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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag nach Epiphanias, 10.01.2016

Vernünftige Selbsteinschätzung
Predigt zu Römer 12:1-3 (4-8), verfasst von Güntzel Schmidt

 

Ich bitte euch, liebe Geschwister, dass ihr um des Erbarmens Gottes willen eure Körper darbringt zu einem lebendigen, heiligen Opfer, das Gott gefällt, zu eurem geistigen Gottesdienst. Und passt euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch durch Erneuerung eures Denkens, um zu prüfen, was der Wille Gottes ist: das Gute, und das, was Gott gefällt, und das Vollkommene.

Denn ich sage euch durch die Gnade, die mir gegeben wurde, allen, die bei euch sind: Überschätzt euch nicht über das hinaus, was schätzenswert ist, sondern schätzt euch vernünftig ein, jeder so, wie Gott das Maß des Glaubens zugemessen hat. Wie wir ja in einem Körper viele Organe besitzen, die Organe aber nicht alle die selbe Funktion haben, so sind wir alle ein Körper in Christus, aber untereinander sind wir Organe. Wir besitzen ja unterschiedliche Gaben entsprechend der Gnade, die uns zuteil wurde, sei es Prophetie in Übereinstimmung mit dem Glauben, sei es Dienst als Diakonin, sei es Unterricht als Lehrerin, sei es Seelsorge als Seelsorgerin. Wer Almosen gibt, tue es ohne Berechnung; wer der Gemeinde vorsteht, tue es eifrig; wer Barmherzigkeit übt, tue es heiter.

(Eigene Übersetzung)

 

Liebe Schwestern und Brüder,

aus dem langen Abschnitt des Predigttextes möchte ich einen einzigen Satz herausgreifen, der für mich das Zentrum und zugleich die Zusammenfassung des Predigttextes bildet. Martin Luther übersetzt diesen Vers so:

"Niemand halte mehr von sich,
als sich's gebührt zu halten,
sondern halte maßvoll von sich,
ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat."

Wenn man das so hört, denkt man an "Mäßigung": Man soll nicht überheblich, sondern demütig sein. Die Demut hat sich als Christliche Haltung, ja, als christliches Erkennungsmerkmal über die Jahrhunderte herausgebildet:

Ein Christ ist nicht eitel - darum war Schmuck in der Kirche verpönt. Man ging in gedeckten Farben zum Gottesdienst, oder am besten gleich in Schwarz. Noch heute sind wallende Haare und kurze Röcke in manchen Kirchen nicht gern gesehen.

Ein Christ ist auch nicht stolz - die gebeugte Kopfhaltung kennzeichnet die Christin, ebenso die Bescheidenheit. Nie würde man sich selbst loben, nie sich seiner Tat rühmen, nie seinen Namen unter etwas setzen, das man für die Kirche getan hat.

Ein Christ fällt nicht auf - weder durch Lautstärke, noch durch Piercings, Tattoos oder schrille Kleidung, noch durch sein Verhalten. Kinder haben den Gottesdienst gefälligst nicht zu stören. Und wenn eine Mutter stillen oder ein Baby schreien muss, dann gehen sie dafür bitte vor die Tür.

Ich frage mich, ob dieses - eher oberflächliche, auf Äußerlichkeiten bedachte - Verständnis dem Anliegen des Paulus gerecht wird. Schauen wir uns zum Vergleich die Übersetzung eines anderen großen Theologen an. Ernst Käsemann übersetzt in seinem berühmten Kommentar zum Römerbrief:

"Denkt nicht hochfliegend über das hinaus,
was zu denken sich gebührt,
sondern seid auf Besonnenheit bedacht."

"Was zu denken sich gebührt" - auch bei Käsemann geht es Paulus um das, was sich "schickt". Allerdings nicht um Äußerlichkeiten wie die Kleidung, sondern um die innere Haltung, die Geisteshaltung. Wir sollen beim Glauben besonnen bleiben, denn wir schweben in Gefahr, dem Schwärmertum zu verfallen und damit die gesunde, rationale Basis des Glaubens zu verlieren. Auch diese Einstellung ist gut protestantisch; uns ist jede Ekstase im Glauben nicht nur fremd, sondern peinlich und verdächtig. Verlegen beobachten wir Gottesdienste afrikanischer oder amerikanischer Gemeinden, in denen Gläubige vor Verzückung "Amen" oder "Halleluja" schreien, in Trance geraten oder sogar tanzen! Wir dagegen bleiben lieber still in unserer Bank sitzen; selbst der Friedensgruß oder der Kreis beim Abendmahl ist für manche schon des Guten zuviel.

Ich würde es nie wagen, dem großen Theologen Ernst Käsemann zu widersprechen. Aber neugierig bin ich doch, was ein anderer großer Theologe zu dieser Stelle zu sagen hat. Er machte mit seinem Kommentar zum Römerbrief mindestens ebenso viel Furore wie Käsemann: Karl Barth. Barth übersetzt:

"Jeder von euch wolle sich in seinem Sinn nicht auf eine Höhe begeben,
die keinen Sinn hat, sondern darauf sinnen, besonnen zu sein."

"Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen …" fällt mir dazu als erstes ein, und genau das ist gemeint: Man soll nicht auf jeden Berg klettern, nur, weil er da ist. Karl Barth mahnt die Kirche davor, jedes Schwein zu reiten, das gerade durchs Dorf getrieben wird. Kirche soll nicht jede Mode mitmachen - gestern Management, heute Spiritualität, morgen - wer weiß? Statt Kirche "machen" zu wollen, sollen wir Kirche "sein", indem wir "reden und hören, was von Gott aus über unser Leben zu sagen ist". Kirche existiert nicht durch unser Tun, unser Engagement, unsere Ideen, sondern wann und wo Gott es will. Es ist Gott fast gleichgültig, ob, wieviel und was wir zu seiner Kirche beitragen.

Jetzt haben wir die Meinung zweier berühmter Theologen gehört. Aber beide sagen nichts über den kleinen Satz, der doch auch zu unserem Vers gehört, über das "Maß, mit dem Gott den Glauben zugemessen hat".

Wenn man, wie Käsemann, den Vers als Ermahnung zu maßvollem Glauben versteht, kann man nichts damit anfangen, dass Gott den Glauben unterschiedlich zuteilt - denn dann könnte es ja durchaus sein, dass Gott jemandem eine größere Portion Glauben gegeben hat, die jetzt aus ihm heraussprudelt, ihn zum Singen und Tanzen bringt.

Wenn man, wie Barth, einschärfen will, dass mit unserer Kraft nichts getan ist und wir uns bloß nichts auf unser Tun einbilden sollen, passt die Glaubenszuteilung durch Gott auch nicht so recht. Denn Gott gibt uns ja offenbar Glauben, durch den wir etwas tun, etwas bewirken können und dürfen.

Was also meint Paulus mit diesem Vers?

Zunächst einmal dürfte bei den verschiedenen Übersetzungen aufgefallen sein, dass es sich um ein griechisches Wortspiel handelt, das im Deutschen schwer wiederzugeben ist. Es spielt mit dem Verb φρονεῖν [phronein], das "denken", "urteilen" oder "meinen" bedeutet. Luther gibt dieses Wortspiel mit "etwas von sich halten" wieder. Das, was man von sich hält, ist die Selbsteinschätzung. Deshalb habe ich etwas freier zu übersetzen versucht:

"Überschätzt euch nicht über das hinaus, was schätzenswert ist,
sondern schätzt euch vernünftig ein,
jeder so, wie Gott das Maß des Glaubens zugemessen hat".

Selbsteinschätzung ist schwer - obwohl wir es täglich üben. Täglich vergleichen wir uns mit anderen: Bin ich so hübsch, so schlank, so klug, so fleißig wie die oder der? Das fängt im Kindergarten an und hört mit dem Ruhestand nicht auf.

Stets fragen wir uns: Wer ist besser? Wer ist größer? Wer ist die schönste im ganzen Land? Stets vergleichen wir unser Einkommen, unsere Position, unseren Besitz.

Aber wenn wir vor anderen sagen sollten, wie wir uns selbst einschätzen, werden wir kleinlaut und wortkarg. Wenn wir auch viel von uns halten - es gerade heraus zu sagen, trauen sich die Wenigsten. Denn wer das tut, gilt als selbstverliebt und arrogant. Deshalb versucht man, sich aufzuwerten, indem man andere abwertet. Oder man lobt andere in der Hoffnung, dass sie einen zurück loben.

Es fällt uns auch schwer, uns realistisch einzuschätzen. Wer etwas kann, hält sich oft gleich für einen Experten und kann es nur schwer ertragen, wenn ein anderer es genauso gut oder sogar besser kann als man selbst. Oft hängen Selbstsicherheit und Selbstvertrauen an tatsächlichem oder vermeintlichem Können und nehmen Schaden, wenn ein anderer es besser macht.

Paulus aber gibt unserem Selbstvertrauen den Todesstoß, wenn er sagt, dass unser Können gar nichts mit uns zu tun hat, weil es eine Gabe ist, die von Gott kommt. Damit zieht er uns den Boden unter den Füßen weg. Wie sollen wir uns denn jetzt noch vor anderen hervortun?

Gar nicht, sagt Paulus. Die Gaben, so unterschiedlich sie sind, dienen nicht dazu, dass einer besser, schöner, mehr wert ist als der andere. Sie dienen einem größeren Ganzen, von dem jeder ein unentbehrliches Teil ist: der Gemeinde. In der Gemeinde sind die verschiedenen Gaben gleichrangig: Die Prophetin ist nicht mehr als die Seelsorgerin, und die ist nicht mehr als die Nachbarin in der Kirchenbank, die einem alten Mütterchen das Gesangbuch aufschlägt.

Paulus möchte einerseits, dass wir lernen, uns richtig einzuschätzen. Wir sollen nicht meinen, wir seien der oder die Wichtigste, ohne uns bräche alles zusammen.

Dass wir genauso wichtig sind wie jemand, der nur einmal im Jahr beim Aufstellen des Christbaums hilft, ist zunächst einmal ein Dämpfer für das Selbstbewusstsein. Zugleich ist es eine Entlastung: die Kirche, die Gemeinde hängt nicht davon ab, dass einige Wenige sich totarbeiten. Gemeinde ist Gottes Sache, und damit ist sie unser aller Sache.

Andererseits möchte Paulus uns dazu ermuntern, unsere Gaben als Gaben anzuerkennen. Auch wenn wir sie von Gott bekamen, waren es doch wir, die sie nutzten. Zu einer vernünftigen Selbsteinschätzung gehört, dass man wahrnimmt, was man geleistet hat, und sich darüber ungeniert freut. Nur wer die eigene Leistung sehen und würdigen kann, muss nicht neidisch auf andere sein; der kann sich über ihren Erfolg genauso freuen wie über den eigenen. An dieser Fähigkeit, sich für und über andere freuen zu können, hapert es besonders in der Kirche.

Im heutigen Predigttext geht es Paulus nicht um gute Ratschläge für das Zusammenleben der Christinnen und Christen - die kommen später im Brief. Ihm geht es um die richtige Einstellung, um die Basis, auf der wir leben und handeln. Eine solche Basis bildet die vernünftige Selbsteinschätzung. Zunächst einmal in unserem Verhältnis zu Gott: Gott ist Schöpfer, wir sind Geschöpf. Wir sollen das, was wir haben und können, nicht als unsere Leistung ansehen, sondern als ein Geschenk Gottes. Stolz soll uns nicht machen, was wir besitzen, was wir verdienen, welches Amt wir errungen haben; stolz soll uns machen, was wir in der, mit der und für die Gemeinde tun.

Dann zu unserem Verhältnis zu den anderen Christinnen und Christen: Wenn wir lernen, uns vernünftig einzuschätzen, finden wir unseren Platz im Beziehungsgeflecht der Gemeinde. Dann können wir auch anderen ihren Platz lassen, ihren Platz gönnen.

Das fällt manchmal furchtbar schwer. Nicht selten ist es ein Opfer, das wir als Christinnen und Christen bringen: Wir räumen anderen einen Platz ein, obwohl wir sie eigentlich nicht so gern dabei hätten, vielleicht nicht einmal mögen. Wir gönnen anderen einen Platz, obwohl sie ihn eigentlich nicht verdient hätten. Wir halten aus, dass andere etwas tun, was wir eigentlich als unsere Aufgabe ansehen; dass sie es tun, obwohl wir meinen, wir könnten es besser, oder auf unsere Art würde es "richtig" gemacht.

Um dieses Opfer bringen zu können, muss man jeden Tag an sich arbeiten: Sein Denken überdenken, geistig flexibel bleiben, damit man Gottes Gaben und Gottes Willen nicht nur im eigenen Tun, sondern auch im Tun der anderen zu erkennen lernt.

Das klingt richtig nach Arbeit! Und das ist auch viel Arbeit. Doch zum Glück hat Gott uns bei unserer Taufe unser Maß des Geistes zugeteilt! Gottes Geist hält unseren Geist beweglich. Manchmal begeistert er uns und reißt uns zu Taten hin, die wir uns selbst nicht zugetraut hätten. Mit Gottes Geist tragen wir neue Moden in die Kirche, und mit seiner Hilfe ertragen wir sie auch.

Amen.

 



Pfarrer Güntzel Schmidt
98617 Meiningen/Thüringen
E-Mail: guentzel.schmidt@gmx.de

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