Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Altjahrsabend / Silvester, 31.12.2015

Die Liebeserklärung Gottes
Predigt zu Römer 8:31b-39, verfasst von Gert-Axel Reuß




I.

Liebe Gemeinde,

die Worte des Paulus umschmeicheln mich wie geflüsterte Liebkosungen: „Weder Hohes noch Tiefes, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Mächte noch Gewalten, nicht einmal der Tod kann uns trennen von der Liebe Gottes.“

Ich denke zurück, schreite in Gedanken noch einmal durch das letzte Jahr. Leichtfüßig. Wie ein Geliebter. Von der Liebe Gottes umhüllt wie mit einem Schutzmantel. „Alles wird gut!“ hatte meine Mutter gesagt, als ich nach einem Sturz vom Fahrrad mit blutenden Knien auf ihrem Schoß saß. Und wurde nicht alles gut?

Alles wird gut! In der Erinnerung erlebe ich noch einmal Stationen der Bewahrung und des Glücks. Ein Beinahe-Unfall durch meine Unachtsamkeit, den ein anderer Autofahrer durch seine vorsichtige Fahrweise verhindert hat. Die Rede meiner Tochter zum bestandenen Abitur, das Strahlen auf ihrem Gesicht für die Anerkennung, die sie erfuhr. Paris am Abend des 14. Juli unter dem Eiffelturm, eher zufällig sind wir im Urlaub in ein fröhliches Volksfest am französischen Nationalfeiertag geraten, unbeschwert und ausgelassen, mit einem gewaltigen Feuerwerk. Die erlösende Nachricht, dass der Schwindel in meinem Kopf nur von den Verspannungen in meinem Nacken herrühre.

Ich sehe auf eine Kinderzeichnung, die mir meine Tante als Weihnachtsgruß sendete. Mit einigen Zeilen, dass sie eine schwere Lungenentzündung überstanden habe. Und sich über ihre Urenkel freue. Im Frühling hatten wir einen schönen gemeinsamen Ausflug gemacht, zusammen mit allen meinen Geschwistern.

Ich höre Worte wie: „Wir schaffen das!“ (Angela Merkel). Worte, die Mut machen, sich den Herausforderungen zu stellen, vor denen unsere Gesellschaft steht. Auch wenn den Worten nun Taten folgen müssen, auch wenn es Ängste gibt in unseren Städten und Dörfern - warum soll es uns und unseren Kindern nicht gelingen?
„Ich bin in das Gelingen verliebt!“ Das sagte zwar ein anderer Politiker schon vor 10 Jahren, aber genau in dieser Grundhaltung will ich die Worte des Paulus lesen:

Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.


II.

Liebe Gemeinde,

ganz anders und für mich völlig unverständlich klingt eine Argumentationskette, die Paulus an den Anfang gestellt hat: Ist Gott für uns – wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?

Was wie ein Zuspruch beginnt, zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Ich will nicht schuld sein am Tod seines Sohnes und finde auch im abschließenden Satz keinen Trost: wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?

Im Gegenteil. Eine solche Kreuzestheologie erscheint mir brandgefährlich. Ohne dass ich dies heute weiter ausführen möchte: Ich halte sie theologisch für falsch und kann sie nicht in mein Gottesbild, nicht in meinen Glauben integrieren. Was die Worte des Paulus zu einem Brandsatz macht, ist der perfide Umkehrschluss: ‚Wenn Gott nicht einmal seinen eigenen Sohn verschont hat, warum sollte er mich verschonen? Wenn er ihn für mein Seelenheil geopfert hat – für wen würde er mich opfern?‘

Nein! Einen Gott, der wie Abraham das Messer zieht, um seinen Sohn übergeordneten Interessen zu opfern, will ich mir nicht vorstellen. Wie gut, dass damals – auf dem Berg Moria – ein Engel dem Abraham in den Arm fällt und Isaak rettet.

Deshalb muss man Paulus – sozusagen mit sich selbst – ins Wort fallen: „Nein, so ist Gott nicht. Er braucht keinen Sündenbock. Er muss auch nicht besänftigt werden durch irgendwelche Opfer. Im Gegenteil: Seine Güte ist unendlich. Nichts kann uns scheiden von seiner Liebe.“

So sagt es ja auch Paulus. Trübsal oder Angst, Verfolgung oder Hunger, Blöße oder Gefahr oder Schwert? Nichts kann uns scheiden von der Liebe Christi.

Liebe Gemeinde,

die Liebe Gottes ist die Liebe Christi. Und umgekehrt. Diese Gleichung macht aus einer Kreuzestheologie eine Lebenstheologie. ‚Auferweckungstheologie’ würde Paulus vielleicht sagen.

Wenn wir das wortwörtlich nehmen, ‚Auferweckungstheologie’, dann reden wir nicht vom Paradies. Nicht von irgendeiner jenseitigen Welt. Sondern von ganz diesseitigen Erfahrungen. Dann küsst uns Paulus sozusagen wach! Oder ist es nicht vielmehr Christus, der uns aufweckt? Der uns herausruft aus einem von Schicksalsschlägen und Ängsten bestimmten Leben in eine Lebenshaltung, die sich ganz von der Liebe Gottes durchdringen lässt.


III.

Liebe Gemeinde,

Inken Christiansen hat vor einigen Jahren im ‚Anderen Advent’, einem literarisch-geistlichen Adventskalender voller Bilder und Texte, die uns auf Weihnachten einstimmen, von „einer Schale Dankbarkeit“ berichtet. Auf dem Schreibtisch liegen gebliebene Notizzettel für Verabredungen, Familiennachrichten, vielleicht beim Telefonieren kurz notiert, und weitere ‚Merkposten’ werden zu eine Art ‚Erinnerungstagebuch’. Aufbewahrt in einer Schale auf der Fensterbank, die am Ende des Jahres gemeinsam gelehrt und (vor-)gelesen wird.
 
Im ‚Kummerkasten’ unserer Kirche liegen verschiedene Gebete und Anliegen, die wir sonntags auf den Altar legen: Dank- und Bittgebete, Stoßseufzer, manchmal auch Anklagen. In geeigneter Weise versuchen wir die verschiedenen Anliegen einzubeziehen in unsere Gottesdienste. Manchmal mit beschwingtem Herzen, im Mitfreuen über die Geburt eines Kindes, über eine überwundene Krankheit, über Bewahrung in der Not. Manchmal mit weichen Knien, weil menschliches Leid konkret wird und einen Namen bekommt.

Ich erlebe beides als eine Berührung. Als eine Berührung durch die Liebe Christi, die uns in Bewegung setzt. Ins Mit-denken, ins Mit-leiden und manchmal auch ins Tun. Die Kollekte, die wir in unseren Gottesdiensten einsammeln, ist ja ein Ausdruck tätiger Nächstenliebe. Die Menschen, die in unserer Stadt in der Betreuung der Flüchtlinge ehrenamtlich aktiv werden, kommen auch aus unserer Gemeinde.

Gelegentlich wird ein Gebet zur Anregung für einen Besuch. Und wenn es auch nicht die Ankunft des eigenen Enkelkindes ist, für die Menschen in unsere Kirche gekommen sind, um Gott zu danken, so kann dieser Dank ein Impuls sein für die Beziehungen und Nachbarschaften, in denen wir leben. Auch im Mit-tragen von leidvollen Erfahrungen und Situationen.

All dies geht mir durch den Sinn im Rückblick auf ein ganzes Jahr 2015. Im Rückblick auf mein ganz persönliches Leben. Auf das, was unsere Gemeinde und unsere Kirche beschäftigt hat. Auch auf die Herausforderungen in unseren Dörfern und Städten, in unserem Land, vor denen wir stehen. Auf leidvolle Erfahrungen und verstörende Nachrichten.

Ich bin gewiss, dass Gottes Liebe in allem wirken will und wirken kann. Weil uns keine Macht der Welt von ihr trennen kann.

Amen.



 



Domprobst Gert-Axel Reuß
23909 Ratzeburg
E-Mail: gertaxel.reuss@ratzeburgerdom.de

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