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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag im Advent, 20.12.2015

Predigt zu Philipper 4:4-7, verfasst von Rainer Stahl

 

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,
die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
sei mit Euch allen!“

 

Liebe Leserinnen und Leser!
Liebe Schwestern und Brüder!

Paulus verändert unser Empfinden und Verhalten angesichts der Endlichkeit unseres Lebens grundlegend. Aus Romanen und Filmen, aus Berichten über in sich geschlossene religiöse Gruppierungen und Sekten kennen wir das: Menschen, die glauben, dass das Ende der Welt nahe sei, werden oft intolerant und lieblos, verabsolutieren ihre Verhaltensmuster und Anschauungen als angebliche Garanten für den erfolgreichen Sprung hinüber in die neue Welt. Davon ist hier keine Rede. Paulus vermittelt einen ganz anderen Geist.

Für diesen Geist gibt es Vorbereitungen und Ansätze in unserem Leben. Vor einigen Wochen habe ich per Zufall das Interview unseres früheren Außenministers Guido Westerwelle auf RTL gesehen – wenn ich mich recht erinnere: am 7. November 2015. Ein Anlass war die Vorstellung seines Buches „Zwischen zwei Leben“.1 Der andere überhaupt seine gegenwärtige gesundheitliche Situation nach den Therapien gegen seinen Blutkrebs, die Leukämie, und nach der Transplantation fremder Stammzellen, durch die das Immunsystem wieder aufgebaut wird. Dieser langwierige Prozess ist ja noch nicht wirklich abgeschlossen. Ein ganz klein wenig weiß ich, wovon die Rede ist, weil ich eine ähnlich erkrankte Person auf den Stationen der Onkologie besucht und begleitet habe und weil ich selbst eine ähnliche Therapie durchgemacht habe – allerdings in einer niedrigeren „Liga“, „nur“ mit der Transplantation meiner eigenen Stammzellen.

Solch ein Schicksal verändert die Einstellung zum Leben. Ein Satz von Guido Westerwelle ist mir ganz wichtig: „Man wird da dankbar für jeden Tag.“ Ich würde auch sagen: „Man würdigt die Wunder unserer Welt und unseres Lebens in ganz neuer Weise.“ Ich habe mich schon immer an den kleinen Dingen des Lebens, „am Wegesrand“, gefreut. In einer Beobachtung bündelt sich das für mich – ganz merkwürdig –: Immer, wenn ich an Sommerabenden den Fledermäusen bei ihren Flügen zusehen kann, erfüllt mich eine große Freude. In diesem Jahr habe ich sogar noch am 23. Oktober auf dem Heimweg von einem Seelsorgbesuch ein solches Flattertier gesehen, das ganz schnell über mir hinflog. Dankbarkeit für jeden Tag und für die „kleinen“ Erlebnisse – die sollte uns auszeichnen, wenn wir existentiell begriffen haben, dass unser Leben endlich ist und uns noch Zeit geschenkt wird!

Und genau diese Haltung sehe ich in der Aufforderung des heiligen Paulus: „Eure / unsere Επιεικές /Epieikes für alle Menschen erkennbar werden zu lassen!“ Nicht unsere Verbissenheit. Nicht unsere Verbohrtheit. Nicht unsere Ideologisiertheit. Sondern unsere Epieikes! Was ist das? Ich schaue gerne in ein altes Lexikon des weltlichen / antiken Griechisch nach: „Anständigkeit“, „Milde“, „Nachsicht“. Martin Luther hat einmal einen Begriff verwendet, den wir gar nicht mehr kennen, der uns übersetzt werden müsste: „Lindigkeit“. Interessant ist für mich, dass dieses Wort in meinem alten „Duden“ gerade mit „Zartheit“ und „Milde“ übersetzt wird!2 Ich würde auch sagen: „Freundlichkeit“, „Aufmerksamkeit“, „Hilfsbereitschaft“.

Allen Menschen gegenüber! Mir sind diejenigen in unserer Gesellschaft ein besonderes Beispiel, die sich für die ankommenden Kriegsflüchtlinge einsetzen, die freie Zeit und Möglichkeiten haben, direkt zu helfen. Wer sich um die Identität unserer irgendwo und irgendwie – das konkrete Maß will ich jetzt nicht reflektieren – jüdisch-christlich geprägten Kultur sorgt, sollte als Christ wissen, dass es nur eine Verhaltensweise gibt: diejenige nämlich, die Paulus den Gemeindegliedern in Philippi und darüber hinaus uns allen empfiehlt: Zeigt allen Menschen Eure Freundlichkeit!

Wäre das nicht eine Aufgabe für uns in dieser letzten Woche des Advents?! Also für die fünf Tage dieser Woche?! Den heutigen Sonntag?! Und den Montag, den Dienstag, den Mittwoch und den Donnerstag?! Allen Menschen Freundlichkeit zu zeigen! Und ab Weihnachten, ab dem 25. Dezember, dann sowieso!

Nacheifern den britischen, den französischen und den deutschen Soldaten zu Weihnachten 1914, die die Kampfhandlungen unterbrochen und sich verbrüdert haben! Solch ein Symbol der neuen Welt unseres Herrn, der nahe ist, zu gestalten – das wäre doch die Herausforderung der kommenden Tage! Paulus meint es jedenfalls. Und ich stimme ihm darin zu und empfehle es Ihnen allen!

Amen.

 

„Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“

 



Pfarrer Dr. Rainer Stahl
91054 Erlangen
E-Mail: rs@martin-luther-bund.de

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