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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Altjahrsabend / Silvester, 31.12.2015

Predigt im Braunschweiger Dom
Predigt zu Römer 8:, verfasst von Christoph Meyns

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

In den Tagen um den Jahreswechsel herum blicken wir traditionell noch einmal zurück auf das, was hinter uns liegt. Wir erinnern uns an lichte Höhen und heitere Aussichten, an dunkle Täler und schwere Stunden, an breite Straßen ebenso wie an steinige Pfade. Wir führen uns vor Augen, wie es uns derzeit geht. Und wir schauen voraus auf die kommende Zeit wie auf eine Landschaft, die von frisch gefallenem Schnee bedeckt ist, noch ohne jede Spur, und überlegen, welche Wege wir wohl gehen werden, wie leicht oder mühsam es sein wird, was sich uns an Schönem und an Hindernissen zeigen mag. Das meiste daran ist sehr persönlich, manches verbindet uns mit unseren Familien, dem Freundeskreis oder den Arbeitskollegen, anderes betrifft die allgemeine Großwetterlage in Deutschland und der Welt.

Als Christen fragen wir: Wo entdecke ich im Rückblick Gottes Spuren in meinem Leben, wo war er mir nahe, wofür will ich ihm heute von Herzen danken? Wo war es schwierig für mich, aber er hat mich getragen? Wo habe ich mich ihm fern gefühlt? Und um was möchte ich Gott für das neue Jahr bitten, für mich selbst, für meine Nächsten, für Stadt und Land?

Als Anregung für diesen Tag dient der Predigttext des heutigen Tages aus dem Brief des Paulus an die Gemeinden in Rom im 8. Kapitel. Dort heißt es:

Röm 8, 31b Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? 32 Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben — wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? 33 Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. 34 Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt. 35 Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? 36 Wie geschrieben steht: »Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.« 37 Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. 38 Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, 39 weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Es gibt wohl keinen Bibeltext, den ich besser kenne und die Gemeinden, in denen ich fünfzehn Jahre Pastor war, als dieser Abschnitt. Denn ich habe ihn bei fast jeder Trauerfeier gelesen, mindestens einmal in der Woche, wenn nicht mehrmals, und das nicht zufällig. Er erinnert uns in an das Fundament, auf dem wir als Christen stehen und das uns im Leben wie im Sterben trägt. Es sind starke Worte, nicht nur so einfach daher gesagt, sondern Ausdruck einer langjährigen intensiven Glaubens- und Lebenserfahrung, wie man sie sich turbulenter, anstrengender und schwieriger kaum vorstellen kann.

II.

Der Apostel Paulus war Zeitgenosse von Jesus, ohne ihm je persönlich begegnet zu sein. Er wurde in Jerusalem zum Geistlichen ausgebildet. Damit war sein Lebensweg als Teil der Führungsschicht des damaligen Judentums vorgezeichnet. Unter anderem gehörte es zu seinen Aufgaben, als eine Art religiöser Staatsanwalt diejenigen Juden strafrechtlich zu verfolgen, die an Jesus als den Messias glaubten.

Dann aber kam es ganz anders. Vor Damaskus erschien ihm der auferstandene Christus. Paulus erlebte das als fundamentale Wende in seinem Leben, als Offenbarung der Wahrheit über Gott und die Welt und als Berufung, das Evangelium weiterzutragen. „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ Hier redet keiner, der den christlichen Glauben nur aus zweiter Hand kennt, sondern ein Mensch, der die Nähe Gottes unmittelbar erlebt hat und auf diese Weise eine Gewissheit erlangte, der durch nichts zu erschüttern war. Rund 25 Jahre lang ist Paulus danach rastlos durch Kleinasien und Griechenland gereist, hat in Synagogen und auf Marktplätzen gepredigt und zahlreiche Gemeinden gegründet.

„Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?“ Auch dies keine Worte vom grünen Tisch aus, sondern eine Aufzählung eigener Erlebnisse. Die Predigten des Paulus über Jesus als Sohn Gottes und Erlöser der Welt erregten in jüdischen Gemeinden und bei der Stadtbevölkerung häufig offene Ablehnung bis hin zum Aufruhr. Er wurde immer wieder beleidigt, verprügelt, angezeigt, ins Gefängnis gesteckt, einmal sogar gesteinigt und musste öfter vor Verfolgung fliehen. Hinzu kamen die Strapazen der Reisen, mit Hunger, Durst und Kälte und Schiffbruch.

Unser Predigttext ist also so etwas wie eine Zusammenfassung der Lebens- und Glaubenserfahrungen von Paulus, gewachsen in der Auseinandersetzung mit den zahllosen Schwierigkeiten, in die ihn sein Wirken als Prediger und Missionar führte. Die haben ihn nicht an seinen Überzeugungen irre werden lassen, sondern im Gegenteil seine Gedanken geschärft im Blick auf das, was Kreuz und Auferstehung Jesu Christi für das Leben bedeuten. Wie er es ausdrückt: „Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat.“

Kritische Situationen nicht als Anlass zum angstvollen Jammern zu nehmen, sondern als Aufforderung zur Hoffnung und zum Anpacken zu verstehen, mit der Chance, daran zu wachsen, von dieser urchristlichen Tugend können wir lernen. Das gilt für das persönliche Umfeld ebenso wie für gesellschaftliche Themen. Wir stehen im Braunschweiger Land ja vor einer ganzen Reihe von Herausforderungen: Die Abwicklung des Braunkohletagebaus, der Tourismus im Harz, die Verödung von Dörfern, der Umgang mit der Lagerung nuklearer Abfälle, die VW-Krise, die Reform der Landkreise, die Flüchtlinge, der Umgang mit salafistisch und rechtsextrem motivierten Gewalttaten, der Rückzug aus Parteien, Gewerkschaften, Vereinen und Kirchen ins Privatleben, um nur einige der Themen zu nennen, die mir als neuer Bischof im vergangenen Jahr begegnet sind. „Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat.“ Ich wünsche uns, dass wir die Zuversicht aufnehmen, die aus diesen Worten spricht und aus ihr heraus die Dinge mutig gestalten.

III.

Es ist diese am Widerstand gereifte Gewissheit, die einen unmittelbar anspringt, wenn man den Abschnitt aus dem Römerbrief heute liest. Sie entfalten die ihre tröstende und aufrichtete Kraft dort, wo Menschen wie Paulus in Bedrängnis geraten. „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ Dieser Zuspruch ist nicht gedacht für das stimmungsvolle Deklamieren in fröhlicher Runde zum Jahresausklang. Er hat seinen Sitz im Leben dort, wo der Tod in das Leben einbricht, bei Unfälle, Katastrophen und Anschlägen, in der Notfallzentrale, auf der Intensivstation und am Sterbebett.

Im Rückblick auf das vergangene Jahr muss ich vor allem an den Kopiloten der Germanwings-Maschine denken, der 149 Passagiere und Flugpersonal mit sich in den Tod riss, an den Krieg in Syrien und die Attentate von Paris, aber auch an die vielen Todesfälle, die ich im beruflichen und privaten Umfeld im letzten Jahr erlebt habe: unser Altbischof Friedrich Weber, drei Pfarrer im aktiven Dienst unserer Landeskirche, zwei Mitarbeiter des Landeskirchenamtes, die junge Ehefrau eines ehemaligen Gemeindeglieds, ein früherer Kollege, zwei unserer Verwandten. Dazu die vielen, die aus Angst vor dem Tod in diesem Jahr zu uns geflohen sind, manche von ihnen schwer traumatisiert. Ich denke an die Nachrichten von schweren Krankheiten, die mich erreicht haben oder auch an diejenigen, die über viele Jahre hinweg mit hohem Einsatz ihren Ehepartner pflegen und dabei über ihre Kräfte hinaus gefordert sind.

Vielleicht finden einige von uns in den Worten des Paulus wenig wieder von Ihrer persönlichen Situation. Vielleicht würden Sie im Rückblick eher mit einstimmen in Psalm 103,2: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Dann ist es das, was für Sie heute dran ist.

Aber diejenigen unter uns, deren Leben im vergangenen Jahr von Krankheit, Gefahr oder Tod betroffen waren, sollen doch diesen Zuspruch von hier mitnehmen: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“

IV.

Diese Worte aus dem Römerbrief sind so etwas wie eine Notfallration christlicher Spiritualität. Wir sollen uns nicht nur im Rückblick davon leiten lassen, sondern sie auch mit ins neue Jahr nehmen, regelmäßig lesen und immer parat haben, um uns bei Bedarf daran zu halten und aufzurichten. Dabei ist das ja leichter gesagt als getan. Wenn die Dunkelheit um uns wächst, geraten wir oftmals in eine Art innere Lähmung, die den Blick auf Gott verstellt und uns das Gefühl gibt, ganz und gar verlassen zu sein.

Wie Martin Luther es einmal in einer seiner Predigten über Römer 8 formuliert hat: „Dies ist ein kurzer Text, aber er ist weit von uns, wenn uns eine Not anstößt. Hier steht, Gott sei unser Freund und schenke uns mit Christus alles … Dennoch glaubt es niemand, wenn sich die Stücke bei uns erregen; Angst, Tod und Schwert. Darum ist´s not, dass man diese Worte nur frisch treibe. Denn wir glauben in der Angst keines dieser Worte. Jetzt ist es rasch geredet, aber in der Not ist es weiter von uns als der Himmel. Darum lasst uns nur diese Worte lernen, dass wir ein Fünklein davon in der Angst kriegen … Da will Gott treulich helfen und uns stärken um des Fünkleins willen.“

Es kommt also nicht darauf an, sich an der ungeheuren Glaubensstärke eines Paulus zu orientieren, der offenbar keine Angst kannte. Es reicht, seine Worte regelmäßig zu lesen, als eine Art geistliche Impfung, die uns zwar vermutlich nicht ohne jeden Zweifel sein lässt wie den Apostel, die aber doch hilft, den Dunkelheiten des Lebens das Licht der Hoffnung entgegenzusetzen. Selbst das ist im Blick auf die globalen Herausforderungen, vor denen wir stehen, schwer. Der überaus warme Dezember hat uns den rasant zunehmenden Klimawandel vor Augen geführt, dem wir als Gemeinschaft der Völker schnell etwas entgegensetzen müssen. Hinzu kommt die Frage des Umgangs mit den schwindenden natürlichen Ressourcen und der notwendige Schutz der Umwelt in Verbindung mit einer Form des Wirtschaftens, die angemessen Rücksicht auf soziale und ökologische Belange nimmt sowie die Arbeit an der Überwindung von Krieg und Bürgerkrieg. Aber wie Albert Schweitzer einmal gesagt hat: „Alles was du tun kannst, wird in Anschauung dessen, was getan werden sollte, immer nur ein Tropfen statt eines Stromes sein; aber es gibt deinem Leben den einzigen Sinn, den es haben kann, und macht es wertvoll.“

Im Urlaub auf einer geführten Wanderung mussten wir als Gruppe vor einigen Jahren eine Weile lang an einem steilen Abhang entlang laufen. Der Weg war eng, aber gut zu gehen, und meist an der Seite mit Bäumen und Buschwerk bewachsen, sodass man nicht in die Tiefe schauen musste, es gab jedoch weder Zaun noch Seil. Am Schluss, kurz bevor der Weg wieder einfacher wurde, hörte der Bewuchs auf und man konnte die Steilwand hinab bis in den Talgrund sehen. Derjenige, der vor mir ging, blickte nach unten und konnte plötzlich weder vor noch zurück. Er blieb gelähmt stehen, erfüllt von der Panik, er könnte mit dem nächsten Schritt abstürzen. Da half auch kein gutes Zureden. In dieser Situation kam der Wanderführer, der schon vorgegangen war, zurück, legte seine beiden Wanderstöcke längs um den Mann herum, ich fasste die Stöcke hinten an, der Betroffene hielt sich daran fest wie an einem Geländer und wir gingen zu dritt gemeinsam die wenigen Meter bis zum Beginn des sicheren Wegabschnitts.

Ein anschauliches Beispiel dafür, dass wir als Menschen Halt brauchen, damit wir uns von dem, was Angst macht, nicht lähmen lassen, der Blick sich nach vorn richtet und wir in der Lage sind, weiter zu gehen. Christus ist wie dieser Wanderführer, der zu uns kommt und uns weiterhilft, wenn uns die Angst lähmt. Auf ihn müssen wir fest den Blick richten. Und die Worte des Paulus sind wie Wanderstöcke, an denen wir uns festhalten können, um Halt zu gewinnen und auch in schwierigen Zeiten die Zuversicht zu behalten.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen von Herzen ein gutes und gesegnetes neues Jahr.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Gewalt, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.



Landesbischof Dr. Christoph Meyns
Braunschweig
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