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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 15.11.2015

Predigt zu Matthäus 25:31-46, verfasst von Hellmut Mönnich

 

Volkstrauertag ist heute, liebe Gemeinde. - Die ältere Generation verbindet mit diesem Tag oft Schreckliches und Trauriges, das nicht vergessen werden kann. Ein Schüler fragte: „Volkstrauertag? Ich weiß nicht wirklich, was das für ein Tag ist.“ – Mir steht ein Erlebnis vor Augen: Ich hatte eine alte Frau besucht. Um zum Geburtstag zu gratulieren. Im Wohnzimmer auf dem Klavier sah ich gerahmte Fotographien. An einem schon blass gewordenen, offenbar alten Foto blieb mein Blick hängen: Ein lachendes Gesicht. Das Gesicht eines jungen Soldaten in Uniform, in der Uniform der Wehrmacht.- Die alte Frau war meinem Blick gefolgt. „Das ist mein Mann – das war mein Mann“ korrigierte sie sich, „kurz nach unserer Hochzeit vermisst. Ich habe keine Kinder. Ich habe nicht wieder geheiratet.“

Der junge Soldat: eines von nicht wirklich vorstellbar vielen Opfern des Zweiten Weltkrieges. Und zu den Opfern gehören genau genommen auch die Angehörigen der Opfer - wurde mir damals klar. Und die große Zahl der Opfer - sie ist nicht nur nicht vorstellbar, sie berührt einen auch nicht wirklich. Das tut wohl nur das einzelne Opfer und das damit verbundene Schicksal. Es gab ja so schrecklich viele Tote im Krieg und durch die Verbrechen damals. Millionen. Und nicht nur Deutsche waren Opfer: gefallene, exekutierte, unter Trümmern begrabene, mit perfider Organisation durch Gas ermordete Juden und andere, verhungerte und wie auch immer zu Tode gekommene Menschen. In Deutschland, in Polen, in Griechenland, in Italien und in anderen besetzten Ländern und besonders viele in der damaligen Sowjetunion. Deutschland, Nazideutschland hat damals den Krieg gewollt und begonnen. Und die Welt geriet aus den Fugen. -

Macht es da wirklich Sinn, dass wir uns heute mit einem 2000 Jahre alten Text beschäftigen, mit dem eben vorgelesenen Text aus dem Matthäusevangelium? Also mit der Vision eines Gerichts über alle Welt am Ende der Geschichte und mit den erstaunlichen Urteilsbegründungen dieses Gerichts? Diese Frage ist zu antworten. -

Finden Sie nicht auch, dass die Urteilsbegründungen erstaunlich sind, liebe Gemeinde? „Ihr habt nicht …“; „Ihr habt nicht …“; „Ihr habt nicht …“; - „Ihr habt mir - nicht zu essen gegeben; ihr habt mir - nicht zu trinken gegeben; ihr habt - mich nicht aufgenommen“ und wie die Beispiele der Urteilsbegründungen alle lauten? Beunruhigend wirken die Anklagen auf mich. Auf Sie auch? Und der Richter spricht, als hätte man ihm nicht geholfen.

Wir missverstehen den Aussagewillen dieser Vision, wenn wir jetzt spekulieren wollten über dieses Weltgericht. - Und wenn der eine oder die andere bei sich sagt: „Das ist aber doch Dichtung. Religiöse Dichtung, ein Mythos, der in einer Phantasie ein - ohne Zweifel - wünschenswertes Zusammenleben aller Menschen schildert“ und damit die Schilderung abtut, dann geht auch das am Aussagewillen der Vision vorbei.

Ich verstehe den Text so, dass die Urteile auch uns heute etwas angehen. Auch mich. Allerdings wirken die Urteilsbegründungen auf mich nicht nur überraschend, sondern auch fast beklemmend, weil ich mich frage: wie verhalte denn ich mich?

Damals, als der Verfasser des Matthäus-Evangeliums diese Geschichte - die er offenbar in Erzählungen über Jesus gefunden hatte - in seine Evangeliums-Erzählung aufnahm, waren seit dem Kreuzigungstod Jesu und den Erfahrungen seiner Auferstehung fünfzig und mehr Jahre vergangen. In dieser Zeit hatte sich die Zusammensetzung der Christen-Gemeinden gegenüber den Anfängen deutlich verändert: Viele Gemeinden setzten sich jetzt aus Menschen zusammen, die früher Anhänger anderer Religionen gewesen waren. Und wahrscheinlich gab es nun Gemeindeglieder, die fragten: „Wie sollen wir nun als Christen leben – im Unterschied zu früher? Und im Unterschied zu den Menschen, die nicht Christen sind, mit denen wir doch zusammen leben? Wie sollen wir leben als Christen? Wie sollen wir handeln als Christen?

Wenn wir uns heute im Jahr 2015 als Christen und Christinnen von den Urteilen in der Gerichts-Vision ansprechen lassen, dann müssen wir die Urteils-Beispiele Jesu für unsere Zeit und für unser Leben und Handeln konkretisieren. Damals waren die Urteils-Beispiele ja schon Konkretisierungen des viel älteren Gebotes >Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft (Dtn 6:5) und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten, wie dich selbst<. (Lev 19:18). Dieses Gebot steht schon im Alten, im Ersten Testament. Jesus hat es als Doppelgebot der Liebe aufgegriffen und aktualisiert. „Lieben“ – das sagt sich allerdings leicht - wer wüsste das nicht? Verständlicher wird die gemeinte Tätigkeit „Lieben“, wenn man andere Begriffe als Ausdrucksformen für lieben benennt wie: „sich-hinein-versetzen“, „einfühlsam sein“, „gerecht sein“, „verantwortlich handeln“, „nicht zuerst oder allein an sich denken“, „tolerant sein“, „hilfsbereit sein“. Vielleicht muss heute dringender denn je festgestellt werden: Die von Jesus gemeinte Liebe hinter den Beispielen der Gerichtsschilderung ist die einzige Macht, die unsere Welt zum Guten hin verändern und bewahren kann.

Einen Augenblick lang frage ich mich: wie würde der göttliche Richter heute wohl zu uns sprechen? Vielleicht so: >Wie ihr Christenmenschen heute mit Menschen-in-Not umgeht: beispielsweise mit den Millionen Hungernden in der Welt; oder gegenwärtig mit den Kriegsflüchtlingen aus den Kriegsregionen im Nahen Osten, in Afghanistan und in Afrika; oder auch wie ihr mit den Ursachen der kriegerischen Auseinandersetzungen umgeht und den Regimen, die dahinter stehen, und mit Euren Waffenlieferungen – jedes Mal trefft Ihr da auf mich! Denn in den Not- und den Leidtragenden begegnet ihr mir. Für mich sind alle Menschen in Not meine Brüder und meine Schwestern. Und alle Menschen, auch Ihr, müsst Euch einmal vor mir verantworten!<

Auf mich wirkt das beunruhigend - um nicht zu sagen: beklemmend, je länger ich mir das an den Beispielen vorzustellen versuche und dabei z.B. an Äußerungen voller Hass von Demonstranten denke, die sich gegen Flüchtlinge wenden. Mir wird auch die Aufgabe z.B. Hungernden in unserer global zusammengerückten Welt zu helfen, klarer, wenn ich mir deutlich mache:

Ungefähr jeder Neunte auf der Welt lebende Mensch hat nicht genug zu essen, kurz gesagt: er wird nicht satt. Und gleichzeitig werden ca. 35% der Getreideernte auf der Welt an Schlachtvieh verfüttert, damit das Fleisch in den reichen Ländern der Welt gegessen werden kann. Z.B. in Deutschland.

Im letzten Jahr wurden in Deutschland rund 14 Millionen Tonnen Lebensmittel vernichtet – das sind 14 Millionen mal 20 Zentner! Und von diesen 14 Millionen Tonnen warfen die Haushalte in Deutschland fast die Hälfte in den Müll – fast 7 Millionen Tonnen.

Stündlich sterben weltweit 600 Kinder am Hunger. D.h.: wenn unser Gottesdienst nachher beendet ist, sind wieder rund 600 Kinder verhungert! Eine Zeitung nannte diese Zahlen unter der Überschrift: EIN SENSIBLES THEMA.

Sind das nicht schreckliche Zahlen? Auch diese Zahlen berühren einen in ihrer Abstraktheit nicht wirklich. Tatsächlich werden wir wohl erst dann berührt, wenn wir ganz konkret ein einzelnes Opfer sehen: Ein kleines verhungertes Baby im Arm der Mutter auf einem Foto aus Afrika, das ich neulich sah. Oder das Foto eines wie schlafend am Strand liegenden Kindes, das auf der Flucht ins Mittelmeer stürzte und ertrunken an den Strand gespült worden war. Das Bild ging durch die Medien. Haben Sie das Foto auch gesehen? Unsere Welt ist schrecklich!

Wie können wir in unserer komplexen Welt mit den Fotos oder Filmen, die uns täglich auf den Bildschirm gesendet werden, leben und so handeln, wie Gott es von uns will? Ich verstehe die Urteile in der Gerichtsskizze als Beispiele, die auffordern, nachzudenken, wach zu sein und verantwortlich zu handeln, als Beispiele, die heute uns hier auffordern, zu denken und tätig zu werden - entsprechend unseren Möglichkeiten und Kräften. Sind wir willens, sind wir bereit, unser Leben und Handeln zu überprüfen und uns zu orientieren am Willen Gottes für unsere und seine Welt? Zu orientieren an Gottes Willen, den Jesus mit der Gerichtsschilderung seinen Hörern damals auslegte? Jesus nahm Partei für Hilfsbedürftige, für Übersehene, für Menschen in akuter Not und solidarisierte sich mit ihnen. Genau dieses Verhalten kennzeichnete Jesus aus Nazareth! Hier finden wir Christinnen und Christen Orientierung, hier können wir Orientierung anbieten in einer Zeit, in der nicht wenige Menschen Orientierung suchen!

Nein, Wir müssen jetzt keine Resolution verfassen. Aber wir müssen uns unter anderem deutlich machen, dass das Unbeachtet-Lassen, dass die Ablehnung der Gebote unseres Gottes im letzten Jahrhundert beigetragen hat zum schrecklichen Zweiten Weltkrieg mit allen seinen Folgen bis heute. Es macht doch Sinn, sich am Volkstrauertag mit der alten Gerichtsschilderung im Matthäusevangelium zu befassen!

Und es macht Sinn, nein, es ist notwendig, dass wir Christen und Christinnen uns einmischen in unserer Welt, in der es oft genug in aller Härte und Rücksichtslosigkeit nur um Geld geht und um Macht. In der die Menschen und was ihnen gut tut und was nötig ist, nicht eigentlich zählen und allenfalls in Sonntagsreden und auf Hochglanzpapier bedacht werden. Steht nicht schon in der Bergpredigt: „Niemand kann zwei Herren dienen … Ihr könnt nicht Gott und dem Mammon dienen“? (Mt 6:24)

Nebenbei gesagt: Ist Ihnen auch aufgefallen, dass der Richter in unserem Text offenbar gar nicht geprüft hat, ob die zu Beurteilenden „richtig“ glauben – „richtig“ in Bezug auf den überlieferten Glauben - wir würden heute wohl sagen „dogmatisch richtig“? Er hat nur geprüft, ob sie sich am Liebesgebot orientiert und entsprechend gehandelt haben. -

Aber sicherlich haben Sie gemerkt, dass wir uns noch gar nicht mit der ersten Hälfte der Urteilsbegründungen in der Gerichtsvision beschäftigt haben. Es gibt ja nicht nur die Verurteilten. Vielmehr werden ja als erste diejenigen angesprochen, die dem Liebesgebot entsprechend und ganz selbstverständlich gehandelt haben.

Beispiele dafür, also für derartiges Handeln, gibt es auch heute: Ehrenamtliche, die im Hospiz Sterbenskranke begleiten. Eltern, die ein autistisch stark behindertes Kind aufziehen und das längst erwachsenen gewordene oft bis an den Rand ihrer Kräfte versorgen. Die Ärztin, die in der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ in Krisengebieten selbst in lebensgefährlichen Situationen arbeitet. Die Frau, die sich ehrenamtlich um Erwachsene mit Down-Syndrom kümmert. – Wer genau hinsieht, weiß: Es gibt nicht wenige, die unbemerkt einfühlsam und tatkräftig helfen.-

Wer wüsste nicht: Wir dürfen als Christen und Christinnen eben nicht nur an uns selber denken und die Hände einfach in den Schoß legen. Sondern es gilt vielmehr zu versuchen, von Gott und von Jesus Christus her zu leben und zu handeln – auch wenn viele Menschen um uns herum ihr Leben am „Mainstream“ ausrichten. Es muss für uns Christenmenschen kennzeichnend sein, auf Jesus Christus und Gott zu hören. Die Schriften des Ersten, des Alten Testaments und nicht zuletzt des Neuen Testaments helfen uns, gegenwärtige Aufgaben entsprechend den biblischen Weisungen zu konkretisieren und wirklich zu handeln. Anders gesagt: „Ihr habt …“, „ Ihr habt nicht …“: Was heißt das in unserer postmodernen Gegenwart? Was heißt das jetzt für unser Handeln? Mir gehen die Urteilsbegründungen und die dahinter liegenden Fragen nicht aus dem Sinn. Wie geht es Ihnen?

Amen

 

 



P.i.R Hellmut Mönnich
Göttingen
E-Mail: moennich.goettingen@t-online.de

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