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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Christnacht, 24.12.2015

Predigt zu Lukas 2:13-15 (dän. Perikopenordn.), verfasst von Jens Torkild Bak

 

Ein früherer begnadeter Autor der dänischen Zeitung Politiken Bjørn Bredal hat einmal in der Zeitung darüber philosophiert, was ein Ritual ist. Das ist, wenn man dasselbe in genau derselben Weise nur drei oder vier Mal gemacht hat, schrieb er. Dann ist man schon in einer anderen Welt. Man hat sich von der Unwiderruflichkeit der Zeit befreit, wo die Zeit, die vergangen ist, nie wiederkommt, und ist in die Ewigkeit eingetreten. Oder das Land der Kindheit, bei der viele von uns sich besonders an die Spiele erinnern, die wir immer wieder spielten – und aus denen eine schwindelerregende Freiheit erwuchs, bis das Dasein eines Tages dem Gesetz der Zukunft unterworfen wurde.

Nun kann man bekanntlich unterschiedliche Erinnerungen an seine Kindheit und sein Elternhaus haben. Aber die Definition eines Zuhause ist vielleicht die, die insofern auch für die Kirche gilt: dass dies der Ort ist, wo wir uns so langsame Veränderungen wie möglich erlauben. Wo wir dieselben Dinge immer wieder tun – dass ist eigentlich das, was wir Bildung nennen! – und in dieser Weise einen starken persönlichen Schutz gegen die Woge der Zeitläufte. Deshalb haben wir – und nicht nur Joseph, der dies zusammen mit der schwangeren Maria wegen dieses Volkszählung musste – einen großen Bedarf, Weihnachten nach Hause zu kommen, um daran erinnert zu werden, wer wir waren und wer wir geworden sind – ehe die Zeit kam, als wir genötigt waren, mit dem Denken aufzuhören, weil wir nun mit der Zeit gehen und unsere Kompetenzen entwickeln mussten, statt uns zu bilden.

Über all dies schrieb Bjørn Bredal dann im Übrigen im Hinblick auf die Kirche und den Weihnachtsgottesdienst: Ohne dass Ihr wie Kinder werdet, kommt Ihr bekanntlich nicht ins Himmelreich. Die Kirche verweist auf das Heilige allein schon dadurch, dass sie rhythmisch wiederkehrend ist, und der Jahresrhythmus ist gar keine so schlechte Frequenz. Also zum Beispiel Heiligabend in die Kirche zu gehen. Was der Pastor dann sagt, ist eigentlich nicht so wichtig. Denn es ist weder die Menge noch die Qualität, die es macht.

Bjørn Bredal ist ein Freund! Besonders das Letzte, dass es nicht so genau darauf ankommt, was der Pastor an diesem Abend sagt, ist ein großer Trost in einer Zeit, in der Köpfe in der Welt im Namen Gottes abgehauen werden und wo es so viel gibt, mit dem man im Grunde nichts zu tun haben will.

Wenn es um Heimat geht, die Möglichkeit, in irgendeinem Sinne zurückzukehren, da ist unsere Heimatstadt Ribe ein vorzüglicher Rahmen. Die alten Häuser, die kleinen Gassen, die lange Geschichte, die vielen Vereine und Gemeinschaften sind Grundlage einer Erinnerungskultur, wo wir noch immer daran denken, wer wir sind und warum es so kam, wie es gekommen ist. Es gibt auch sehr viel Freundlichkeit an Weihnachten. Die Leute geben sich wirklich Mühe auf der Straße und in der Läden. Da ist schöne Musik, und die Post liefert trotz weihnachtlichem Hochbetrieb Umschläge mit einer guten Laune von der Art, die einen glauben lässt, dass alles noch einige Zeit so gehen wird. Wenn man dazu fügt, dass mein Zahnarzt sich in einem befreienden Augenblick  von dem Elend meines Mundes erhebt um mit dem Bürgermeister über einen Bierausschank für die ganze Stadt zu reden, der für das Fest mit Tannenzweigen an den Ecken geschmückt ist, scheint alles in seiner Ordnung zu sein.

Uns geht es gut in Ribe, und nicht nur in Ribe, sondern in ganz Dänemark. Wir haben viel, über das wir uns freuen können, vieles, für das wir danken können. Friede, materielle Sicherheit und nicht zuletzt Rechtssicherheit. Verglichen mit anderen Zeiten und mit dem, was Menschen in dieser Zeit in anderen Teilen der Welt erleiden müssen, hierunter im Nahen Osten, wo die Botschaft der Weihnacht von Versöhnung und Frieden zuerst erging – muss man sich ja schämen, wenn darüber gejammert wird, dass Dänemark nun auf der Liste der reichsten Länder der Welt nur Nummer zehn ist – und dann auch noch darüber, dass die Schweden Nummer neun sind!

Aber jede Zeit hat ihre Verzweiflung, und wir haben in Dänemark auch unsere Sorgen, vielleicht besonders die Entfremdung, die für viele Menschen die Kehrseite der Entwicklung ist, die Dänemark so viel Gutes gebracht hat. Viele Menschen fühlen sich in ihrem Leben nicht mehr zuhause: auch nicht zu Weihnachten. Viele, allzu viele stehen dem Fest fern, unfreiwillig angebracht auf den Zuschauerrängen der Gesellschaft. Der Abstand zwischen Reichen und Armen wächst. Und auch wenn man zu den Privilegierten gehört, denen es nach außen gesehen gut geht, kann man sich dennoch abgehängt fühlen. Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang den deutschen Soziologen Hartmut Rosa zu zitieren, der noch keine 50 Jahre alt ist, als dem Buch „Beschleunigung und Entfremdung“, in dem ich persönlich Trost gefunden habe, wobei ich im Namen der allerschwierigsten Jungen in der Klasse mich gerne bei den Glücklichen entschuldigen möchten, die das mit dem PC nur so können und deshalb immer sich damit abmühen mussten, uns anderen zu helfen. Hartmut Rosa schreibt nämlich:

„Mein Handy, mein Transistorradio (oder iPad oder wie das nun heißt) und mein PC (oder Laptop oder Notebook etc.) werden klar immer raffinierter, aber zugleich entsteht ein immer größerer Abstand zwischen ihnen und mir. Auf meinem alten Transistorradio konnte ich die Uhr einstellen, aber das kann ich bei meinem neuen Ipad nicht … Auf meinem alten Handy konnte ich den Klingelton einstellen – das kann ich bei meinem neuen Smartphone nicht.

Je raffinierter die Dinge werden, desto dümmer werde ich im Verhältnis zu ihnen. Tatsächlich verliere ich kulturelles und praktisches Wissen. Das ist eine natürliche Folge der ewigen Abwertung von Erfahrung aus Rücksicht auf Innovation.

Ich werde auch meinem eigenen Eigentum in dem Sinne entfremdet, dass es mir nicht gefällt, dass ich es nicht ordentlich behandele. … Die Dinge sind so wertvoll und smart, und ich behandele sie wie ein totaler Idiot. Das gilt leider nicht nur für die Hardware, sondern auch die Software. Mir war das alte DOS-basierte Word sehr vertraut … Ich war auch einigermaßen vertraut mit dem XP-System für den täglichen Gebrauch … Aber ich fühle mich als totaler Analphabet gegenüber der neuen VISTA-Plattform: Ich kann meine Shortcuts nicht mehr finden, auch nicht Graphik und Tabellen usw. Kurz: Die neue Software und ich sind einander völlig entfremdet, und dasselbe gilt meiner neuen Uhr, meinem neuen iPad (ok, um ehrlich zu sein, ich habe keinen iPad, aber ich kann auch meine neues DAB Radio nicht bedienen), meinem neuen Mikrowellenofen“ (nach der dänischen Übersetzung)

Missversteht mich nicht! Wenn die Wahl stünde zwischen einem IT-Kalifat und einem religiösen Kalifat, wo Schulkinder im Namen des Höchsten ermordet werden, bin ich nicht im Zweifel, was ich vorziehen würde. Dann nehme ich gerne noch ein unverständliches Update vom IT-Konzern des Kirchenministeriums entgegen. Aber das ändert nichts daran, dass wir aufpassen müssen, ob wir nun im Dienst der einen oder anderen Sache stehen, dass wir an der Effektivierung und Vervollkommnung dieser Welt arbeiten, dass wir dabei den Menschen nicht verlieren, für den das Ganze im Grunde geschieht.

Nicht jede Situation kann mit einer neuen Reform gelöst werden, einem neuen Steuerungssystem, einer neuen Führungsschicht, einem neuen Gesetz, einem neuen politischen Eingriff. Manchmal, und das ist nicht selten, sind wir nur als Menschen gefragt. Als Menschen für einen anderen Menschen neben uns, sollen wir wissen, dass wir einander brauchen.

Oder nur, wenn es nicht anders sein kann, dass da jemand ist, der für einen beten will, wie die Dichterin Helle Søtrup dies mit bewegendem Realismus in ihrer Gedichtsammlung „Schick mehr Engel“ tut, z.B. in dem, das sie Gebet Nr. 2 nennt“:

Ich bete für die, in denen kein Licht mehr ist, ohne Sehnsuchtserinnerung und Kraft. Ich bete für die, die in einem geschlossenen Raum wohnen; allein, verwirrt und stumm, und für die, die das Blaue nicht zurückgeben können.

Ich bete für die, die bereut haben. Ich bete für die, die in ihrem Leben nicht zuhause sind, für die Mädchen mit den Schwefelhölzern, für die Knechte und Vagabunden. Ich bete für die, die es nie gesagt kriegen.

Ich bete für die, die den Tod im Herzen tragen und in der Trauer Wurzeln schlagen. Ich bete für die, die es fast nicht mehr gibt. Ich bete für die, die ein kleines Leben leben.

Ich bete für die, die hoffen, es wird schon gehen.

So ist das Leben. Und im Angesicht dessen wird die Weihnachtsbotschaft zu einem Gebet. Ein Gebet, das wir für uns selbst beten, für einander und für die Welt. Ein Gebet, wo wir ich Lichte der Friedensbotschaft von Gott gewahr werden, wer wir sind, woher wir kommen, und wofür das alles gut ist. Ein Gebet, in dem wir uns darin üben, daran zu denken: Ohne Freude, ohne Hoffnung, ohne Glaube – ohne all dies, das uns enger zueinander bringt und zu uns selbst komme lässt; ohne das, was uns das Laben wiederbringt und uns dem leben wiederbringt; ohne die Liebe, wegen der Gott Mensch wurde in Jesus von Nazareth – wird jedes Leben und jede Gesellschaft eine Wüste, ganz gleich wie effektiv sie organisiert ist. Amen.



Dompropst Jens Torkild Bak
DK-6760 Ribe
E-Mail: jtb@km.dk

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