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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 15.11.2015

Predigt zu Matthäus 25:31–46, verfasst von Dietz Lange

 

 Liebe Gemeinde! Die Schafe von den Böcken zu sondern, das ist in der deutschen Sprache eine stehende Redensart geworden, die auch Menschen benutzen, die vom Christentum wenig oder gar nichts wissen. Sie hat ursprünglich einmal bedeutet, dass der Schafhirte die Böcke für die Schlachtung bestimmte, während die Schafe wegen ihrer Milch noch weiter leben sollten. Jesus hat das als Bild für das göttliche Gericht am Ende der Zeit genommen: die guten Menschen, die sich um die Hungernden, Dürstenden und Unbekleideten gekümmert, die Fremden gastlich aufgenommen, die Kranken und die Häftlinge besucht haben, kommen auf die rechte Seite und die bösen Menschen, die das alles nicht getan haben, auf die linke Seite. Rechts und Links als Bezeichnung für Gut und Böse kennen wir auch noch, sehr zum Leidwesen für alle Linkshänder. Rechts steht in der Rede Jesu für die Belohnung durch das ewige Leben, Links für die ewige Strafe.
Wohl die meisten von uns kennen diese Rede Jesu. Aber das macht es für uns heute Morgen nicht leichter, darüber nachzudenken. Manche von uns haben mittelalterliche Gemälde von den Höllenstrafen gesehen, auf denen die Maler all die grausamen Foltern verewigt haben, die damals im wirklichen Leben auf gerichtliche Anordnung praktiziert wurden, um Geständnisse zu erpressen. Auf der anderen Seite dachte man sich das Leben im Himmel als ein Leben als eine Art von paradiesischem Luxus. Beides sind sehr irdische Vorstellungen, die man einfach auf das ewige Leben übertragen hat. So denken wir heute nicht mehr. Wir denken uns das ewige Leben bei Gott nicht als Fortsetzung unseres irdischen Lebens, denn das ist mit dem Tod wirklich zu Ende. Wir haben dafür nur bildliche  Ausdrücke, z. B. dass wir mit dem Tod in Gottes Hand fallen und darin geborgen sind – wie das genau aussieht, können wir nicht wissen, brauchen wir aber auch nicht zu wissen.
Aber nun spricht Jesus ja nicht nur vom ewigen Leben, sondern auch von der ewigen  Verdammung durch Gott. Damit können wir heute meistens gar nichts mehr anfangen. Wir fragen uns sogar, ob denn dieser Gedanke überhaupt christlich ist. Wo bleibt denn da die Vergebung der Schuld, die doch nach unserem Verständnis im Mittelpunkt des christlichen Glaubens steht? Wie kann es sein, dass ausgerechnet Jesus so moralisch von Lohn und Strafe spricht? Hat er das wirklich so gemeint?
Wenn wir versuchen, das zu verstehen, müssen wir zunächst einmal feststellen, dass all das, was Jesus hier als menschliches Verhalten aufzählt, etwas Selbstverständliches, nichts besonders Christliches ist. Dass man Hungrigen zu essen geben und Kranke besuchen soll, das wissen auch Angehörige anderer Religionen, auch Menschen, die von Religion nichts halten. Gefangene zu besuchen war in alter Zeit auf besondere Weise wichtig: Die Häftlinge wurden nämlich damals nicht vom Staat versorgt; wenn sich da die Familie nicht um sie kümmerte, konnten die nicht überleben. Ja, und Fremde gastlich aufzunehmen, das war schon ein altes jüdisches Gebot, was viele Christen heute nicht mehr wissen. Im Übrigen ist das ja gerade jetzt ungeheuer aktuell, und zwar wieder keineswegs bloß für religiöse Menschen.
Hier kommen wir freilich schon ins Nachdenken. Ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht. Ich war jedenfalls freudig überrascht, als das großzügige Wort der Bundeskanzlerin „Wir schaffen das“ auf ein so breites Echo stieß. Letzten Sonntag habe ich noch in Köln auf dem Ticker der U-Bahn einen Schriftzug gesehen: „Liebe Kölner, wir danken euch für die überwältigende Spendenbereitschaft für die Flüchtlinge!“ Auf der anderen Seite aber stehen nicht nur die Sorgen wohlmeinender Bürger, wie das alles ohne gefährliche Engpässe funktionieren soll, sondern auch die widerliche Propaganda von Pegida und die verbrecherischen Brandanschläge auf Flüchtlingsheime. Hier kann man offensichtlich schon nicht mehr von Selbstverständlichkeit reden. Die Älteren unter uns werden sich an die große Flüchtlingswelle 1945 erinnern, die ja auch nicht immer ohne Reibungen und beschämende Szenen der Zurückweisung abgegangen ist. Da sind wir Christen besonders gefordert. Wir müssen mit dafür sorgen, dass die unvermeidliche Ernüchterung nicht zum Nachlassen der Aufnahmebereitschaft für die Syrer führt, die so furchtbare Zeiten hinter sich haben. Und natürlich müssen wir in den übrigen Ländern Europas dafür werben. Ähnlich ist das bei den anderen Selbstverständlichkeiten. Den einzelnen Hungernden zu essen geben, ja – aber gleichzeitig nichts dagegen tun, dass die Euroländer ihre Überschüsse an Nahrungsmitteln zu Dumpingpreisen in die so genannten Entwicklungsländer pumpen und damit dort die Wirtschaft ruinieren. Krankenbesuche ja, aber wenn die Kranken schwierig und allzu fordernd werden, dann doch lieber nicht. Wie kommen wir dazu, solche Grenzen zu setzen?
Wichtiger noch ist eine besondere Merkwürdigkeit in der Rede Jesu, die Ihnen beim Hören sicher auch aufgefallen ist. Jesus bezieht all die Wohltaten, die er von den Menschen erwartet, auf sich selbst. Ihm haben die einen zu essen und zu trinken gegeben, ihn haben sie im Gefängnis oder am Krankenlager besucht – und die anderen eben nicht. Die Menschen, zu denen er redet, verstehen gar nicht, was ihr Tun oder Unterlassen mit Jesus zu tun haben soll. Er antwortet ihnen: „Was ihr einem unter diesen Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan“. Was soll das bedeuten? Man könnte denken: Jesus nimmt sich das Schicksal der Hunger und Durst, Schmerzen und Einsamkeit leidenden Menschen so sehr zu Herzen, dass er deren Leid geradezu als sein eigenes empfindet. Das ist sicher nicht falsch. Wir lernen Jesus in den Evangelien als jemanden kennen, der ein ganz außergewöhnliches Einfühlungsvermögen besaß. Das hat sicher dazu beigetragen, dass er so viel Anklang hatte – und zugleich dazu, dass er bei seinen Neidern so viel Hass und Aggressionen hervorrief. Beides widerfährt ja bis heute Menschen, die sich besonders für andere einsetzen.
Und doch ist das noch nicht der entscheidende Punkt. Denn dann müsste man ja eigentlich sagen: Es war so, als ob die Leute sich um Jesus selbst gekümmert hätten. Aber Jesus will sagen: Es geht hier tatsächlich um mich selbst. Er tritt im Namen Gottes auf. Im Namen Gottes nimmt er sich der Menschen an, die Not leiden, von der Gesellschaft ausgestoßen wurden, einsam und verzweifelt sind, unter schwerer Schuld zusammenbrechen. Er will nicht dafür bewundert werden oder es zum Ehrenbürger von Jerusalem bringen. Er weist die Menschen auch nicht auf sein Vorbild hin: „Seht mal her, was ich für ein großer Wohltäter bin“. Er redet nicht nur von Gottes Autorität wie so viele, sondern er verkörpert selbst die Autorität Gottes. Er selber tritt in der Rolle Gottes als Weltenrichter auf. Damit gewinnen die scheinbar so selbstverständlichen Forderungen wie die Aufnahme von Fremden unendlich an Tiefe und Ernst. Sie gelten nicht bloß da, wo man sie locker mit einer Spende von 20 Euro erfüllen kann, sondern auch da, wo es gilt, verständliche Sorgen und Ängste zu überwinden.
Jesus als Weltenrichter – das ist uns fremd geworden. Wir halten uns lieber an seine freundlichen Seiten. Und Gott ist uns eher der „gute Gott“, auch wenn wir ihm nicht geradezu auf die Schulter klopfen wollen. Aber ein Gott, der nicht in unbedingter Strenge unser ganzes Leben für sich fordert, der ist kein Gott, sondern ein Kuscheltier für Kleinkinder. Umso erstaunlicher ist es aber dann, dass eben dieser Gott in seiner Liebe zu uns nicht nachlässt und uns unsere Schuld vergibt, wenn wir ihn ernsthaft darum bitten. Genau das meint Jesus, wenn er sich uns in Gottes eigener Rolle als Weltrichter präsentiert. In der Rede, die wir heute betrachten, wird zwar Gottes Barmherzigkeit überhaupt nicht erwähnt. Vielleicht deswegen nicht, weil Jesus als Verkündiger göttlicher Vergebung so bekannt war, dass er befürchtete, seine Hörer und Hörerinnen könnten darüber den Ernst der Religion vergessen.
Wenn wir aber beides bei Jesus sehen: Gottes Strenge und seine Vergebung, dann können wir uns auch so vorbehaltlos anderen Menschen zuwenden wie die „Schafe“ in der Gerichtserzählung, wie die Menschen zur Rechten. Dann sind wir genauso unbekümmert darum, ob wir auf Jesus und auf Gott selbst einen guten Eindruck machen. Denn es ist dann Gottes Geist selber, der uns leitet. Der liegt immer wieder mit unserem eigenen Geist im Streit, das wissen wir ja. Das ist der Grund dafür, dass wir Gott stets aufs Neue darum bitten müssen, dass wir unbekümmert und frei seine Liebe an die Menschen in unserer Umgebung weitertragen, die in Not sind.   
                                                                                                                     Amen.



Prof. Dr. Dietz Lange
St. Marien Göttingen
E-Mail: dietzclange@online.de

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