Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Christnacht, 24.12.2015

Predigt zu Römer 1:1-7, verfasst von Jennifer Wasmuth

 

Liebe Gemeinde,

ankommen, heimkommen, sich fallen lassen, Geborgenheit finden – nicht auf der Flucht sein, nicht zerrieben werden durch die äußeren politischen Umstände, nicht getrieben sein von inneren quälenden Ängsten: die Weihnacht, die Heilige Nacht, sie will uns eine Ahnung davon geben, was es bedeutet, eine Heimat zu haben – eine Heimat im Glauben, eine Heimat bei Gott.      

Heimat – das ist ein großes Wort, das oft kleingeredet wird: als würden wir in einer globalen Welt, in der jeder mit jedem kommunizieren kann, in der wir mühelos bis in die äußersten Winkel dieser Erde reisen und uns mit nur einem Mausklick die entferntesten Regionen auf den Bildschirm holen können, als würden wir in einer solchen Welt auf das verzichten können, was Heimat ausmacht: einen Ort zu haben, der uns vertraut ist, wo wir jeden Strauch und Baum kennen, jede Gasse, jedes Haus; wo wir Menschen nicht nur flüchtig begegnen, sondern um ihr Leben, ihr Schicksal wissen, ihre besonderen Vorlieben, ihre Eigentümlichkeiten; wo auch wir selbst nicht die Fremden sind, die Zugereisten, Zugezogenen, die höflich gegrüßt werden, sondern wo wir als Teil einer Gemeinschaft wahrgenommen werden, die sich gegenseitig stützt, die von der selbstverständlichen Erwartung lebt, dass wir füreinander da sind – in den Hochzeiten des Lebens ebenso wie in den Zeiten unerwarteter Einbrüche.

Heimat – das ist ein großes Wort, das leider oft missverstanden und auch missbraucht wird: als sei die Heimat ein Besitz, der gegen andere verteidigt werden müsse, als ließe sich anhand bestimmter Merkmale definieren, wer zur Heimat dazugehört, wer die richtige Hautfarbe, wer die richtige Gesinnung hat; als sei die Heimat etwas für die Beschränkten und Feiglinge unter uns, die sich nicht in die weite Welt hinaus trauen und an starren Gewohnheiten festhalten, so wie es der Schriftsteller Martin Walser einmal meinte: „Heimat, das ist sicher der schönste Name für Zurückgebliebenheit.“ Dabei ist Heimat, recht verstanden, das genaue Gegenteil: es ist eine ständige Herausforderung, eine Aufgabe, die viel Einsatz und Gestaltungswillen verlangt und sich gerade nicht den Zukunftsfragen verschließt. Wenn Heimat bedeutet, ein Zuhause zu schaffen für Alt und Jung, für diejenigen, die schon über Generationen an einem Ort leben, wie für diejenigen, die eben erst ihr Haus gebaut haben, dann geht es gerade um das stete Bemühen, verschiedene Sichtweisen zusammenzubringen und Lösungen zu finden, die einen Ort für alle, die dort leben, zu einem Ort werden lassen, den sie als ihre Rückzugsstätte, ihren Schutzraum, ihre Heimat begreifen.      

Heimat – das ist ein großes Wort, ein Versprechen, eine Verheißung, die uns als Christen in besonderer Weise gilt: Gott will unsere Heimat sein, er will uns Geborgenheit und Schutz verleihen. Bei ihm können wir alle innere Rastlosigkeit und Hast ablegen, bei ihm die Ruhe finden, nach der wir uns sehnen; unsere Klagen und Nöte finden bei ihm Gehör; bei ihm müssen wir nicht stärker sein, als wir sind. Gott will unsere Zuflucht sein, der Ort, an dem wir wieder zu uns selbst finden. „Fürchte dich nicht“, das ist die zentrale Weihnachtsbotschaft der Engel. „Fürchte dich nicht“, Gott wird sich deiner annehmen.

Diese Zusage Gottes, liebe Gemeinde, ist kein stilles Jenseitsgeflüster, das ist nicht ferne Zukunftsmusik. Gott will uns nicht erst in der Ewigkeit nahe sein, sondern hier und jetzt: „Heute ist uns der Heiland geboren!“ Und so vertrösten uns auch die biblischen Texte nicht auf eine entfernte Heilszeit, sondern ermutigen uns, unser Leben, unsere Welt, unsere Zeit in allen Höhen und Tiefen als Gottes Leben, Gottes Welt, Gottes Zeit zu begreifen.       
   
In diesem Sinne ist auch unser Predigttext zu verstehen; es ist ein Abschnitt aus dem Brief des Paulus an seine Gemeinde in Rom, und zwar gleich der Beginn des Briefes (Röm 1,1-7), der lautet:

Paulus, ein Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, ausgesondert, zu predigen das Evangelium Gottes, das er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der heiligen Schrift, von seinem Sohn Jesus Christus, unserm Herrn, der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch, und nach dem Geist, der heiligt, eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft durch die Auferstehung von den Toten. Durch ihn haben wir empfangen Gnade und Apostelamt, in seinem Namen den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden, zu denen auch ihr gehört, die ihr berufen seid von Jesus Christus.
An alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.  

Paulus erinnert hier an die Weihnachtsbotschaft: dass Gottes Sohn mitten hinein in unsere Welt geboren ist, einer aus dem Geschlecht Davids, der sich in der Auferstehung von den Toten als eben dieser Sohn Gottes erwiesen hat; dass Paulus selbst durch diesen Christus Gnade empfangen hat, dass er all sein Wirken im Lichte dieser Christusbotschaft versteht; dass diese Gnade nicht ein fernes Zukunftsversprechen ist, sondern dass sie konkret der Gemeinde in Rom gilt, denjenigen, für die Gnade nicht ein leeres Wort ist, sondern eine grundlegende Erfahrung des Lebens, den „Geliebten Gottes und berufenen Heiligen“.      

Paulus erinnert an die Weihnachtsbotschaft und formuliert damit zugleich einen hohen Anspruch: Weil Gott in Jesus Christus nicht irgendeinen fernen Planeten, sondern diese unsere Welt zu seiner Heimat gemacht hat, deshalb sind wir als Christen berufen, in dieser Welt Gottes Heil zu leben, in seinem Geist, der heiligt, die Botschaft von Gnade und Friede weiterzugeben.   
Dass dieser Anspruch hoch ist und Kirche immer wieder daran gescheitert ist, davon können gerade wir als evangelisch-lutherische Kirche erzählen: Denn uns hätte es als Kirche in dieser Form ja nie gegeben, wenn Martin Luther nicht in der Kirche seiner Zeit die Erfahrung gemacht hätte, dass von Gnade wenig zu spüren ist, dass hier, im Gegenteil, aus Gnade ein Gesetz gemacht wird. Nach Luthers Selbstzeugnissen war es gerade die intensive Beschäftigung mit dem Römerbrief des Paulus, vor allem des ersten Kapitels, aus dem unser Predigttext stammt, das ihn zu neuer Einsicht und entsprechend zu einer grundlegenden Kritik an seiner Kirche führte. Dass Kirche auch gegenwärtig diesem Anspruch des Paulus oft nicht gerecht wird, lehrt schon ein flüchtiger Blick auf die Statistik. Die Auswertung einer Befragung von Mitgliedern der Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland fasste ihre Ergebnisse so auch unter dem bezeichnenden Titel zusammen: „Fremde Heimat Kirche“.

Umso mehr sind wir gefordert – jeder Einzelne von uns –, die wir uns als Christen verstehen: dass wir unseren Beitrag dazu leisten, Kirche zu einem Ort der Erfahrung von Gottes heilsamer Nähe werden zu lassen. Das geschieht am ehesten dadurch, dass wir einander in einem bestimmten Geist begegnen, dass wir also, wie es im Spruch des ausklingenden Jahres heißt, einander annehmen, wie Christus uns angenommen hat, mit all unseren Schwächen und Stärken, und nicht unsere eigenen Ansprüche zum Maßstab aller Dinge machen. Das kann aber auch bereits dadurch geschehen, dass wir unsere Umgebung ganz bewusst gestalten und ihr durch kleine Zeichen einen tieferen Sinn geben: wenn wir etwa, wie jetzt in der Weihnachtszeit, unsere Wohnungen mit Sternen schmücken, nicht etwa deshalb, weil wir eine gewisse Abwechslung mögen, sondern weil jeder Stern ein Sinnbild des Sterns von Betlehem ist, der auf die Ankunft Christi in dieser Welt verweist; wenn wir Kerzen nicht vor allem deshalb aufstellen, um dem jahreszeitlichen Dunkel zu entfliehen, sondern weil der in der Krippe geborene Sohn Gottes mit seiner Auferstehung die Finsternisse unseres Lebens überwunden hat, Christus, das Licht der Welt. Das kann schließlich aber gerade auch dadurch geschehen, dass wir unsere Gottesdienste als Gottesdienste feiern, im Bewusstsein seiner Gegenwart: biblische Texte, die im Gottesdienst gelesen werden, hören wir dann nicht als Zeugnisse anderer Zeiten, sondern als Botschaften an uns; alte Lieder stimmen wir dann nicht aus nostalgischen Gründen an, aus einer falsch verstandenen Heimatliebe zu allem Rückständigen heraus, sondern weil wir empfinden, was wir singen: „Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben! Ich komme, bring‘ und schenke dir, was du mir hast gegeben.“ Wenn in dieser Weise Gotte Nähe spürbar wird, dann wird es Weihnacht und dann wird die Kirche der Ort, wo ein jeder ankommen, heimkommen, sich fallen lassen und Geborgenheit finden kann: eine Heimat im Glauben, eine Heimat bei Gott.

Amen.  



Dr. Jennifer Wasmuth
38444 Wolfsburg
E-Mail: Jennifer.Wasmuth@rz.hu-berlin.de

Bemerkung:
Frau Dr. Wasmuth ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin


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