Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag im Advent, 02.12.2007

Predigt zu Hebräer 10:19-25, verfasst von Martin Schmid

Weil wir denn nun, liebe Brüder, durch das Blut Jesu die Freiheit haben zum Eingang in das Heiligtum, den er uns aufgetan hat als neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das ist: durch das Opfer seines Leibes, und haben einen Hohenpriester über das Haus Gottes, so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser. Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat; und lasst uns aufeinander Acht haben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken, und nicht verlassen unsre Versammlungen, wie einige zu tun pflegen,  sondern einander ermahnen, und das um so mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht.

 

Liebe Gemeinde!

Nur eine Kerze brennt am Adventskranz, und trotzdem ist schon richtig Advent. An Weihnachten wird sich das Licht verzwanzigfacht haben oder verhundertfacht, in der Silvesternacht wird man gleich ganze Feuerwerke abbrennen, an Ostern wird man die aufgehende Sonne selbst als Zeichen für das Fest nehmen und an Pfingsten den Wind oder gar einen Sturm, am Erntedankfest wird man den Altar bedecken mit Blumen und Früchten aus Garten und Feld. Aber am Ersten Advent brennt eine einzige Kerze, und trotzdem ist schon alles da, was diesen Tag zu einem Festtag macht. Der Dichter Robert Walser hat in einem seiner Romane geschrieben, er komme sich „vermögend" vor, wenn er Kerzen brennen sieht. Vielleicht hätte er sich sogar beim Hinschauen auf eine einzige Kerze schon so vorkommen können: vermögend.

Wir jedenfalls schauen jetzt miteinander in die eine Kerze, die am Adventskranz brennt. Wir tun es hier im Kirchenraum, und Sie tun es vielleicht heute im Laufe des Tages auch noch bei sich daheim. Das brennende Licht zieht uns in seinen Bann. Da gibt es einen äußeren Hof, in dem man sogar einen dunkleren Ring ganz außen und einen helleren Teil unterscheiden kann. Darin dann das strahlende Licht der Kerze. Das wiederum hat selbst noch einmal so etwas wie einen Kern am Übergang von der Flamme zum Docht. Das ist interessant. Aber warum sagte jener Dichter, dass er sich bei diesem Anblick vermögend vorkommt, also irgendwie bereichert? Ich denke, es hat damit zu tun, dass uns dieses Licht nicht nur in seine eigene Helligkeit hineinzieht, sondern mithilfe der Erinnerung noch in andere, tiefere Räume. Wir können hier leicht von unseren Erinnerungen hingezogen werden in die Zeit, wo wir als Kinder erstmals an einem Tisch saßen und in eine Kerze geschaut haben. Andere Gelegenheiten kommen uns in den Sinn, wo auch Kerzen brannten, vielleicht in der Kirche, vielleicht auf dem Friedhof. Das flackernde Licht beunruhigt uns aber nicht, sondern weckt eher eine festliche Stimmung. Womöglich weckt es sogar eine tiefe innere Freude. Da ist es auf einmal so, als würde in uns selbst auch ein Licht brennen. Das äußere Licht begegnet einem inneren Licht in uns. Durch den Schein, den wir wahrnehmen, erwacht vielleicht in uns das Empfinden, dass wir doch selbst entflammbar sind. Und manchmal, in den schönsten Zeiten unseres Lebens, war es auch so. Da wurden wir entflammt, waren Feuer und Flamme.

 

Nun haben wir heute aber etwas ganz Anderes gehört bei der Verlesung des Predigttextes aus dem Hebräerbrief. Da stand nichts von Kerze und Licht, auch nichts von Kranz und Tannengrün. So gut wie nichts war zu vernehmen, was uns adventlich vorgekommen ist. Höchstens könnte bei dem Ausdruck vom Eingang in das Heiligtum, den wir durch Christus haben, das Lied „Macht hoch die Tür" in uns ein wenig angeklungen sein. Nein, der Hebräerbrief versetzt uns weder in eine gemütliche Stube, noch in einen Kirchenraum, noch auf einen Weihnachtsmarkt im Lichterschein. Sondern er versetzt uns auf den Vorhof des Tempels in Jerusalem.

Wir finden uns wieder in einer sich schiebenden, unruhigen Menschenmenge. Dort hört man reden und rufen, hört das Schlürfen von Schuhen, das Scharren von Hufen und das Klirren von Münzen. Wenn wir dort stehen würden, ganz außen, im Vorhof der Heiden, dann wäre im Hintergrund für uns zu ahnen das Heiligtum, der Tempel selbst. Noch weiter dahinter, ganz innen, das Allerheiligste, durch einen Vorhang noch einmal abgetrennt und zugänglich nur für den Hohenpriester. Denn es ist dies der Ort, so hieß es, an dem Gott den Menschen nahe kommt.

Nun sind wir aber nicht in Jerusalem. Es steht das alles nur als ein gedachtes Bild vor uns. Aber gerade dieses Bild weist dann doch eine Ähnlichkeit auf zu dem Anblick einer brennenden Kerze. Wir sehen auch da einen äußeren Hof, zweigeteilt in den Vorhof der Heiden und den Vorhof der Juden, sowie einen glänzenden inneren Bereich und schließlich ein geheimnisvolles Innerstes und Heiligstes. Und wenn die Kerze uns schon in ihren Bann ziehen kann, weil sie uns in die Tiefe unserer Erinnerungen lockt, dann vermag jenes Bild vom Tempel das nicht weniger. Für den Briefschreiber jedenfalls, der den Hebräerbrief verfasst hat, wird hier die Erinnerung wieder wach an Jesus Christus und seinen Weg. Er ging einst hinein nach Jerusalem, ging zum Tempel und ging schließlich ans Kreuz. Aber diesem Briefschreiber ist es, als ob Jesus durch den Vorhang des Tempels hindurchgegangen und wie der Hohepriester ins Allerheiligste geschritten wäre. Weil er auf seinem immer einsamer werdenden Weg hindurchgedrungen ist bis zum Tiefsten und Innersten, dem Herz aller Dinge, bis zur Nähe Gottes. Wenn ich aber nun mit meinen inneren Augen folge und auch diese Mitte von allem suche, kann es mir passieren, dass auch in mir etwas aufgeht - als würde da ein Vorhang zurückgeschlagen. Mein eigenes Glauben, oft unruhig flackernd, und mein eigenes Gewissen, oft so ungewiss, schließen sich auf. Und auch das ist überhaupt kein trauriger, sondern ein sehr festlicher Moment. Wenn ich mir beim Anblick brennender Kerzen schon vermögend vorkommen kann, weil das Licht einer Kerze meine eigene Entflammbarkeit geweckt hat, dann geschieht mir das erst recht beim Blick in die Herzkammer des Glaubens. Da wird in mir die Gewissheit geweckt, dass ich aufgeschlossen werden kann für das Göttliche. Und da findet das „Macht hoch die Tür", das draußen erklingt, in mir selbst ein leises Echo.

 

Liebe Gemeinde, schon ein gewöhnlicher Brief kann uns den Tag heller und weiter machen. Erst recht ein so ungewöhnlicher, wie es der Hebräerbrief ist. Nun waren wir zu Besuch in den Räumen, die sich da aufgetan haben. Doch ehe wir uns von dort wieder verabschieden, scheint uns jemand zuzurufen: Warte einen Augenblick, ich will dir noch etwas mitgeben, damit du nicht enttäuscht wirst draußen, wo dir der Wind ins Gesicht bläst. Drei Worte sind es: lasst uns hinzutreten, lasst uns festhalten, lasst uns Acht haben! Und wir stecken alle drei in die Tasche, als wären es drei Nüsse. Nach einer Weile befühlen wir sie: lasst uns hinzutreten, lasst uns festhalten, lasst uns Acht haben - hart, drei Aufgaben, harte Schalen, wozu brauchen wir das? Die Antwort könnte uns kommen, wenn wir an das Zarte denken, das wir soeben entdeckt hatten und das wir in uns tragen, an unseren eigenen zarten Kern. Dass wir uns aufschließen lassen können für das Allerheiligste, was es gibt, das braucht wohl einen Schutz; es könnte uns sonst verloren gehen.

„Lasst uns hinzutreten" ist ein solcher Schutz. Der Schutz der Wiederholung. Einmal sich aufschließen lassen, einmal einen seligen Moment erleben, das ist noch nichts. Die Wiederholung bringt es erst, bei der wir uns alle Jahre wieder und dann vielleicht doch mehr als nur einmal im Jahr den Vorhang aufziehen und die Kruste abwaschen lassen, die sich über unser Innerstes legt, die Haut über dem Gewissen, die Hornhaut über der Seele ..

Und „lasst uns festhalten - unsere Hoffnung nämlich -  und nicht wanken" ist ein solcher Schutz. Der Schutz der Erwartung. Ein einziger Moment der Erwartung, das ist noch nichts. Dieses Lichtlein würde der Wind schnell ausblasen. Die Erwartung müsste zu etwas Beständigem werden. Es müsste uns das durchs ganze neue Kirchenjahr und durch alle Licht- und Dunkelzeiten hindurch begleiten, dass wir noch etwas erwarten für uns und für andere.

Und auch „lasst uns aufeinander Acht haben" ist ein solcher Schutz, den Zusatz eingeschlossen „und lasst uns nicht verlassen unsre Versammlungen". Weil das Allerheiligste, das wir ahnen in der Tiefe eines Bibelworts, und  das zugleich Heilige und Zarte, das wir ahnen in uns selbst, schnell die Augen wieder zuschlägt, wenn man ihm grob kommt. Es braucht einen Raum, wo es willkommen geheißen und ermutigt wird. Natürlich müssen die „Versammlungen" dann auch wirklich ermutigend sein. Es müsste eine Freude aufkommen, die vom einen zum andern überspringt.  Wo man nach einander schaut, kann so etwas gedeihen.

Drei Nüsse in unserer Tasche, drei Aufgaben die auf uns warten. Sind sie schwer zu knacken? Vieles wird leichter, wenn die Zeit dafür reif ist. Darauf weist der Gruß, mit dem der Hebräerbrief diesen Abschnitt beschließt. Er wünscht mehr als einen schönen Ersten Advent und mehr als einen guten Tag. Sein Gruß lautet: „Nun seht ihr aber, dass der Tag sich naht." Gemeint ist der Tag Christi. Denn vorläufig werden zwar die Nächte noch länger und nicht die Tage. Aber schon die erste Kerze am Adventskranz will uns sagen: Es wird trotzdem heller, die Nacht ist vorgedrungen; die Zeit arbeitet für Christus. Amen.



Martin Schmid
Fellbach
E-Mail: Mado.Schmid@t-online.de

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