Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 15.11.2015

Unser Tun und Lassen
Predigt zu Matthäus 25:31-46, verfasst von Ulrike Weber

 

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.

Liebe Gemeinde,
am Ende des Kirchenjahres werden wir daran erinnert, dass unser Tun und Lassen Konsequenzen hat. Nichts bleibt verborgen, es wird alles offenbar werden, und wie werden wir dann dastehen?
Die Frage nach dem Tun und Lassen beschäftigt mich jeden Tag. Als Pfarrerin der Evangelischen Kirche deutscher Sprache in Nord- und Mittelgriechenland bin ich für eine große diakonische Arbeit zuständig. Wir haben hier nicht nur eine katastrophale wirtschaftliche Lage, fehlende soziale Grundsicherung und Abwanderung der jungen Hoffnungs-Elite – täglich kommen weiterhin tausende und abertausende von Flüchtlingen über das Meer in dieses geplagte Land auf der Suche nach Chancen und Auskommen.
In diese Situation hinein hören wir heute das Evangelium.
Ich lese aus Matthäus 25:
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch:
Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.

Wenn wir das hören, liebe Gemeinde, müssen wir als erstes betroffen schweigen. – Die scharfe Trennung zwischen Segen und Fluch, ewiges Leben und ewige Strafe, Gemeinschaft mit Gott und die Bekanntschaft mit dem Teufel – bleiben als Schock am Ende der Erzählung. Natürlich ist das Leben nicht in schwarz und weiß zu denken. Die Erfahrung lehrt uns, es gibt Gut und Böse, und beides steckt in uns. Wer kann denn von sich sagen, dass er immer richtig gehandelt hat? Wer kann sich denn schon ohne schlechtes Gewissen aus dieser Geschichte herausschleichen? Wer kann diese Worte als Lehrerzählung Jesu abtun und einfach weiterblättern?

Es ist eine Gerichtsszene. Der König, ein Prädikatstitel Gottes, urteilt am Ende der Zeit die Völker, die vor ihm stehen. Er schafft mit seinem Urteil Klarheit und Eindeutigkeit. Alle Völker haben die Hungernden, Dürstenden, Fremden, Nackten, Kranken und Gefangenen gesehen. Der König gibt den Maßstab bekannt, an dem gemessen wird: Der Schutz der Bedürftigen. Und nun spaltet sich die Gruppe überraschend: die einen haben sich derer angenommen, die bedürftig waren und die anderen eben nicht. Die einen werden belohnt und die anderen eben nicht. Ja, der König geht sogar so weit, dass er sich mit den Bedürftigen selber identifiziert: im Notleidenden begegnet ihr nicht nur euren Brüdern und Schwestern, ihr begegnet mir!

Ich höre den Predigttext und sehe die Menschen hier in Griechenland. Der wirtschaftliche Bankrott des Landes zeigt sich überall. In den letzten Jahren sind Armenspeisungen entstanden; die griechisch-orthodoxe Kirche hier in Thessaloniki hat vor 5 Jahren mit 1.300 Portionen täglich angefangen. Inzwischen sind sie bei 7.483 täglich angekommen. 2000 freiwillige Helfer und Helferinnen kochen und verteilen. Die Griechisch-evangelische Kirche versorgt landesweit unzählige Essen an Bedürftige. Mit unserem Mittagstisch, den wir neu eingerichtet haben, erreichen wir im Durchschnitt 15 bis 20 Personen einmal in der Woche. Das ist nicht viel, aber es ist das, was wir schaffen.
Die tausenden und zigtausenden durchziehenden Flüchtlinge, die in Athen und Kavala mit Schiffen landen und auf unterschiedlichen Wegen an die Mazedonische Grenze kommen, brauchten im Sommer bei 38 Grad im Schatten dringend Wasser, um nicht zu verdursten. Mittlerweile ist es auch hier kühler geworden. Jetzt werden dringend Regenhüllen, Schuhe und Jacken benötigt. Kleiderstuben und Flohmärkte haben Hochkonjunktur. Dort bekommt man gut erhaltene Kleidungsstücke für wenig oder sogar ohne Geld. Bei uns in der Gemeinde sehe ich zum Flohmarkt junge Leute, Studenten, aber auch Rentner und ganze Familien, die sich einkleiden und für den Winter rüsten: die Hose für 1 Euro, das T-Shirt für 50 Cent. Und mit dem eingenommenen Geld können wir wieder an anderer Stelle helfen.
Die medizinische Versorgung hier in Griechenland wird immer schwieriger. Das Geld fehlt an allen Ecken und Ende. In städtischen Krankenhäusern müssen Patienten die Bettwäsche und Verbandszeug selber mitbringen. Wir helfen mit Blutkonserven, indem wir unsere Gemeindeglieder zur Blutspende aufrufen. Unsere Hospizgruppen besuchen die Kranken, Alten und Einsamen, und könnten noch mehr freiwillige Helfer gebrauchen. Für das Gefängnis am Rande von Thessaloniki sammeln wir Wolldecken und Duschgel. Regelmäßig zum Winter erreicht uns der Hilferuf vor dort: die Gefangenen frieren! Der Staat hat keine Ressourcen mehr und die Familien der Gefangenen haben selber kaum zum Leben.
Und überall sieht man Menschen helfen. Nach Idomeni an der Grenze nach FYROM kommen private Pkws angefahren mit Lebensmitteln und Bekleidung für die Flüchtlinge und Spielzeug für die Kinder. Menschen, die selber nicht viel haben, nehmen, was sie entbehren können, und geben es weiter. Die Wolldecken für die Gefangenen sind nicht neu. Manche haben schon ein Loch und die Naht geht auf, aber sie wärmen noch.

Der Predigttext ist bekannt als die „7 Werke der Barmherzigkeit“. Zu den sechs hier aufgezählten Werken wurde später noch ein siebtes aus dem Buch Tobit ergänzt: die Tote begraben, d.h. im weitesten Sinn die Pflege und Fürsorge für unsere Gräber. Diese Werke der Barmherzigkeit sollen getan werden ohne Berechnung, ohne Absicht, ohne Gegenleistung, ohne die Aussicht auf Belohnung. Denn sie gilt ja gerade denen, von denen keine Belohnung oder Wiedergutmachung zu erwarten ist: den Kranken, Schwachen, Hilflosen, Fremden, ja, sogar den Toten.

Was bleibt uns nun?
Ein Mensch braucht den anderen Menschen.
Ich bin mir selbst nicht genug. Ich brauche den anderen, um ich zu sein. Ich brauche das Du, um ein Ich zu sein.

Im Anderen kommt mir Gott entgegen.
Die Ebenbildlichkeit Gottes spiegelt sich in allen Menschen wieder; in dem Fremden, dem Hungernden, dem Frierenden, Mann und Frau und Kind. Gott lebt inkognito unter uns. Von uns nicht erkannt, von uns verkannt in der notleidenden Schwester, im notleidenden Bruder.
Gott begegnet uns nicht nur im Besondern – das tut er auch -, er begegnet uns vor allen Dingen mitten in der Welt. Er begegnet uns nicht als höheres Wesen, als absolutes Sein, sondern als Mensch in Jesus von Nazareth. Gott begegnet uns nicht in Machtentfaltung und Selbstbehauptung, sondern als Mensch, der für andere da ist. Er begegnet uns im Mitmenschen. Die Transzendenz ist nicht die unerreichbare Ferne, sondern der Nächste.

Ein Mensch ist dem anderen Menschen eine Aufgabe.
Die hier genannten barmherzigen Werke können endlos ergänzt werden: Wunden verbinden, Hände halten, Wege mitgehen, zuhören, Anteil nehmen, für Frieden einstehen, Gerechtigkeit suchen, voneinander lernen …
Aus welcher Motivation heraus spielt offensichtlich keine Rolle, - das sagt der Predigttext. Ob das Gute getan wird aus Nächstenliebe oder Humanität – es genügt, dass die Not gesehen wird und die Hilfe kommt. Wir sind nicht die Richter.

Und es bleibt eine Frage:
Angesichts der Lage, in der wir uns heute befinden, frage ich mich, ob es ein „genug“ gibt? Wie weit kann das Helfen gehen? Wo fängt die Selbstaufgabe an? Wir sind ja nicht mit einem Bettler konfrontiert oder mit einem Hungrigen, einem Flüchtling. Die Straßen sind voll, die Städte sind gekennzeichnet von Mangel und Not, die Hot-Spots an den Grenzübergängen fassen tausende von Flüchtlingen täglich.
„Wir können nachts nicht mehr schlafen“, erzählen mir die Ehrenamtlichen in der Flüchtlings- und Sozialarbeit, die angesichts der Situation ihre Hilflosigkeit spüren. Wir haben nicht genügend finanzielle Mittel, um so helfen zu können, wie es notwendig wäre und wie wir es gerne tun würden. Tun wir also genug? Werden wir unseren eigenen Ansprüchen gerecht? Können wir so vor Gott bestehen?

Der Evangelist Matthäus hat diesen Predigttext als letzte Rede vor die Leidens- und Sterbensgeschichte Jesu gestellt. Jesus ist auf dem Weg zum Kreuz. Das allerletzte Wort über jeden Menschen wird erst am Kreuz gesprochen, durch den gekreuzigten Menschensohn. Das ist für uns alle mitzuhören, wenn vom Weltgericht die Rede ist, denn Richter ist der für uns Gerichtete selbst. Und er richtet mit Barmherzigkeit. Das ist die Gewissheit, die wir haben.
Unser Tun und Lassen können wir nur in seine Hände legen.
Alles andere ist Gnade.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.



Pfarrerin Ulrike Weber
Thessaloniki / Sykies / Griechenland
E-Mail: pfr.u.weber@googlemail.com

(zurück zum Seitenanfang)