Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag im Advent, 13.12.2015

Treue Haushalter
Predigt zu 1. Korinther 4:1-5, verfasst von Siegfried Krückeberg



1Dafür halte uns jedermann: für Christi Diener und Haushalter über Gottes Geheimnisse.
2 Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden werden.
3 Mir aber ist's ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht.
4 Ich bin mir zwar nichts bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist's aber, der mich richtet.
5 Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbaren. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteil werden.

Liebe Gemeinde!

Wie wird man ein guter Haushalter, treu und zuverlässig – so wie Paulus das von einem Christen fordert? Ich glaube, ein Rezept dazu gibt es nicht. Aber es gibt Menschen unter uns, die vielleicht Vorbilder für uns sein können. Drei von ihnen habe ich kennen gelernt.

Die erste ist Eva König, 78 Jahre, aus Gelnhausen. Sie engagiert sich beim Sozialdienst katholischer Frauen in Hanau, gar nicht weit von hier, und berät dort schwangere Frauen und Alleinerziehende. Sie arbeitet ehrenamtlich in der Pfarrei Sankt Peter in Gelnhausen: im Pfarrgemeinderat und Liturgieausschuss, sie hält Gottesdienste und predigt sogar. Und das alles, obwohl oder gerade weil sie es schwer hatte in ihrer Kindheit. Und obwohl sie lange Zeit das Gefühl hatte, nicht dazu zu gehören in dieser Gesellschaft. Nach dem Krieg wurde sie aus ihrer Heimat vertrieben. Aus Südungarn, wo sie 1937 geboren ist, in der Nähe von Pecs (auch „Fünfkirchen“ genannt). Sie lebte mit ihrer Familie in Bonyhád, wo es auch viele andere Deutsche gab. Der Vater war Müller, ist aber früh gestorben. Dadurch war die Familie sehr arm. Die Mutter musste die verschiedensten Arbeiten annehmen, um die Familie zu ernähren, sie ging auch illegal über die Grenze ins Deutsche Reich, während die Großmutter für die kleine Eva und ihre Schwester sorgte. Noch schwerer wurde es, als Ungarn von den Deutschen besetzt war, als der Krieg kam. Die Familie wurde zunächst in einem leer stehenden Bauernhof untergebracht, in dem sich immer wieder russische Soldaten einquartierten. Frau König spürte immer die Angst ihrer Großmutter und ihrer Mutter vor den fremden Männern. Sie fühlten sich schutzlos.

Dann die Vertreibung. Innerhalb einer Woche mussten die Habseligkeiten gepackt werden, und alle in einem Viehwaggon steigen. Mehrere Wochen lang ging es Richtung Deutschland. Bis sie endlich zur Wegscheide kamen, nach Bad Orb und weiter nach Gondsroth. Auf dem Schulhof wurden die Familien an die Bauern verteilt. Frau Königs Familie blieb als letzte übrig. Sie kam zu einem reichen Bauern. Für ihn mussten sie viel schuften, bekamen aber nicht immer die vereinbarte Lebensmittelration. Wenn der Bauer nachts betrunken nach Hause kam, schlug er oft gegen die Tür und schrie: „Ich erschlag euch!“

Auch in der Schule hatte Eva König es zuerst schwer. Als Vertriebene war sie Außenseiterin, auch weil sie nicht Deutsch schreiben konnte. Sie bekam dann aber einen sehr netten Lehrer, der für sie wie ein Vater war. Und sie verschaffte sich Respekt. Nach dem Motto: „Ich zeig´s euch!“ Als sie nach Frankfurt auf die Schule kam, war das für sie wie eine Befreiung. Sie blühte auf, wurde Klassensprecherin. Sie war anonym, nicht abgestempelt. Sie machte die mittlere Reife. Danach wechselten bei ihr immer Ausbildung und Berufsphasen ab. Sie ist Erzieherin, Sozialpädagogin und kann schließlich in Nordrhein-Westfalen studieren, wird Lehrerin für die Sekundarstufe II mit den Fächern Kunst und Sozialwissenschaften. Und schließlich bildet sie selber Sozialpädagogen aus. „Ich zeig´s euch!“ das ist ihr Lebensmotto geblieben. Aber genauso wichtig: die Dankbarkeit, dass so viele Menschen ihr geholfen haben, sich zu integrieren. Und deshalb setzt sie sich ein: für Frauen, die auch schutzlos sind ohne Hilfe und allgemein für Menschen, die benachteiligt und ungerecht behandelt werden. Eine treue Haushalterin, die andere Menschen nicht beurteilt und richtet, sondern hilft, wo es ihr möglich ist.

Genauso wie Antonio Gallo, lange Zeit Vorsitzender vom Ausländerbeirat im Main-Kinzig-Kreis und aktiv in der diakonischen Flüchtlingshilfe. Auch er macht die Erfahrung, falsch beurteilt und ungerecht behandelt zu werden. 1943, also kurz nachdem in Italien der Krieg vorbei ist, wird er in Montragone, südlich von Neapel, geboren, an der Riviera. Seine Eltern waren Landwirte, er wuchs mit Kühen, Schweinen, Ziegen, Schafen und Pferden und in einer großen Familie auf. Nach der mittleren Reife macht Toni eine Friseurlehre. Aber eigentlich möchte er zur Kripo. Er schafft auch die alle Aufnahmeprüfungen. Doch dann bekommt er trotzdem eine Absage, weil er angeblich zwei Zentimeter zu klein ist. Und kurz darauf erhält er die Einberufung zum Militär.

Da entschließt sich Toni, seine Heimat zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Als einer der ersten Gastarbeiter. Er arbeitet bei VW in Wolfsburg, wird Kellner im Waldstadion in Frankfurt; lernt Deutsch an der Berlitz-Schule und bekommt einen Job bei Hertie, im Lager der Parfümerie. Damit beginnt Tonis Karriere. Er steigt auf zum Verkäufer, dann zum Substituten-Anwärter, heiratet eine junge Frau aus Frankfurt und kommt schließlich in das Hertie-Kaufhaus von Frankfurt-Höchst. Später wechselt er zu einer Kosmetikfirma in München, wo er zunächst als Außendienstmitarbeiter und dann als Verkaufsleiter arbeitet, auch mit Verantwortung für Frankreich und Italien.

Als Tonis Frau an MS erkrankt, macht er sich selbständig, um flexibel zu sein und sich um sie kümmern zu können. Durch die Pflege seiner Frau wird er sensibel für die Nöte von hilfsbedürftigen Menschen. Er betreut ältere Menschen, spielt mit ihnen Skat, geht mit ihnen spazieren. Als Ausländerbeirat arbeitet er mit der evangelischen Kirche zusammen, berät Flüchtlinge und sorgt zum Beispiel dafür, dass eine traumatisierte muslimische Frau in Eichen Kirchenasyl bekommt. Sein Lebensmotto: „Wir müssen unsere Energie in die Zufriedenheit aller Menschen investieren. Deutschland muss sich um die Menschen kümmern, die hungern. Auch wenn ich das nicht erreichen kann, muss ich doch etwas in meinem unmittelbaren Umfeld dazu tun.“ Dass Behinderte, Alte, Kinder und Kranke nicht diskriminiert werden. Und dass man Kinder, die hier völlig integriert leben, nicht abschiebt.

Mein drittes Vorbild ist Hatice Zülküflü. Eine junge Kurdin, 28 Jahre alt. Auch sie wurde lange Jahre falsch beurteilt. Und zwar durch die Ausländerbehörde. Sie hat in ihrer Heimat Kurdistan, im Südosten der Türkei, viel Schlimmes erlebt. Und dennoch hat sie ihren Lebensmut behalten, die Hoffnung nicht aufgegeben. Jetzt geht sie voller Elan ihren Weg. Sie möchte die Gesellschaft, in der sie lebt, mitgestalten und mithelfen, dass es anderen Menschen, anderen Flüchtlingen besser geht als ihr und ihrer Familie.

Ihr Leidensweg begann, als der Vater beschuldigt wurde, kurdischen Widerstandskämpfern geholfen zu haben. Er wurde gefoltert, die Augen wurden geblendet, er hat Narben, über die er nie gesprochen hat. Deshalb flieht die Familie 1991 nach Deutschland, wo schon die meisten Verwandten leben. Sie kommen in ein Heim in Bad Schwalbach und dann in ein Heim nach Sterbfritz bei Schlüchtern. 1995 trennen sich die Eltern, weil die Mutter einen neuen Partner hat. Sie entführt zwei der vier Kinder. Doch der Vater holt sie sich zurück und geht mit ihnen freiwillig in die Türkei.

Dort wird der Vater sofort festgenommen. Er kommt aber frei, und die Familie geht zum Großvater in das kurdische Dorf. Dort ist mittlerweile viel Militär stationiert, direkt neben der Schule. Hatice bekommt mit, wie kurdische Männer versammelt, verhört und geschlagen werden. Auch der Vater wird wieder festgenommen, und die ältere Schwester, die auf eine Sonderschule geht, wird ermordet. Der Vater befindet sich unter ständiger Kontrolle. So geht die Familie nach einem Jahr wieder nach Deutschland. Sie beantragen Asyl und bekommen eine Aufenthaltserlaubnis, aber immer nur für drei bis sechs Monate. Sie leben von Sozialhilfe. Der Vater bekommt zunächst keine Arbeitserlaubnis, die aber die Voraussetzung für einen Aufenthaltsgenehmigung ist. Dreimal wird ein Verfahren abgelehnt; die Familie hat wenig Hoffnung. Das Schlimmste ist: Hatice hat das Gefühl, niemand glaubt ihnen. Und eine Mitarbeiterin in der Ausländerbehörde sagt: „Sie müssen weg!“

Hatice macht inzwischen in Rodenbach den Realschulabschluss. Die Schule hilft ihr, sich zu stabilisieren; die Welt der Bücher lenkt sie ein bisschen ab. Der Vater unterstützt sie dabei; er gibt seinen Kindern das Gefühl: „Egal, was passiert, wir bleiben zusammen.“

Und dann die Wende: Nach vielen Jahren schaltet sich die diakonische Flüchtlingshilfe im Main-Kinzig-Kreis ein. Es bildet sich ein Unterstützerkreis: Bürgermeister, Lehrer, Pfarrer, Nachbarn, Freunde, Bekannte. Man demonstriert. Ein Anwalt schafft es, dass der Vater eine Arbeitserlaubnis bekommt, die Voraussetzung für eine Aufenthaltsgenehmigung, zunächst für ein bis zwei Jahre, dann unbefristet. Schließlich hält Hatice ihren Pass mit Stempel in der Hand. Geschafft. Sie hat eine Aufenthaltserlaubnis für vier Jahre bekommen. Sie steht auf einer Brücke und lacht. Vor Aufregung vergisst sie die Pässe im Bus. Sie werden gefunden und nach Hause geschickt.

Später geht Hatice in Hanau auf die Kaufmännische Schule und macht das Fachabitur. Sie nimmt Jobs an, verdient Geld, macht den Führerschein. Danach arbeitet sie 15 Monate als Aupair in London. Jetzt hat sie einen Job am Hauptbahnhof in Frankfurt, bei einer Reiseagentur. Sie lernt Spanisch und möchte in Wiesbaden Internationale Betriebswirtschaft studieren. Hatices träumt davon: dass die Familie zusammen bleibt, dass sie ihr Studium schafft, dass sie etwas zurückgeben kann aus Dankbarkeit, die größer ist als die Wut.

Drei Menschen, liebe Gemeinde, die genau das erlebt haben, wogegen Paulus sich in seinem Brief an die Korinther wehrt: dass Menschen über uns befinden mit ihrem Urteil. Paulus sagt: „Ihr könnt mich zwar richten, aber das ist nicht so wichtig, das ist mir egal.“ Nicht nur die Korinther, auch andere Menschen können ihn nicht beurteilen, ja sogar Paulus selbst hat nicht das Recht dazu. Sein eigenes Gewissen muss versagen, wenn es um die Weitergabe des Evangeliums geht. Es gibt nur einen, der in dieser Sache handelt: Gott. Und wir sind seine Diener, seine Verwalter. Wir gehören ganz zu ihm. So ist alles, was Menschen über uns denken und sagen, immer nur vorläufig, unvollständig; die letztlich wichtige Instanz ist Gott.

Deshalb appelliert Paulus auch an die Korinther: „Wartet ab mit eurem Urteil!“ Steckt mich oder andere Menschen nicht zu schnell in eine bestimmte Schublade, sondern öffnet eure Augen für all das, was noch in ihnen steckt an Fähigkeiten, gutem Willen und Liebe. Und vor allem: seht jeden Menschen aus der Perspektive Gottes an, auch die, die euch ärgern, die euch feindlich gesonnen sind, deren Verhalten ihr nicht billigen könnt.

Sich selbst und andere erst einmal aus der Perspektive Gottes sehen, das, liebe Gemeinde, kann uns eine große Unabhängigkeit geben. Denn was Gott über uns denkt, ist von vornherein positiv! Er liebt uns, wie wir sind. Das hat er uns durch seinen Sohn Jesus Christus gezeigt, und er hat uns damit verwandelt. Er hat uns zu neuen Menschen gemacht. Deshalb hat niemand die Macht, uns fertig zu machen. Vor Gott gelten die menschlichen Maßstäbe nicht. Wenn ich mir das bewusst mache, dann merke ich, wie es mir warm ums Herz wird, wie eine Kraft mich durchströmt, die mir Auftrieb gibt. Und diese Kraft macht mich weitgehend unabhängig gegenüber allen menschlichen Beurteilungen. Wenn ich mich von Gott geliebt weiß, dann kann mich so schnell nichts aus dem Gleichgewicht bringen. Keine noch so harte Kritik. Denn dann wissen wir: in Gott sind wir gerechtfertigt und angenommen.

Und das hat Folgen. Zum einen: ich lasse mich in meinem Lebensweg nicht beirren, bekomme die Kraft, Böses nicht zu vergelten, sondern mit Gutem zu antworten. So wie drei Menschen, von denen ich Ihnen erzählt habe. Und zweitens: ich kann gelassen auf meine Schattenseiten gucken und versuchen umzukehren, wo es wirklich angebracht ist. Daran erinnert uns nicht nur Paulus, sondern auch die Adventszeit jetzt. In dieser Zeit können wir uns darauf besinnen, was nicht so gut gelaufen ist in unserem bisherigen Leben. Nicht um uns selbst und andere klein zu machen, sondern um wieder frei zu werden von Schuld, Groll und Selbstzweifeln. Uns so können wir uns vorbereiten auf das Fest der Liebe Gottes, in dem er zu uns sagt: „Ihr Menschen, ihr seid mir so unendlich viel wert, so viel, dass ich zu euch kommen will, meine Kinder!“

Amen.



Prof. Dr., Pfarrer Siegfried Krückeberg
Frankfurt/Main
E-Mail: medio.ffm@ekkw.de

(zurück zum Seitenanfang)