Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Neujahrstag, 01.01.2016

Predigt zu Matthäus 6:5-13 (dän. Perikopenordn.), verfasst von Marianne Frank Larsen

 

Als Kristin Lavranstochter sieben Jahre alt ist, darf sie zum ersten Mal mit ihrem Vater auf die Alm gehen. Es ist ein sonniger Tag, es geht dem Sommer entgegen, und als der Vater und seine Leute im grünen Gras Mittagspause halten, geht das kleine Mädchen in dem Buch von Sigrid Undset allein auf Entdeckung den Abhang hinunter. Sie pflückt Beeren, und sie pflückt Blumen, die sie zu einem Kranz flicht und in ihr Haar setzt. Und sie lächelt zufrieden zu ihrem eigenen Spiegelbild im Bach – und dann lächelt sie nicht mehr. Denn im Spiegel des Baches sieht sie eine Frau auf der anderen Seite des Baches, am Waldrand, nur in grüne Blätter gekleidet, und die Frau winkt sie zu sich mit einem goldenen Kranz in der Hand. Hinter Kristin wiehert das Pferd des Vaters laut und erschreckend, und sie sieht, wie es sich aufbäumt und fortstürzt, so dass die Erde bebt. Und da merkt Kristin, dass sie in Gefahr ist, dass die Frau dort drüben sie zu etwas verlocken will, das sie nicht darf. Und Kristin schreit nach ihrem Vater und stürzt und klettert und fällt und kriecht zurück, den Abhang hinaus, während der Schweiß strömt und das Herz schlägt und die Kehle sich zusammenschnürt, so dass sie nur den Namen ihres Vaters immer wieder flüstern kann. Schließlich hört sie seine Stimme rufen und sieht ihn kommen in großen Sprüngen den Abhang hinab. Und Lavrans nimmt seine Tochter zu sich, schlägt ein Kreuz über sie, hebt sie auf und trägt sie in seinen Armen den ganzen Weg bis auf die Alm. Da erst hört Kristin auf zu weinen. Als sie auf dem Schoß des Vaters sitzt und Grütze und Sahne isst mit demselben Löffel wie er.

Mitten in dem größten Schrecken ist Kristin also nicht sich selbst überlassen. Da ist einer, mit dem sie verbunden ist, einer, den sie kennt, einer, den sie beim Namen ruft. Nicht irgendein Name, sondern der Name ihres Vaters. Im selben Augenblick, als sie das Grauen packt, fällt ihr dieser Name ein, er liegt ihr auf den Lippen, ihn ruft sie, und sie flüstert ihn immer wieder, als sich ihre Kehle zusammenschnürt. Vater, oh, Vater. Und um selben Augenblick, als sie seine Stimme hört und ihn kommen sieht, wie er über den Abhang springt, weiß sie, dass sie gerettet ist. Sie braucht nicht mehr zu laufen; sie fällt ins Gras, denn wenn er kommt, braucht man keine Angst mehr zu haben. In seinen Armen ist alles gut. Jeder, der selbst als Kind Angst gehabt hat, vor dem Gewitter, der Dunkelheit, dem Alptraum, der weiß, welchen Unterschied es macht im größten Schrecken: dass mein einen Namen hat, den man anrufen kann, Arme, in denen man ruhen kann, einen, der hört und kommt, wenn man ruft.

Das haben wir bekommen. Das ist Gott für uns. So ein Vater, wie Lavrans es für Kristin ist. In der Weihnacht wurde Gott dies, als er seinen eigenen Sohn von einer Mutter gebären ließ, um uns verwandt zu werden. Denn als der Sohn Gottes als unser Bruder geboren wurde, wurden wir seine Brüder und Schwestern und hatten einen Vater mit ihm gemeinsam. Und das Kind von Bethlehem wuchs auf und lehrte uns, dass Gott einen wichtigen Namen hat: Nicht der Allmächtige, nicht Schöpfer des Himmels und der Erde; das kommet erst danach, sondern Vater. Das kommt zuerst. Das ist das erste, Gott ist für uns: Vater unser. Unser Vater. In diesem Glauben lebte Jesus selbst sein Leben und gab alles, was er hatte, im Vertrauen darauf, dass sein Vater, ganz gleich wo er war, ihn hören und kommen würde, wenn er ihn rief, und ganz gleich, was er im verlassen musste, sein Vater würde ihn nie verlassen. Deshalb konnte er sich selbst und sein Leben Karfreitag hingeben. Ostermorgen zeigte sich, dass sein Vertrauen nicht zuschanden wurde. Dass der Vater ihn hörte, als er im größten Schrecken war, kam und ihn Aus dem kalten Grab holte, hinauf in seine Arme. Die Bewegung kann man in dem mittelalterlichen Altarbild der Kirche von Herslev sehen. So wie Lavrans Kristin aufhob, wie unsere Eltern uns getragen haben, wie wir unsere kleinen Kinder getragen haben, so nimmt Gott Vater seinen toten Sohn zu neuem Leben in seine Arme. Sein mildes Antlitz vergisst man nie.

Als wir getauft wurden, wurde zu jedem von uns gesagt, dass der Vater Jesu auch unser Vater ist. Als das Wasser über uns tropfte, während die Worte erklangen, wurden wir von Gott geboren als seine geliebten Kinder, Schwestern und Brüder seines eigenen Sohnes. Er betete das Vaterunser für uns. Mit diesen Worten hob er uns empor in die Arme seines Vaters und gab uns seinen Vaternamen, dass wir ihn anrufen können. Seit dem haben wir ihn gehört und mit gebetet, zuhause und immer hier in der Kirche – als eine ständige Erinnerung daran, dass wir nicht uns selbst überlassen sind und dass Gott nicht irgendwer ist, sondern unser Vater. Auch wenn es schwer zu sehen ist. Für uns wurde gebetet, als wir konfirmiert wurden, als wir getraut wurden, und es wird auch gebetet, wenn alles vorbei ist. Das zieht sich wie ein roter Faden durch unser Leben als Christen. Der rote Faden, der uns mit den Menschen verbindet, die vor uns gelebt haben, die uns gelehrt haben, das ist der Name Gottes ist. Der rote Faden, der uns mit denen verbindet, die nach uns kommen und denen wir diesen Namen weitergeben sollen. Der rote Faden, der uns miteinander verbindet, weil wir, so verschieden wir sind, denselben Vater im Himmel haben. Das Vaterunter ist der rote Faden, der uns miteinander verbindet und vor allem mit dem Gott, der unser Vater geworden ist.

Der Vater weiß, was wir brauchen, noch ehe wir darum bitten, sagt sein Sohn. Wir bitten also nicht, um ihn darüber zu informieren, was wir brauchen. Wir beten überhaupt nicht seinetwegen, sondern für uns selbst. Um uns selbst daran zu erinnern, dass wir einen Namen haben, den wir anrufen können und in dem wir Ruhe finden. Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob wir hoffen und uns sehen und uns ängstigen und wünschen und uns sorgen ins Blaue hinein. Oder ob unsere Hoffnung und Sehnsucht, unser Wünschen und unser Sorgen und unsere Angst die Form des Gebets haben und sich an einen richten, der unser Vater ist. Solange sich unser Sehnen und unser Wünschen nur auf das Glück richten, bestimmen wir selbst, was wir brauchen. Das bestimmte Ergebnis, das bestimmte Erlebnis, das bestimmte Leben. Und solange unser Sorgen und unsere Angst sich nur auf das Schicksal richten, definieren wir selbst, was wir vermeiden sollen. Das bestimmte Ergebnis, der bestimmte Verlust, das bestimmte leben. Solange finden wir keine Ruhe. Denn aus der Begegnung zwischen meinen Sorgen und dem blinden Schicksal, oder zwischen meinen Wunschträumen und dem launischen Glück erwächst keine Geborgenheit. Nur Ungewissheit und Unruhe. Alles kann immer verlorengehen. Das ist das Spiel der Zufälligkeiten.

Aber in dem Augenblick, in dem wir unseren Wünsche und Sorgen die Form des Gebets geben und das Gebet an einen  anderen richten, liegt es nicht mehr an uns, was wir haben sollen und was nicht. Da lassen wir das los und legen es in die Hand dessen, der nicht blind ist wie das Schicksal und launisch wie das Glück, in die Hand des himmlischen Vaters, den wir kennen, und der weiß, wir bedürfen. Was geschieht, ist das, was er uns gibt. Das definieren wir nicht. Das müssen wir empfangen. Darin liegt eine große Ruhe.

Neujahr stehen wir wie Kristin am Bach und sehen in einen neuen und fremden Abschnitt unseres Lebens. Das siebenjährige Mädchen war ganz von Sinnen vor Schreck, kehrte um und lief zurück. Diese Möglichkeit haben wir nicht. Es gibt keinen anderen Weg als nach vorn, in das Unbekannte. Wir wissen nicht, was uns 2016 erwartet. Überwältigendes Glück oder Verlust, der nicht zu ertragen ist. In uns leben die Sorgen und Erwartungen nebeneinander, die Angst vor dem, was kommt, und die Wünsche für uns selbst und die, die wir lieben. Aber hier in der Kirche hören wir, dass wir nicht uns selbst überlassen sind. An unserer Seite lebt er, der in der Weihnacht geboren wurde, um uns seinen eigenen Vater zu geben. Mit ihm sollen wir ins neue Jahr gehen. In der Gewissheit: Ob uns das Grauen ergreift oder die Freude zwischen uns funkelt, da ist einer, der weiß, was wir bedürfen. Einer, denn wir um alles bitten dürfen. Wir haben einen Namen, den wir anrufen können, Arme, in denen wir Ruhe finden, einen, der uns hört und kommt, wenn wir rufen. Vaterunser. Amen.



Pastorin Marianne Frank Larsen
DK 8000 Aarhus C
E-Mail: mfl(at)km.dk

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