Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Letzter Sonntag des Kirchenjahres, Ewigkeitssonntag, 22.11.2015

Das Tor ist auf!
Predigt zu Matthäus 25:1-11, verfasst von Gert-Axel Reuß

 

Liebe Gemeinde,

es fällt mir heute schwer, über die Liebe Gottes zu sprechen. Obwohl dies doch die zentrale Botschaft unseres Glaubens ist. Ich glaube an einen Gott, der Liebe ist. Ich glaube an einen Gott der Liebe, nicht an einen Gott des Gerichts, der Strafe oder der Rache.

Am Ende des Kirchenjahres begegnen uns die apokalyptischen Texte der Bibel mit ihren endzeitlichen Bildern und Stimmungen. Da gibt es ein ‚zu spät’. Da wird die Seele nach ihren guten Werken gewogen. Da tun sich Abgründe auf, die man früher Hölle nannte.

Aber wir Jüngeren wissen nicht mehr, was die Hölle ist. Wir haben keinen Begriff davon, weil wir keinen Hunger, keine Kriege, keine Schreckensherrschaft erlebt haben. Dafür kann man ja nur dankbar sein.

Das geht mir durch den Sinn und denke zugleich an die Anschläge in Frankreich vor einer Woche.

Gewiss: Paris ist weit weg. In unserer Kleinstadt, in unseren Dörfern fühlen wir uns sicher. Aber für ein besonderes Fußballspiel würde ich schon nach Berlin fahren. Eine Einladung in die neu eröffnete Elbphilharmonie in Hamburg würde ich sicher annehmen. Mit meinen Kindern würde ich sogar in ein Rockkonzert gehen.

Natürlich lebe ich weit entfernt von vielen Gefahren, mit denen Millionen Menschen täglich umgehen müssen. Natürlich weiß ich nicht wirklich, wie es ist, wenn der Tod überall lauert(, so wie es Helmut Schmidt mit Blick auf seine Kriegserfahrungen geschildert hat).

Aber plötzlich treffen die Bilder und Geschichten vom Jüngsten Gericht auf eine Wirklichkeit von Hass und Gewalt, die einen schaudern lässt.

Nach meinem Geschmack wäre es zu pathetisch, zu sagen: ‚Die Tore der Hölle hätten sich geöffnet.’ Aber in meinem Herzen bin ich mir nicht mehr so sicher, ob wirklich alle in den Himmel kommen. Der Attentäter, der gerade seine Sprengstoffweste gezündet hat, und die, die er in den Tod gerissen hat, Seite an Seite an der Himmelstür? Eine schwer erträgliche Vorstellung.

Es sei denn …

Es sei denn, der Himmel wäre ein so überwältigender Ort des Glücks, dass jede noch so dunkle Vergangenheit überstrahlt würde.

Es sei denn, dass das, was uns nach dem Tod erwartet, ein solcher Friede wäre, dass alles erlittene Unrecht, dass alle Gewalt augenblicklich geheilt würde.

Es sei denn, wir würden neu geboren in die lichtvolle Gegenwart Gottes, so dass wir gar nicht anders können, als zu lieben und zu vergeben. Umgeben von Gottes Güte käme uns etwas anderes gar nicht mehr in den Sinn.

Liebe Gemeinde,

ich möchte Sie bitten, solchen Bildern des Himmels nachzudenken. Vielleicht hilft ihnen die Vorstellung, Jesus selbst wäre in unserer Mitte. Wir würden an seinen Lippen hängen, gespannt auf jedes neue Wort:

Selig sind die Leidtragenden, denn sie sollen getröstet werden.

Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.

Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen

Welche Bilder vom Reich Gottes wird Jesus malen? Mir kommen seine berühmten Gleichnisse in den Sinn: Das Bild eines Vaters, der seinen Sohn in die Arme schließt. Oder die große Festtafel, an der alle sitzen, auch die von den Hecken und Zäunen. Wir sind eingeladen, dabei zu sein. Wie zu einer Hochzeit.

Vielleicht werden Sie jetzt denken: Was soll ich nur anziehen? Welches Geschenk ist das Richtige? – Was auch immer Ihnen durch den Kopf gehen mag, während Jesus erzählt und glückliche Momente malt: Plötzlich geht irgendetwas schief. Jesus erzählt, dass der Babysitter nicht kommt. Oder von einem Fleck auf dem festlichen Anzug, der sich nicht beseitigen lässt. Das Auto, das einfach nicht anspringen will.

Plötzlich hat Jesus unsere ganze Aufmerksamkeit. Wie wird die Geschichte weitergehen?

Liebe Gemeinde,

wie wird die Geschichte weitergehen?

Das Himmelreich gleicht zehn jungen Frauen, fünf waren klug und fünf waren dumm.

Wir haben das Gleichnis vorhin gehört.1 Werden die fünf, die sich verspäten, noch eingelassen? Werden sie mitfeiern?

Der Schriftsteller Nikos Katzanzakis2 gibt die Frage an uns zurück:

Was würdest du tun, wenn du der Bräutigam wärst, Nathanael?“, fragte Jesus …

Liebe Gemeinde,

was würden wir tun?

Mein erster Impuls ist klar. Natürlich würde ich das Tor öffnen. In Gottes Reich gibt es keine Kleiderordnung. Ob sich jemand verspätet? Hauptsache er kommt. Ein ‚zu spät’ gibt es nicht. So glaube ich – und Jesus tut es auch!

Aber in der Bibel geht die Geschichte anders aus, so werden die Kundigen wissen. (Die törichten Jungfrauen werden schroff abgewiesen und ihrem Schicksal – es ist dunkle Nacht - überlassen.) Wie kann ich mir da so sicher sein?

Liebe Gemeinde,

ich bin mir nicht sicher! Das ist ja das Problem.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Ernst der Lage richtig erfasst habe, wenn ich predige: ‚Gott ist Liebe. Er ist nichts als Liebe.’

Wenn Gott der ist, der alles verzeiht, dann können wir Menschen ja tun und lassen, was wir wollen. Gottes Liebe wird zu einer beliebigen Größe und die Rede über sie zu einer Belanglosigkeit.

Vor allem aber bin ich mir meiner selbst, bin ich mir meines Glaubens nicht sicher. Der Gedanke, dass auch für die Terroristen von Paris, dass auch für Menschen, die Angst und Schrecken verbreiten und vor Mord nicht zurückschrecken, die Tür zum Paradies offensteht, hat etwas beinahe Unerträgliches.

Nein’, so denke ich manchmal, ‚ich kann die Tür nicht öffnen. Man muss doch auch an die Opfer denken, an die Familien. Das kann ich ihnen nicht zumuten.’

Liebe Gemeinde,

es fällt mir schwer, meine Predigt zu einem guten Ende zu bringen. Ich habe keine Gewalt erlitten. Ich habe keinen Menschen, den ich liebe, durch die Schuld anderer Menschen verloren.

Ich denke: ‚Die Tür zum Himmel können nur die Opfer öffnen. Sie entscheiden, ob sie die Täter einlassen.’

Möglicherweise ist die Situation in der Gemeinde, die Matthäus vor Augen hat, ganz ähnlich. Für ihn ist ganz klar: ‚Die Tür bleibt zu!’ Das gebietet der Ernst des Glaubens. Das gebietet der Respekt vor den Opfern. Aber auch wir selbst brauchen diese Botschaft, damit wir unser Leben nicht verspielen. Damit wir die Möglichkeiten, die Gott uns schenkt, nicht vergeuden. Damit wir Gott und seine Liebe nicht verfehlen.

Denn darum geht es ja: Um das Leben hier. Auf der Erde. Wenn das Reich Gottes mitten unter uns ist, dann kommt es darauf an, ob wir drinnen oder draußen sind. ‚Irgendwann ist es zu spät. Dann ist die Tür zu.’ glaubt Matthäus.

Gerne möchte ich dem Evangelisten widersprechen: Jesus hat eine andere Entscheidung getroffen. Sein Lebensweg hat eine andere Botschaft. Er wurde selbst zum Opfer, aber er hat den Himmel offengehalten: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk 23, 34)

Ich glaube, dass genau darin die Versöhnung besteht, die Jesus gewirkt hat. Ich glaube, dass er uns, (ob wir zu Opfern werden oder nicht), einen Weg gezeigt hat, der auf den ersten Blick ‚unmöglich’ erscheint. Der aber im Grunde der einzige Ausweg ist, der einzige Ausweg aus dem Gefängnis unserer Angst, unserer Verletzungen, unseres Stolzes.

Genau solches haben wir Deutschen, die man das Volk der Täter nannte, vor 70 Jahren erfahren. Dass uns die früheren Feinde eine Tür geöffnet haben: „Father forgive – Vater, vergib“.3 Eine Tür zum Leben, trotz aller Schuld.

Liebe Gemeinde,

es gibt kein ‚zu spät’!

Möglicherweise sind Ihre Gedanken ganz andere, wenn wir heute unserer Verstorbenen gedenken. Ich denke an meine Eltern. Was bin ich Ihnen schuldig geblieben, gerade in der letzten Phase ihres Lebens? Was trage ich Ihnen nach?

Ich denke an die Menschen, die ich beerdigt habe in diesem Jahr. Wir haben ihre Namen verlesen zu Beginn des Gottesdienstes. Ich denke an ihre Schicksale. Da gibt es manche offene Fragen und vielleicht auch das Gefühl des ‚zu spät’. Was ist ungesagt geblieben? Hätten wir ihrem Schicksal eine andere Wendung geben können?

Wir können die Vergangenheit nicht ändern. Aber wir entscheiden, wie wir sie ansehen. Ob wir das Gute, das darin liegt, wahrnehmen. Ob wir das Glück, das wir erfahren haben, gelten lassen. Ob wir darauf vertrauen, dass Gott alles zu einem guten Ende bringt (, auch wenn wir uns das heute vielleicht noch nicht richtig vorstellen können).

Die Frage an uns ist, wie wir die Gegenwart und die Zukunft gestalten. Unter welchem Vorzeichen wir dies tun: Ob wir der Liebe Gottes vertrauen und Hass und Gewalt widerstehen. Ob wir vergeben können und mithelfen, denen, die wir für Täter halten, die Tür in ein anderes Leben zu öffnen. Ob wir uns selbst vergeben können und unsere Schuld Gott anvertrauen.

Das Leben als Hoch-Zeit. Als Fest der Freude. Die Tür steht offen. Wir sind aufgerufen, einzutreten. Wir sind aufgerufen, mit unseren Lichtern als Botinnen und Boten Gottes andere dazu einzuladen

Amen.

 



Domprobst Gert-Axel Reuß
23909 Ratzeburg
E-Mail: ertaxel.reuss@ratzeburgerdom.de

Bemerkung:
1 Ich lese das Gleichnis Mt 25, 1-11 als Evangelium (ohne die Verse 12 und 13). Ich vermute, die meisten Gottesdienstbesucher kennen den Schluss und ergänzen ihn in Gedanken.

2 Nikos Katzanzakis, Die letzte Versuchung, München 1988, S. 215f (gefunden bei Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK, Bd. I/3, Neukirchen-Vluyn 1997, S. 486ff): „Was würdest du tun, wenn du der Bräutigam wärst, Nathanael?“, fragte Jesus und richtete seine großen dunklen Augen auf ihn. Nathanael schwieg. Er sah noch nicht ganz klar, was er tun sollte. Teils wollte er sie fortjagen, das Tor war ja verschlossen, so gebot es das Gesetz, teils taten sie ihm leid und er wollte ihnen öffnen ...

„Ich würde öffnen …,“ sagte er leise, damit der Dorfälteste ihn nicht hören sollte. Er konnte seinem Blick nicht widerstehen.
„Recht getan, Nathanael“, sagte Jesus froh und streckte seine Hand aus, als ob er ihn segnete. „In dieser Stunde bist du lebendigen Leibes ins Paradies eingegangen.“
Das gleiche tat auch der Bräutigam. Er rief den Dienern zu: „Öffnet das Tor, dies ist eine Hochzeit. Alle sollen etwas trinken und fröhlich sein! Lasst die gedankenlosen Jungfrauen herein kommen und sich die Füße waschen, denn sie sind weit gelaufen.“

3 Die englische Stadt Coventry wurde vor 75 Jahren – am 14.11.1940 – durch die deutsche Luftwaffe bombardiert. Die mittelalterliche Altstadt mit der gotischen St. Michaels-Cathedral wurde völlig zerstört. Dean Howard rief schon wenige Wochen später in einer Radioansprache zu Weihnachten zur Versöhnung auf. Im Januar 1941 ließ er in die Apsis der Ruine die Worte „Father forgive“ einmeißeln – der Anfang des Versöhnungsgebets von Coventry, das an jedem Freitag um 12 Uhr dort gebetet wird.


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