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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag nach Epiphanias, 10.01.2016

Der vernünftige Gottesdienst
Predigt zu Römer 12:1-3, verfasst von Matthias Wolfes

Liebe Gemeinde,

„Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, daß ihr eure Leiber begebet zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei, welches sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellet euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch die Erneuerung eures Sinnes, auf daß ihr prüfen möget, welches da sei der gute, wohlgefällige und vollkommene Gotteswille.“ (Übersetzung nach der Jubiläumsbibel 1912)

 

Liebe Gemeinde,

das entscheidende Stichwort unseres Textes lautet: „vernünftiger Gottesdienst“. Um den „vernünftigen“ oder auch „vernunftgemäßen“ Gottesdienst geht es. Nun nennen wir, was wir heute hier an diesem Ort tun, gleichfalls „Gottesdienst“. Wir sind versammelt, um Gottes Wort zu hören, ihm zu danken und uns in der Zuversicht auf seine Treue gegenseitig zu bestärken. Wir „feiern Gottesdienst“. Worin besteht das Besondere, das Andere in der Redeweise des Apostels Paulus, wenn er von „vernünftigem Gottesdienst“ spricht?

Er spricht eben nicht schlechthin vom Dienst an, vor oder für Gott, sondern von ihm in einem ganz bestimmten Zusammenhang. Das Beiwort fasst das in eins, was die voranstehenden und nachfolgenden Sätze auch aussagen. Es gibt aber gleichzeitig die Richtung vor, auf die hin die ganze Passage verstanden werden soll. Zudem handelt es sich nicht einfach um eine schlichte Feststellung, eine rein mitteilende Aussage, sondern um eine Forderung.

Paulus beschreibt, was er als einen „vernünftigen Gottesdienst“ ansieht. Er gibt zu verstehen, daß damit eine Art idealer Gottesdienst gemeint ist, und erhebt dann gegenüber seinen Adressaten die Forderung, diesem Ideal in ihrer Lebensweise möglichst nahezukommen. Er ermahnt sie regelrecht dazu. Das heißt, er macht nicht nur irgendeinen Vorschlag über die rechte Gestaltung des frommen Lebens, sondern er fordert sie.

I.

Das ist nun zunächst einmal das erste, worüber man nachdenken kann. Ist es überhaupt richtig, anderen gegenüber Forderungen zu erheben, die sich auf deren religiöse Lebensführung beziehen? Gehört es wirklich zu den Aufgaben eines glaubenden Menschen, mit seinem Für-richtig-halten und Als-wahr-ansehen über sein eigenes Denken und Handeln hinauszugehen und sich damit in der Form von Geltungsansprüchen anderen zuzuwenden. Ich meine, dass hier generell größte Vorsicht geboten ist.

Was wir für die angemessene und vielleicht auch gebotene Form der Gottesverehrung ansehen, ist es eben zunächst einmal für uns. Daraus nun eine prinzipielle Forderung abzuleiten, auch alle anderen müssten den Weg gehen, den wir für uns sehen, scheint mir gefährlich. Anders als der Apostel Paulus werden wir uns wohl kaum darauf berufen wollen, dies und gerade dies sei uns aber mittels Offenbarung als das eine Richtige mitgeteilt worden. Das Miteinander religiöser Menschen setzt voraus, daß jeder den anderen als den anerkennt, der er ist. Dazu gehört auch die Bereitschaft, ihm zuzugestehen, für sich selbst eine Form gefunden zu haben, in der er seiner Nähe zu Gott Ausdruck gibt.

Mit anderen Worten: Das Recht, meine Vorstellungen vom Glauben und frommen Leben vorzutragen und anderen anzuempfehlen, habe ich nur dann, wenn ich auch akzeptiere, daß diese anderen ihrerseits solche Vorstellungen haben, die für sie ebenso gültig sind wie die meinen für mich. Unser Miteinander, unser Gespräch besteht dann darin, dass wir einer dem anderen das Eigene darbieten, engagiert in der Darbietung, aber eben auch interessiert daran, was er zu sagen hat. Ein „Richtig“ oder „Falsch“ kann es in diesem Mit- und Beieinander nicht geben. Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Dazu soll das Gespräch verhelfen; im besten Fall ist es förderlich und gibt neue Kraft zu weiteren Schritten. Auf keinen Fall aber findet derjenige den eigenen Weg, der anderen hinterherläuft und glaubt, was sie glauben, weil sie es glauben.

II.

Wie ist es nun in diesem Sinne mit der Überzeugungskraft der Worte des Apostels, seiner Mahnung zum „vernunftgemäßen Gottesdienst“ bestellt? Ich möchte noch einmal betonen: Wenn wir dieses Ideal als für uns gültig ansehen, wenn wir uns entschließen, auch unsererseits unser Leben so zu gestalten, daß es dem paulinischen Modell zufolge als „vernünftiger Gottesdienst“ aufgefaßt werden kann, dann geschieht das, weil wir selbst es für richtig halten. Es geschieht nicht, weil der Apostel Paulus, dieser, wie er selbst von sich immer wieder bezeugt, geistbegnadete und der Offenbarung teilhaftig gewordene Mann, es von uns verlangt.

Sehen wir uns die Mahnung des Paulus noch einmal an: Zum einen wird gefordert, den „Leib“ zum „Opfer“ zu geben, und zwar zu einem solchen Opfer, „das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei“. Was sollen wir uns darunter vorstellen? Welche Art der Hingabe des „Leibes“ erfüllt denn diese Kriterien? Darauf bezieht sich die Fortsetzung: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch die Erneuerung eures Sinnes.“ Das ist in der Tat höchst gewichtig. Sich nicht der Welt gleichstellen.

Paulus verlangt genau jene Selbständigkeit, die es eben verbietet, etwas für wahr und richtig oder auch für unwahr und falsch zu halten, nur weil andere oder auch „die Welt“ es dafür ansehen. Er verlangt eine „Erneuerung des Sinnes“, man kann auch übersetzen: eine Erneuerung des Denkens, und zwar in vollem Umfang zum Besseren. Das hier gebrauchte griechische Wort (nous) bedeutet auch „Geist“, Verstandeskraft, Vernunft, Urteilsfähigkeit oder überhaupt die einsichtige Umgangsweise mit Gedanken, Gefühlen, Wünschen. Gemeint ist das steuernde Moment unseres Selbstseins, jene dem Menschen ureigene Fähigkeit, sein Dasein mit Willen und Wollen zu führen, es also zu gestalten. Gemeint ist die Gestaltungskraft des Bewusstseins, jene Kraft, die uns die Fähigkeit verleiht, unser Leben verantwortungsvoll, in Verantwortung uns selbst und anderen gegenüber zu leben.

Von dieser Kraft und Fähigkeit sollen wir nun nach Paulus nicht nur an und für sich Gebrauch machen, sondern in einem sehr bestimmten Sinne. Ganz und gar konkret soll dieser Gebrauch sein, indem er nämlich stets die Frage vor Augen hat, welches die uns gestellte Aufgabe ist, und zwar gestellt im Blick auf die Gesamtheit unserer Existenz. Unser gesamtes Dasein steht in Rede. Denn die, die wir sind, sind wir ja nur, weil Gott uns als diesen einen oder diese eine gewollt hat. Er ist der Urheber unseres Daseins. Deshalb gebraucht der Apostel hier auch die so übermäßig klingenden Worte, daß wir „prüfen“ mögen, „welches da sei der gute, wohlgefällige und vollkommene Gotteswille“.

Nur wenn wir die Aufgabe wirklich auf das ganze Bild unserer Lebens- und Denkweise beziehen, kann überhaupt sinnvoll auf dieser Ebene gesprochen werden. Das Prinzipielle unseres Handelns und Unterlassens, unseres Strebens und Wollens ist gemeint. Es geht aber nicht um die Vielzahl der Entscheidungen, die wir im Laufe auch nur eines Tages treffen, wenn wir nichts anderes tun als zu leben. Es geht um die Orientierung, die Richtung, aus der heraus dann auch alle diese vielen kleinen, aber auch die großen Entscheidungen getroffen werden.

III.

Das haben wir im Sinn zu haben, wenn wir das Ideal des „vernünftigen Gottesdienstes“ bedenken. Die Mahnung des Paulus wird dann zu einer Ermutigung. Er möchte erreichen, daß wir uns energisch, mit Energie, des Prinzipiellen bewusst werden. Denn es ist wichtig, warum wir dies oder jenes so oder so tun. Glauben bedeutet: Sich seiner selbst bewusst werden.

Wir dürfen uns auf den Beistand Gottes verlassen, das ist der Ausgangspunkt von allem. Deshalb aber sind wir auch dazu angehalten, unser Leben verantwortungsvoll und bewußt zu führen. In der Sprache des Glaubens heißt das: Wir sollen so leben, daß Gott seine Freude an uns hat, und darin bringen wir uns ihm dar. Das ist der vernunftgemäße Gottesdienst.

Mit dem Strom zu schwimmen, macht solche Selbstdarbringung unmöglich. Auch hier wieder ist also die Freiheit der eigentliche Kern des Glaubens. Ein vernunftgemäßer, vernünftiger Gottesdienst ist gelebte Freiheit.

Die Gewissheit, dass Gott mir nahe ist, ist die Wirklichkeit der Freiheit. Wer an dieser Wirklichkeit Anteil hat, ist selber frei. Er ist frei nicht im Sinne eines dauernden Unabhängigseins von den Strukturen der Zeit; auch wir sind mit unserem Leben eingebunden in ein eng gewobenes Netz von Notwendigkeiten, Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten. Er ist frei, indem er sich selbst als einen betrachtet, der innerhalb dieser Notwendigkeiten lebt und handelt. Er sieht sich selbst denkend an. Er ist sich selbst nicht undeutlich. Nicht undeutlich ist ihm dann aber auch, was Gott „will“: das Gute, das, was Gott Freude macht, das Vollkommene. Die Wirklichkeit der Freiheit ist das lebendige Gute.

Amen.

 

 



Pfarrer Dr. Dr. Matthias Wolfes
Berlin
E-Mail: wolfes@zedat.fu-berlin.de

Bemerkung:
Herangezogene Literatur:
Ulrich Wilckens: Der Brief an die Römer. Dritter Teilband: Röm 12 – 16 (Evangelisch-Katholischer Kommentar. Band VI / 3), Zürich / Einsiedeln / Köln und Neukirchen-Vluyn 1982.

Der Ausdruck „Das lebendige Gute“ ist entnommen aus Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Theorie Werkausgabe. Band 7), Frankfurt am Main 1970, S. 292: „Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußtsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit [...] hat, – der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit“ (§ 142).





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