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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 15.11.2015

Mimi oder das große Strafgericht
Predigt zu Matthäus 25:31-46, verfasst von Christian Anders Winter

 

Gnade sei mit euch von dem, der da war und der da ist und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde,

vom großen Endgericht ist heute im vorgegebenen Predigttext die Rede, und damit wird etwas angesprochen, was für viele Menschen in weite Ferne gerückt zu sein scheint. Aber gerade zum Volkstrauertag liegt es nahe, auf dieses Thema zu blicken. Für viele Menschen war das Kriegsende 1918, das Kriegsende 1945 dabei schon etwas, was einem Strafgericht, einem Scherbengericht nahekam Und hatte man nicht auch verdient, was mit einem geschah, waren die Niederlagen nicht auch so etwas wie Gottes Strafgericht für all die schrecken, die in Deutschland und von Deutschland ausgehend geschehen waren – so legen es jedenfalls viele Stimmen der damaligen Jahre nahe. Heute würde sich wohl kaum noch jemand finden, der sich so eine Deutung der Geschichte zu eigen machen, aber so eine Deutung ist – auch wenn wir in die Bibel schauen – für Menschen früher nicht abwegig gewesen.

Und doch: das, wovon Jesus in dem Gleichnis vom großen Endgericht spricht, ist und bleibt auch für uns heute noch relevant. Es geht nämlich um nicht mehr und nicht weniger als um unser Tun und Unterlassen, um die Frage also: was hast Du Mensch getan, um anderen in Not zu helfen oder eben auch was hast Du unterlassen. Daran – so Jesus – entscheidet sich die Frage von Himmel oder Hölle.

Lange Zeit haben Menschen, haben Christen fest daran geglaubt, daß sich eine Antwort auf die Frage bereits zu Lebzeiten am Schicksal eines Menschen ablesen ließe. Die, die gottgefällig lebten, denen erging es gut, und diejenigen, die Sünden auf sich geladen hatten, die mußten bereits zu Lebzeiten ihren Preis dafür bezahlen. Aber ist das wirklich so – oder maßen wir uns mit solchem Denken ein Urteil an, das uns schlichtweg nicht zukommt? Ein Beispiel dazu: in meiner Kindheit gehörte sie zum Straßenbild in Preetz, der Stadt, in der ich aufgewachsen bin – eine alte Frau, die scheinbar rastlos mit einem Einkaufswagen voller Plastiktüten und Kleidung, ihrer ganzen Habe, unterwegs war. Dreckig war sie, auch im Sommer immer in einen zerlumpten Wintermantel gekleidet, Wollfingerlinge an den Händen. Ständig murmelte sie irgendetwas vor sich hin, kam irgendwie nie so richtig zur Ruhe. Für uns Kinder hieß sie nur „Mimi“, ob das ihr richtiger Name war – ich weiß es nicht. Immer wenn sie uns kommen sah, dann wurde sie wütend, konnte auch schon einmal mit einem Stock, der auch seinen Platz in ihrem Wagen hatte, auf uns losgehen. Ganz „Mutige“ unter uns machten sich einen Spaß daraus, sie von ihrem Wagen wegzulocken und den dann umzukippen… Wer Mimi war, weswegen sie so war, wie sie war – damals als Kind habe ich es nicht verstanden. Später, als Jugendlicher, hörte ich dann von ihrer Geschichte. Sie hatte die Bombennächte in Kiel miterlebt, war selber in den Trümmern ihres Hauses verschüttet worden, hatte alles bis auf das, was sie tragen konnte, verloren. Für uns als Kinder war sie damals einfach nur unheimlich und zugleich sicher auch ein Stück lächerlich; warum sie so geworden war, wie sie war, wußten wir nicht und hätten es wohl auch nicht verstanden. Wenn tatsächlich dieses Denken zuträfe: ein gutes Leben entspricht einem guten Menschen, ein schlechtes Leben hingegen ist die Strafe für einen Sünder, dann wäre Mimi wohl auch in diese zweite Gruppe einzuordnen. Aber das ist – wie wir heute wissen – natürlich Unsinn; der Tun-Ergehens-Zusammenhang, die Auswirkungen des eigenen Standes vor Gott auf das eigene Leben sind vielleicht eine scheinbar einfache, aber dadurch trotzdem noch nicht richtige Erklärung…

Viele Menschen wie Mimi wird es gegeben haben, gute Menschen und sicherlich auch böse Menschen, manche von ihnen haben die traumatischen Erlebnisse des Krieges besser verkraften können, andere mögen ein Leben lang darunter gelitten haben, die einen im Verborgenen, die anderen vielleicht auch offen. Für jemanden wie mich, der nicht erlebt hat, was sie erleben mußten, war und ist es bis heute ganz schwer, zu verstehen, was sie wirklich belastet hat oder belastet…

Wir wissen heute, daß diese Menschen traumatisiert wurden, daß sie bis heute unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung litten. Jeder von uns hat eine Grenze für das, was seine Seele, was seine Psyche verarbeiten kann; bei jedem von uns mag diese Grenze ganz unterschiedlich sein. Wird diese Grenze überschritten, kann sich daraus eine psychische Erkrankung entwickeln, die ein Leben dauerhaft verändern kann. Wir kennen das von Rettungskräften, Feuerwehrleuten, Polizisten, wir kennen das von Soldaten und natürlich auch von Zivilisten, die im Krieg oder auf der Flucht Dinge mit ansehen mußten, die weit über alles Erträgliche hinausgingen. Die Feldjäger, die damals während des Kossovokrieges Massengräber vorfanden und die Leichen geborgen haben, der Busfahrer, der in Kabul den Anschlag auf seinen Bus mit Soldaten auf dem Rückweg zum Flughafen und zum Rückflug nach Deutschland überlebte, die Menschen, die vor Krieg und Verfolgung aus ihrer Heimat in Syrien, dem Irak, aus Afghanistan geflohen sind, sie alle haben etwas erlebt, was sie ihr Leben lang begleiten wird. Volkstrauertag, das ist eben auch ein Tag, an dem wir uns dessen immer wieder bewußt werden sollen, wieviel an Schrecklichem und Grauenhaften auch heute noch in unserer Welt geschieht. Wir dürfen unsere Augen nicht davor verschließen, dürfen uns nicht damit zufriedengeben, den heutigen Tag nur als eine Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 101 Jahren, das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren zu reduzieren. Immer wieder sind wir gefordert, gegen das Unrecht in der Welt Stellung zu beziehen und zugleich denen, die unter den Folgen und Spätfolgen schrecklicher Erlebnisse leiden, mit Mitgefühl und der Bereitschaft zu helfen zu begegnen. Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan – so sagt Jesus in unserem Predigttext zu denen zu seiner Linken, zu denen, deren Schicksal nicht der Himmel, sondern vielmehr die Hölle ist. Wir leben auch im Deutschland des Jahres 2015 nicht auf einer Insel der Glückseeligen, das war nie so und das wird auch nie so sein, und darum haben wir auch immer Verantwortung für unsere Mitmenschen zu tragen, für die hier vor Ort ebenso wie für die Menschen in den Krisengebieten dieser Welt. „Nie wieder Krieg“ – das ist leider immer noch ein Wunschtraum, aber es ist zugleich auch ein Aufruf an uns, Verantwortung zu zeigen und zu übernehmen. Nicht immer werden sich Konflikte friedlich lösen lassen, so sehr wir als Christen uns das vielleicht auch wünschen mögen; umso wichtiger ist es, sich immer wieder deutlich zu machen, daß der Einsatz von Gewalt wirklich nur das allerletzte Mittel zur Lösung sein kann (und dann manchmal auch tatsächlich geboten sein mag). „Liebe Deinen Nächsten“ – das kann eben auch im Einzelfall bedeuten, daß ich ihm in der Not und Bedrohung beistehen und ihn schützen muß. Wichtig ist aber, sich über den Grund für so eine Intervention im Vornherein klar zu sein, die Motive, die Begründungen dafür ehrlich und offen zu bedenken und vor allem auch die mittel- und langfristigen Auswirkungen eines solchen Tuns (oder Unterlassens!) in die Überlegungen mit einzubeziehen. Denn der Preis wird immer in Menschenleben und Menschenleid entrichtet, egal, ob ich handele oder mich heraushalte…

Volkstrauertag, das ist Gedenken an die Opfer vergangener Kriege, aber zugleich auch eine Mahnung an uns alle, unsere Verantwortung für unsere Mitmenschen im Blick zu behalten. Wir können uns nicht bequem zurücklehnen und „die anderen“ machen lassen, aber wir dürfen uns ebenso wenig blind in etwas hineinstürzen, ohne über die Folgen nachzudenken. Hierzu sind die Toten der Weltkriege, die Traumatisierten der jetzigen Auseinandersetzungen bleibende Mahnung. Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. … Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan – diese beiden Sätze Jesu sollen auch uns immer wieder zum Nachdenken bewegen. Gebe Gott, daß wir verantwortungsvoll und überlegt handeln – aus Nächstenliebe. Denn auch wir werden am Tag des Jüngsten Gerichtes Farbe bekennen müssen, Rechenschaft ablegen müssen über das, was wir getan haben – und über das, was wir unterlassen haben. Gebe Gott, daß wir die richtigen Entscheidungen getroffen haben. Amen.

 



Pastor Dr. Christian Anders Winter
25899 Niebüll
E-Mail: christian.winter@disanet.de

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