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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 15.11.2015

Jesu Maßstab
Predigt zu Matthäus 25:31-46, verfasst von Eberhard Busch

 

Unsere irdische Lebenszeit ist also auch eine Wartezeit. Und was kommt danach? Ein großer Abbruch? Jawohl. „Alles vergehet“, wie es im Lied heißt. Auch wir mit allem, was uns erfüllt, werden zurücktreten. Auch die, die so schrecklich fest im Sattel sitzen, kommen einmal herunter von ihrem hohen Ross. Auch die, an denen unser Herz hängt, müssen gehen. Aber mitten im Abbruch ein noch größerer Anbruch. „Wenn nämlich der Menschensohn kommen wird, dann wird er sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit.“ Er selbst hat uns geheißen, uns darauf einzustellen. Er kommt, – nicht, um einmal wieder zu gehen. Er kommt, um zu bleiben.

Das aber ist seine Herrlichkeit, die dabei aufgedeckt wird: „Es wird regiert“, wie es Christoph Blumhardt gesagt hat. Der Platz an der höchsten Stelle ist nicht leer, wie wir zuweilen befürchten. Dort sitzt auch kein Scharlatan. Bei Ihm ist es in Ordnung, dass „Er sitzt im Regimente und führet alles wohl“. Wenn das sichtbar wird, dann ist es vorbei mit unseren Kirchentümern. „Dann werden vor ihm alle Völker versammelt werden.“ Kein Weltregent wird sich dem entziehen können und kein sonst Vergessener wird vergessen sein. Dabei wird seine Herrlichkeit umso herrlicher sein, als seine Herrschaft die Herrschaft seines Erbarmens ist. Er wird sich dann als der Richter der Menschen beweisen. Aber in seinem Gericht werden wir Grund finden, ihn anzubeten als „die Macht der Liebe“. Und so ist der Anbruch seiner Herrlichkeit der Tag der Erlösung. Erlöst werden alle, die jetzt trostlos sind, gefangen, krank, hungrig, durstig und fremd. Dann werden alle Tränen von ihren Augen gewischt sein, auch die Tränen derer, die jetzt am 9. November im Gedenken an die Reichspogromnacht 1938 geweint haben. Der auf dem Thron sitzt, sagt: „Ich mache alles neu“ (Apok. 21,5).

Wir dürfen dessen gewiss sein – weil der Kommende schon einmal gekommen ist. Wie es die Heilige Schrift sagt: „Das Wort ward Fleisch und wir sahen seine Herrlichkeit“ (Joh. 1,14). Das war in seinem Kommen damals so herrlich, dass er unter uns trat als der Erbarmer, dazu da, die Verlorenen nicht verloren sein zu lassen, sondern sie zu finden, sie aufzuheben, sie aufzurichten. Und sein Erbarmen hat er da so gezeigt, dass er, der Höchste, zu einem wehrlosen Kind wurde. Er hat es gezeigt in einer anfechtbaren Gestalt. „Ich war hungrig und durstig“, sagt er von sich – jawohl: „Ach Herr, du Schöpfer aller Ding, wie bist du worden so gering.“ Und „ich war ein Gast“ – jawohl: „Der Sohn des Vaters, Gott von Art, ein Gast in dieser Welt hier ward.“ „Ich war nackt“ – jawohl: „Er liegt dort elend, nackt und bloß in einem Krippelein.“ „Ich war krank“ – jawohl, „du hast dich bei uns eingestellt, an unserer Statt zu leiden.“ So war es, als der Erbarmer unter uns trat. Der Dichter Dostojewski beschreibt, wie Jesus in seiner Kirche leibhaftig neu erschienen ist. Aber da sagte ihm der Kirchenvertreter: Du passt in deiner Armut nicht mehr in unsere von uns gemachte Kirche. Fragen wir uns: Die Kirche nennt sich nach ihm, aber lebt sie in seiner Gegenwart?

Doch wenn der Gekommene „kommen wird in seiner Herrlichkeit“, dann nicht mehr in der anfechtbaren Gestalt. Dann als der unanfechtbare Regent der Völker. Der darf vielmehr uns anfechten. „Und er wird sie alle voneinander scheiden, wie ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet.“ Wie ein Hirte! Er wird auch in seinem Richteramt kein anderer sein als erneut der „gute Hirte“, bereit, sein Leben für seine Schafe zu lassen (Joh. 10, 12). Mit seiner anfechtbaren Gestalt, aber nicht mit seinem Erbarmen wird es dann ein Ende haben. Darum werden wir auch das als Wohltat zu verstehen lernen, dass er die Einen schützt vor den Anderen und beide voneinander trennt. Sein Erbarmen wäre nutzlose Rührseligkeit, wenn ihm der Wille fehlte, die Plagerei der Einen durch die Anderen abzustellen.

Es geht Jesus hier nicht darum, uns allgemein ein Jüngstes Gericht anzudrohen. Entscheidend ist ihm das Kriterium, nach dem der Richter unser Leben beurteilt. Dabei ist es auffällig, dass es für alle vor ihn Gerufenen überraschend ist, dass es dieser Maßstab ist, nach dem ihr Leben bemessen wird. Der Maßstab, mit dem er urteilt, ist ganz sein Maßstab. Er ist anders als der, mit dem wir uns gern ausrüsten, um selber ein bisschen Jüngstes Gericht über unsere Mitmenschen zu veranstalten. Unser Maßstab ist wie ein Lupe, durch die wir den Splitter im Auge des Nächsten riesengroß sehen, und wie eine Scheuklappe, mit der wir den Balken im eigenen Auge übersehen (Mt. 7,3). Wenn aber der wahre Richter eingreift, wird es sehr die Frage sein, ob ich, der ich so gut von mir dachte, akzeptabel bin, während Andere angenommen sind, die ich blöde fand. Erste werden Letzte sein und Letzte Erste (Mt. 19,30).

Aber so überraschend sein Urteil sein wird, willkürlich ist es nicht. Denn als der Regent aller Menschen darf er uns das fragen: Was habt ihr mir getan? Die Frage ist nicht: Hatten die Leute eine gute Meinung von euch oder wart wenigstens ihr selbst zufrieden mit euch? Die entscheidende Frage Jesu lautet: Wer bin ich euch praktisch gewesen? Überraschend, dass das die Hauptfrage in unserem Leben sein soll. Er ist in seinem Erdenleben so armselig aufgetreten, dass man ihn abweisen konnte. Wie soll ausgerechnet von diesem Einen für uns alles Wohl und Wehe abhängen? So mag man denken, bis es einmal herauskommt, dass tatsächlich für uns alles auf ihn ankommt.

Doch noch ist nicht alles gesagt. Denn das wird spätestens an jenem Tag jeder begriffen haben: Die Armut Jesu hat einen bestimmten Sinn. „Er ist auf Erden kommen arm, dass er unser sich erbarm.“ Seine Armut ist seine Teilnahme an der Armut so zahllos vieler trauriger Geschöpfe. Für ihn hatten die Besser-Gestellten bei seiner Geburt keinen Raum, aber er hat dennoch Raum gefunden – als Nachbar derer, die draußen vor der Tür sind. Hungrig und krank und verjagt verbrüdert er sich mit allen, die hungrig und krank und verjagt sind. Wir denken an diesem Volkstrauertag an die Vielen, die im Zweiten Weltkrieg gefallen sind und ermordet wurden, die dann auch vertrieben wurden. Wir denken an die, die deshalb Trauer tragen – Trauer auch wegen der Schuld an dem Desaster. Mit ihnen ist Jesus so eng verbunden, dass man diese zwei nie mehr voneinander trennen kann: den Tröster und die Traurigen. So eng, dass man auch Jesus nicht hat, wenn man ihn haben will ohne sie, seine geringsten Brüder und Schwestern. So eng, dass man ihn nur haben kann, wenn man sie mithat. So eng: „Was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan. Und was ihr ihnen nicht getan, das habt ihr mir verweigert.“ Was Gott zusammengefügt hat, das kann der Mensch nicht trennen (Mt. 19,6). Im Jüngsten Gericht wird das klargestellt. Wer ihn haben will ohne die, derer er sich erbarmt, der will einen gnadenlosen Gott. Ohne seine Gnade können wir aber nur verschwinden.

Jesus sagt uns das nicht, um uns mit dem Drohfinger darüber aufzuklären, dass man in die Hölle kommen kann. Er will uns davor bewahren, dass Gott sich einmal von uns trennen muss. Das wäre allerdings die Hölle. Davor will er uns beschützen. Unsere Aufgabe ist es nunmehr, dass wir dem zustimmen. Darum weist Jesu Reden von der Zukunft uns in unsere Gegenwart. „Handelt, bis ich wiederkomme!“ (Lk. 19, 13), sagt er. Das ist der Sinn der uns jetzt noch gelassenen Zeit. In dieser Zeit warten ja nicht bloß wir, da wartet zuerst Gott auf uns und wartet, dass wir hilfreich handeln. Johannes Calvin schreibt hierzu: Es geht in unserem Verhalten zu den Bedürftigen um das, „was zu einem gerechten und frommen Wandel gehört, nämlich nicht bloß das Bekenntnis des Mundes, sondern der ernste Tatbeweis, dass man wirklich Gott liebt“.

Jesus gibt uns einen Anschauungsunterricht dafür, was das heißt: „Was ihr tut einem unter meinen geringsten Brüdern und Schwestern, das habt ihr mir getan.“ Er hat in unserer Zeit solche Geschwister: leiblich und seelisch Gequälte und Betrogene, Erniedrigte und Beleidigte, Bedrohte und Verzweifelte, wie jeder wissen kann. Und alles, was wir auch nur für einen dieser Menschen tun können, fängt mit dem Einfachsten an, was zugleich das Schwerste ist – mit der Entdeckung: Er steht auf ihrer Seite. Sie sind Jesu Geschwister. Darum kann ich nicht auf seiner Seite stehen, wenn ich nicht ihnen zur Seite stehe. Calvin spricht ein andermal vom Stellvertreter Christi und der ist kein Heiliger und kein Papst, sondern ein erbärmlicher Mitmensch. „Und wenn er ein Fremder oder ein Nichtswürdiger ist oder einer, der dir nichts Gutes getan hat – Gott hat ihn aber gleichsam zu seinem Stellvertreter eingesetzt – und du sollst dich diesem Menschen gegenüber für so viele und so große Wohltaten erkenntlich erweisen, mit denen Gott dich zu seinem Schuldner gemacht hat.“

Die nicht so dran sind wie diese Erbärmlichen, denen liegt es fast im Blut, davon abzusehen und darum an diesen Brüdern und Schwestern vorbeizusehen und vorbeizugehen, so wie der Priester und Levit an dem unter die Räuber Gefallenen im anderen Gleichnis Jesu (Lk. 10,31f.).Wessen Bildung, wessen Nettigkeit, wessen Frömmigkeit ist denn so stark, dass sie ihn vor Wiederholungen dessen schützt? Ist es nicht so? - man kann hundertmal dieses Gleichnis Jesu hören; aber wenn es darauf ankommt, dann haben wir lauter Erklärungen dafür, weshalb wir uns jetzt nicht daran halten. Jesus sagt ja nicht etwa, es sei einfach, mit seinen geringsten Geschwistern umzugehen. Er macht nicht einmal die Rechnung, wie viel sie selber schuld sind an ihrem Elend. Er sagt nur: Sie brauchen Beistand. Darum sind sie seine Geschwister. In ihnen begegnet er uns. In ihnen will er uns willkommen sein.

In Jesu Augen gibt es Menschen, die mehr zu beweinen sind als diese Geringsten. Und das sind wir, – wenn wir nicht an deren Seite zu finden sind. Nicht die Geringsten müssen froh sein, wenn wir Mitleid mit ihnen haben. Wir sind zu bemitleiden, wenn wir uns nicht als Geschwister dieser Geschwister Jesu benehmen. Aber warum sollten wir uns von ihnen distanzieren, wenn der, an den wir glauben, auf ihrer Seite steht? Glauben wir an ihn, so gehören wir mit diesen Anderen zusammen schon zu jenem Volk, von dem es heißt: „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht ...“ (Jes. 9,1). Zu diesem Volk gehören die, die bei uns Schutz suchen. Zu diesem Volk gehören auch die in den Kriegsgräbern Bestatteten, die einst gegeneinander geschossen haben und die nun miteinander begraben sind. Ihr Miteinander sei uns das Zeichen einer schönen Hoffnung. An der von den Hitlersoldaten zerstörten Kathedrale von Coventry in England ist eine goldene Inschrift zu lesen. Beten wir auch heute mit den Worten, die dort geschrieben stehen: „Lehre uns, o Herr, zu vergeben und uns vergeben zu lassen, so dass wir miteinander und mit dir Frieden haben.“ Dieser Friede Gottes, der heilsamer ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Gedanken in Christus Jesus, unserem Herrn.

 



Prof. Dr. Eberhard Busch
37133 Friedland
E-Mail: ebusch@gwdg.de

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