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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag im Advent, 29.11.2015

Predigt zu Römer 13:8-12, verfasst von Jennifer Wasmuth

 

Liebe Gemeinde,

für den heutigen Sonntag, den 1. Advent, wird uns ein Gebot mitgegeben! Zur Einstimmung in das neue Kirchenjahr wird uns nicht etwa eine berührende Geschichte erzählt, wir werden nicht dazu eingeladen, es uns in dieser trüben Jahreszeit mit Keks und Kerzen gemütlich zu machen. Nein, unser Predigttext, ein Abschnitt aus dem Brief des Paulus an seine Gemeinde in Rom, fordert uns. Er formuliert mahnend und schärft uns ein:

Seid niemand etwas schuldig, außer, dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist: »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.

Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.

Paulus erinnert uns hier mit Nachdruck an das höchste Gebot, das sog. „Doppelgebot der Liebe“, das Gebot, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst. Er tut das, weil es offenbar alles andere als selbstverständlich ist, dieses Gebot zu halten – auch wenn es gerade dieses Gebot ist, das von allen Geboten das wichtigste ist. Paulus gibt seiner Gemeinde in Rom vieles mit, was sie beachten sollen. Das Kapitel 13, aus dem der Abschnitt stammt, reiht eine Verhaltensanweisung an die andere. Im Grunde aber, so Paulus, reicht die Erfüllung dieses einen Gebotes aus: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Alle anderen Gebote sind darin enthalten; wer dieses eine Gebot befolgt, der befolgt auch alle anderen.

Was hat es mit diesem Gebot, dem Doppelgebot der Liebe, auf sich? Beim Nachdenken über diese Frage kam mir ein Film in den Sinn, der bereits Anfang der 70er Jahre gedreht wurde. „Angst essen Seele auf“, so heißt der Film; er entstand unter der Regie von Rainer Werner Fassbinder. Das Doppelgebot der Liebe wird in diesem Film sehr anschaulich beschrieben: als wahre Kunst des Lebens, die, wie jede Kunst, schwierig ist, weil sie beides zugleich verlangt: für den anderen da zu sein, ihn als seinen Nächsten anzunehmen, ohne sich dabei selbst aufzugeben, die zugleich aber als wahre Kunst unserem Leben Sinn und Richtung zu geben und so etwas wie Heimat entstehen zu lassen vermag.

Zunächst geht es in dem Film allerdings gar nicht um Nächstenliebe, sondern, überraschend aktuell, um die unzähligen Vorurteile, die gegenüber Fremden bestehen. Der Film handelt von der verwitweten und völlig vereinsamten Putzfrau Emmi, die ein tristes Leben in einer bescheidenen Mietwohnung in München führt. Durch einen Zufall – der Regen lässt sie Unterschlupf in einer Kneipe suchen – lernt sie den wesentlich jüngeren Ali kennen, einen Gastarbeiter aus Marokko, der nur gebrochen Deutsch spricht und, wie sich später herausstellt, sein Zimmer in einer Unterkunft speziell für Gastarbeiter mit fünf anderen Männern teilt. Trotz des Altersunterschiedes und ihrer völlig verschiedenen Herkunft sind die beiden sich auf Anhieb sympathisch; sie werden ein Paar. Er zieht zu ihr, sie heiraten schließlich sogar.

Das alles kann allerdings nur gegen die allergrößten Widerstände geschehen – Widerstände des Vermieters und der Nachbarn, die partout keinen „Schwarzen“ im Haus haben wollen, Widerstände der eigenen Kinder von Emmi, die sich um ihre Mutter nie gekümmert haben, nun aber empört über das „unmoralische“ Verhalten der Mutter sind; Widerstände der Kolleginnen, die sie schneiden, weil sie mit einer solchen, wie sie sagen, „Hure“ nichts mehr zu tun haben wollen.

Es geht in dem Film also zunächst um Vorurteile gegenüber Fremden und darum, wie diese Vorurteile das Miteinander erschweren, ja unmöglich zu machen drohen. Schaut man genauer hin, so zeigt der Film an diesem ungleichen Paar, an Emmi und Ali, jedoch gerade auch, welche tiefe Wahrheit in dem Doppelgebot der Liebe liegt, das uns heute mit auf den Weg gegeben wird.

Emmi und Ali, für die erotische Gefühle allenfalls eine zweitrangige Rolle spielen, blicken sich an und sehen ineinander nicht zuerst die schon ergraute, ältere Frau mit vielen Sorgenfalten und den gesellschaftlichen Außenseiter, der in der deutschen Gesellschaft keinen Anschluss findet. Ali entdeckt in Emmi vielmehr die Frau, die die Einsamkeit hasst und die Geselligkeit liebt, die gerne tanzt und gerne lacht, der es die größte Freude bereitet, für Ali die gemeinsamen Mahlzeiten zuzubereiten, den Frühstückstisch zu decken, irgendetwas Leckeres zu kochen. »Du hast ein großes Herz«, sagt er zu ihr. Umgekehrt entdeckt Emmi in Ali den Familienmenschen. Er erzählt ihr von seiner Kindheit und Jugend: vom marokkanischen Leben in einer Großfamilie, von dem Verantwortungsgefühl, das sie füreinander hatten. Und er gibt ihr zu verstehen, dass er gerne für sie sorgen möchte, ihr Halt geben und sich um sie kümmern will. Emmi und Ali – sie sehen im Anderen nicht das, was einem sonst in die Augen fällt, wenn man Menschen sieht: wie alt sie sind, wie schön, wie hässlich, wie krank, wie gesund, was sie an Kleidung tragen, welches Einkommen sie haben. Emmi und Ali sehen im Anderen den Menschen – den Menschen in seiner Schutz- und Liebebedürftigkeit. Und so finden sie zueinander.

Das mit anzusehen, ist ein stilles Glück. Denn Emmi und Ali – beide blühen auf. Es wird immer heller in diesem Film, auch immer bunter. Aus der Frau, die zunächst bemitleidenswert erscheint, alles ist Grau in Grau bei ihr, wird eine starke, fröhliche Frau, aus Ali, der im Dämmerlicht der Kneipe zunächst kaum erkennbar ist, ein gleichermaßen einfühlsamer wie selbstbewusster Mann.

Es wäre allerdings wohl kein Fassbinder-Film, wenn der Film damit enden würde: Die Geschichte der beiden geht weiter, und gerade darin zeigt sich, wie schwierig es ist, das Doppelgebot der Liebe zu halten – wie leicht es ist, die Balance zu verlieren und nicht mehr für den anderen da zu sein, ihn als den Nächsten anzunehmen, sondern nur noch sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu sehen.

Bei Emmi merkt man das daran, dass sie keine Lust mehr hat, Gerichte zu kochen, die Ali gut schmecken: Er solle sich doch gefälligst an die deutsche Küche gewöhnen. Als Kolleginnen sie besuchen, führt sie ihnen Ali vor wie ein kostbares Ausstellungsstück, sie dürfen seine starken Muskeln fühlen. Ali lässt Emmi umgekehrt allein, er bleibt nachts weg, sucht sich eine andere Frau. Es wird wieder düster in dem Film, in den Räumen und in den Seelen von beiden. Sie hassen sich für das, was sie tun. In einer Szene steht Ali vor dem Spiegel, blickt lange hinein und gibt sich dann mehrfach selbst heftige Ohrfeigen.

Erst als sie beide begreifen, was ihnen verloren zu gehen droht, ihr Zuhause, der Ort, an dem sie sich selbst geborgen wissen dürfen, da finden sie einen Weg aus der Krise. »Was auch immer passiert«, sagt Emmi am Ende zu Ali, »lass uns nur gut zueinander sein!«

Das Doppelgebot der Liebe, das uns heute mit auf den Weg gegeben wird, das ist keine weltfremde Regel, die uns eine lästige Last aufbürden will. Im Gegenteil: Das Doppelgebot will uns dazu anleiten, in großer Aufmerksamkeit gegen unsere Mitmenschen und uns selbst ein Leben zu führen, das uns heil sein lässt, das die Finsternis, die in uns oder auch um ist, durch das Licht gelingender Gemeinschaft vertreibt.

Dieses Gebot – es steht nicht ohne Grund am Beginn des Kirchenjahres. Es soll uns von Anfang an begleiten, in unseren Familien, in unseren Gemeinden, in unserem Ort. Denn es ist dieses Gebot, das höchste Gebot, das die Gemeinschaft möglich macht, die wir alle brauchen.

Dieses Gebot – es steht nicht ohne Grund auch am Beginn der Adventszeit. Denn diese Zeit ist die Zeit der Vorbereitung auf die Feier der Geburt dessen, der die Nächstenliebe nicht nur gepredigt, sondern gelebt hat: der uns als Mensch ganz nahe gekommen ist und dabei doch ganz er selbst, Gott, geblieben ist. Die Adventszeit ist deshalb als Zeit der großen Einladung zu verstehen, sich auf diesen Christus und damit auf die Liebe selbst einzulassen. In diesem Sinn soll die Adventszeit allererst die Zeit des Lichts sein: die Zeit, die Werke der Finsternis abzulegen und die Waffen des Lichts anzulegen, oder, um es mit Emmi zu sagen, die Zeit, gut zueinander zu sein.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre und Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

 



Dr. Jennifer Wasmuth
38444 Wolfsburg
E-Mail: Jennifer.Wamuth@rz.hu-berlin.de

Bemerkung:
Frau Dr. Wasmuth ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin


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