassung vieler (meist nichtdeutscher) Ökonomen nicht zu beheben sein. Dass im Fall einer solchen politischen Entscheidung Bedingungen und Absicherungen nötig sind, versteht sich von selbst.

Damit sind wir freilich über die Grenzen der Jesuserzählung deutlich hinausgegangen. Denn Gott vergibt uns bedingungslos und ohne Absicherung. Genauso bedingungslos soll unsere Vergebung im persönlichen Bereich sein. Die Seele aller Vergebung ist Vertrauen: Vertrauen, dass Gott es ernst meint, Vertrauen, dass der andere Mensch es ernst meint. Aber eine Spur von solchem Vertrauen ist auch in den großen sozialen Fragen vonnöten. Es ersetzt nicht das politische Kalkül. Aber Vertrauen ist auch hier in festgefahrenen Situationen unbedingt erforderlich, damit man den ersten Schritt zu einer menschlichen Lösung gehen kann. Auch hier gilt: Das Risiko, das Gott mit uns durch seine Vergebung eingeht, hilft uns, auch unsererseits solche Risiken zu tragen.

Amen.

 



Prof. Dr. Dietz Lange
Universitätsgottesdienst Göttingen
E-Mail: dietzclange@online.de

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