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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 15.11.2015

Bewusst oder unbewusst - barmherzig handeln!
Predigt zu Matthäus 25:31-46, verfasst von Thomas Bautz

Liebe Gemeinde!

Das „Gleichnis vom Weltgericht“ wird bei Mt im größeren Kontext sinnvoll vorbereitet, wobei der tiefe Ernst des Richters deutlich wird:

Denn der Menschensohn wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln kommen und dann einem jeden nach seinem Tun vergelten (Mt 16,27).

Wie nun das Unkraut gesammelt und im Feuer verbrannt wird, so wird es auch am Ende der Weltzeit der Fall sein: Der Menschensohn wird seine Engel aussenden; die werden aus seinem Reich alle Ärgernisse (d.h. Verführer) und alle die sammeln, welche die Gesetzlosigkeit üben, und werden sie in den Feuerofen werfen (…). Alsdann werden die Gerechten im Reich ihres Vaters wie die Sonne leuchten (…).

So wird es auch am Ende der Weltzeit zugehen: Die Engel werden ausgehen und die Bösen aus der Mitte der Gerechten absondern und sie in den Feuerofen werfen (Mt 13,40-43.49f).

Es werden aber auch Kriterien für das Beurteilen durch den Richter genannt:

Liebestaten bilden den Mittelpunkt des Gleichnisses, Maßstab für das Handeln der Menschen schlechthin: die Liebe und ihre Werke, die „Werke der Barmherzigkeit“. Dabei ist nicht direkt an „gute Taten“ zu denken, die oft aus Eigennutz geschehen. Vielmehr spielt Unwissenheit oder Unbewusstheit der Betroffenen eine entscheidende Rolle. Sie wissen, dass sie geholfen haben – nicht aus Pflichtbewusstsein, sondern aus freiem Willen. Doch ahnen sie nichts von einem größeren Zusammenhang: Die Compassion, die Leidenschaft, das Engagement ihres Herzens berührt noch eine andere Dimension als die rein menschliche.

Es gibt Menschen, die ganz selbstverständlich für andere eintreten, wenn diese in Not sind; die helfen, weil sie erkennen, dass es die Situation des anderen dringend erfordert. Nicht von Helfern von Berufs wegen ist die Rede: vielmehr ist freiwillige, oft spontane Hilfeleistung gemeint. Wir kennen die unterlassene Hilfeleistung als das Gegenteil, häufig in Gestalt der Zuschauermanier oder des Wegschauens. Der barmherzige Samariter hat nicht weggesehen!

Die sechs Werke der Barmherzigkeit: Hungrige speisen; Durstigen zu trinken geben; Fremde beherbergen; Nackte kleiden; Kranke pflegen; Gefangene besuchen werden durch ein siebtes Werk erweitert, das Kirchenvater Lactantius (ca. 250–325) hinzufügt (cf. Tobit 1,17): Tote bestatten. Diese Liste besteht seit dem Hochmittelalter und stellt den Grundtext für Diakonie oder Caritas dar. Damit sind die Werke der Barmherzigkeit Basis für eine undogmatische Praxis.

„Die Barmherzigkeit ergreift den Menschen überraschend“ und bewirkt eine angemessene Handlung gegenüber Notleidenden; sie wird vollständig bestimmt von eben dieser Notlage des anderen. Dabei bleiben Motive wie „Bedürfnis des helfenden Menschen nach Heiligung“, Glaubensgehorsam, besonders qualifiziertes ethisches Bewusstsein oder Anerkennung in der Gemeinde außen vor; sie spielen keine Rolle; s. TRE 5 (1979), s.v. Barmherzigkeit IV, 234.

Lactantius nennt insgesamt neun Werke der Barmherzigkeit: Hungernde speisen; Nackte kleiden; Unterdrückte befreien; Fremde und Obdachlose beherbergen; Waisen verteidigen; Witwen schützen; Gefangene vom Feind loskaufen; Kranke und Arme besuchen; Mittellose und Zugezogene (also Menschen ohne Familie vor Ort) bestatten.

Vom Anliegen her entsprechen all diese barmherzigen Handlungen biblischem Denken. Was vielen von uns vermutlich Kopfschmerzen bereitet, was uns schwer fällt zu begreifen, ist die Bedeutung der Werke der Barmherzigkeit im Begründungszusammenhang des Gleichnisses vom Weltgericht. Gesegnet sind Menschen, die unbewusst dem „Menschensohn“ dienten, ihm Barmherzigkeit erwiesen; ihnen gehört das „Reich Gottes“. Verflucht aber sind die Menschen, die dem „Menschensohn“ gegenüber unwissentlich nicht barmherzig handelten.

Wie gesagt, es gibt das selbstverständliche Einstehen für Notleidende: Empathie, Solidarität, Engagement einfach aus der Haltung von Mitmenschlichkeit - vielleicht nicht sehr verbreitet, aber es gibt sie! - Wer sich als frommer, religiöser Mensch versteht, kennt Gebote, Regeln und Maximen für sein ethisches Handeln. Aber welches Kriterium gilt für seine Motivation? Für das Bestehen im Weltgericht gibt es (nach Mt) nur einen Maßstab, nämlich ob man der Identifikation Jesu mit Menschen, die hungrig, durstig, fremd, nackt, krank, gefangen waren, entsprochen hat, oder ob man ihnen ausgewichen ist - und damit dem Menschensohn selbst.

Die „ewige Strafe“ besteht aus der Sicht Jesu im Zustand kalter Lieblosigkeit, die es schafft, die Armut anderer einfach zu übersehen - „womöglich bei allem frommen Sprechen von Gott und bei aller moralisch-juristischen Korrektheit“. Darin haben sich offenbar viele Menschen eingerichtet, „ohne daß ihnen noch etwas zu fehlen scheint“, und doch mangelt es ihnen an „Menschlichkeit, Wärme, Barmherzigkeit“. „Solche Menschen ‚kommen‘ nicht in die ‚Hölle‘, sie leben in der Hölle, ohne es zu merken.“ (Drewermann: Jesus von Nazareth, Bd. 2, 454f)

Man kommt kaum umhin, an die Flüchtlinge zu denken, die in ihrer immensen Not nach Europa und damit auch zu uns nach Deutschland drängen. Politisches Kalkül, aber auch die Bereitschaft innerhalb der Bevölkerung, das Engagement einzelner Städte und Kommunen und letztlich sogar der Wille und die Solidarität einzelner Bürger oder Familien sind gefragt. Anders werden wir dieser prekären Situation kaum Herr. Helfendes, hilfreiches Handeln und Eintreten für die vielen Flüchtlinge ist freilich ein bewusstes Handeln. Das traf und trifft für alle Werke der Barmherzigkeit zu. Jedenfalls entspricht es dem universalen Anspruch des Gleichnisses, die „geringsten Brüder“ nicht auf Zugehörigkeit zu einem Volk oder zu einer Religion zu beschränken.

Was bedeutet dies für das Unwissenheitsmotiv (cf. Luz: EKK I/3, 521, 527, 536)? Mag das Gleichnis vom Weltgericht bei den ersten Hörern und Lesern Befremden und Überraschung ausgelöst haben. Für die Wirkungsgeschichte ist sicher entscheidend, dass man nun gerade versucht, nach den Werken der Barmherzigkeit zu handeln oder ihnen sogar nachzueifern, weil man natürlich „im Gericht vor dem Menschensohn“ bestehen will.

Was aber gültig bleibt, ist der Gedanke, die Gewissheit, dass es keines moralischen Gesetzes, keiner Glaubensmotivation, keiner humanistischen Maxime bedarf, um Barmherzigkeit zu üben gegenüber Menschen, die dringend unserer Hilfe bedürfen.

Im Übrigen ist es doch eine Binsenweisheit, dass es der Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit der Motive und des Handelns mitunter Abbruch tut, wenn wir uns einer edlen Gesinnung und einer Hilfeleistung bewusst werden. In der „Dienstanweisung an einen Unterteufel“ (1963), Screwtape Letters (1942) des irischen Literaturwissenschaftlers und Autors Clive Staples Lewis (1898-1958) schreibt ein Onkel an seinen Neffen Empfehlungen, wie er einen Christen, einen Gläubigen, am besten wieder vom Glauben abbringen könne. Eine Anweisung lautet: „Dein Patient (Christ) ist demütig geworden - hast Du es ihm schon gesagt?!“

Weise hinterließ Jesus von Nazareth eine andere Empfehlung, Anweisung (Lk 17,10):

Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprecht: Wir sind unnütze Knechte; wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren. (Luther 1984) - Wenn ihr alles getan habt, was Gott euch befohlen hat, dann sagt: Wir sind Diener, weiter nichts; wir haben nur getan, was uns aufgetragen war. (Gute Nachricht Bibel)

Amen.



Pfarrer Thomas Bautz
Bonn
E-Mail: thomas.bautz@ekir.de

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