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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Septuagesimae, 24.01.2016

Die Vernunft des Glaubens
Predigt zu 1. Korinther 9:24-27, verfasst von Matthias Wolfes

 

Wisset ihr nicht, daß die, so in den Schranken laufen, die laufen alle, aber einer erlangt das Kleinod? Laufet nun also, daß ihr es ergreifet! Ein jeglicher aber, der da kämpft, enthält sich alles Dinges [Schrage: übt in jeder Hinsicht Selbstzucht]; jene also, daß sie eine vergängliche Krone empfangen, wir aber eine unvergängliche. Ich laufe aber also, nicht als aufs Ungewisse; ich fechte also, nicht als der in die Luft streicht; sondern ich betäube meinen Leib und zähme ihn, daß ich nicht den andern predige, und selbst verwerflich werde.“ (Übersetzung: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift, Stuttgart 1912)

 

Liebe Gemeinde,

wir feiern heute den Sonntag Septuagesimae. Als dritter Sonntag vor der Passionszeit läutet er die Vorfastenzeit ein. Sein Name deutet auf die siebzig Tage, die bis zum Sonntag nach Ostern (Quasimodogeniti) vergehen werden. Das ist der Ausblick nach vorne. Aber ebenso erwähnenswert finde ich, daß mit dem vergangenen Sonntag, dem letzten Sonntag nach Epiphanias, die Zeit des Weihnachtsfestkreises gerade erst abgeschlossen worden ist. In vielen Kirchen hat vorige Woche noch der Baum geleuchtet, und es ist dann wohl auch ein Weihnachtslied gesungen worden. Heute aber singen wir etwas anderes.

Das ist nun ein dramatischer Wechsel. Von Weihnachten über die Passion zu Ostern. Die liturgische Ordnung hat uns gerade noch unter den Eindruck der Geburt und Erscheinung des Herrn gestellt; jetzt geht es um sein Leiden, seinen Tod und dessen Überwindung.

Mir ist die Ordnung des Kirchenjahres generell wichtig. Besonders aber die Aufeinanderfolge dieses heutigen und des letzten Sonntages beeindruckt mich jedes mal wieder. Fast könnte man geneigt sein, davon zu sprechen, daß an dieser Stelle etwas Geheimnisvolles zum Ausdruck kommt, etwas, was schwer in Worte zu fassen ist, weil der Glaube nun einmal das Ganze des Lebens im Blick hat, Worte aber immer auf ein Bestimmtes gehen. Denn man kann ja im Grunde nicht von einem „Übergang“ sprechen. Zweierlei wird nebeneinandergestellt. Die Zeit vor der Passion ist keine Zeit zwischen den Festen, sondern sie bereitet auf die Passionswochen vor, so, wie dann diese Wochen ihrerseits zum Karfreitag hinführen und dieser schließlich „über sich selbst hinaus“ auf das Immerwährende und Unzerstörbare des Lebens.

Vielleicht kommen wir der Sache näher, wenn wir feststellen, daß zwar Weihnachten und Ostern samt der Passion an diesem Punkt des Kirchenjahres „nebeneinandergestellt“ werden, daß aber eben doch das eine dem anderen vorangeht und das andere auf das eine folgt. Ostern folgt auf Weihnachten. Aber ist wirklich Ostern „das Andere“ von Weihnachten? Das Osterfest ist der Dreh- und Angelpunkt des christlichen Jahres, wie auch der Glaube an die Unverlierbarkeit, die Bedingungslosigkeit der Gnade das schlechthin Wesentliche ist.

Wie auch immer man nun jenes Nebeneinander deuten will, es bleibt der zeitliche Ort innerhalb eines Umlaufes, der sich Jahr für Jahr erneut vollzieht. Wir waren bei Weihnachten, und wir gehen jetzt in Richtung Ostern. Das ist auch der Gedanke des Apostels Paulus in unserem heutigen Text aus dem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth.

 

I.

Leben ist „Laufen“. Doch es ist es nicht einfach aus sich selbst heraus, sondern das Leben ist „Laufen“, wenn es wirkliches Leben ist: „Laufet nun also, daß ihr es ergreifet!“ Für den Apostel ist klar, daß die Bewegung des Lebens auf etwas hin erfolgt, selbst dann, wenn dieses Etwas ein Verwerfliches ist. Worum es ihm geht, das ist die Bestimmung des Zieles. „Ich laufe aber also, nicht als aufs Ungewisse; ich fechte also, nicht als der in die Luft streicht [...]“.

Lassen Sie uns zunächst einmal beim Bild des „Laufens“ bleiben. Ist es denn wirklich so, daß damit beschrieben wird, was das Dasein ausmacht? Ist nicht überhaupt „Dasein“ oder „Sein“ mindestens auch etwas Augenblickliches? Zum Beispiel: Ich fühle mich in diesem Moment wohl. Das muß doch nicht einschließen, daß ich mir bewußt bin, vor einer Stunde sei es noch nicht so gewesen und nachher werde es dann wieder anders stehen. Leben hat in der Tat einen momentanen Aspekt. Das Hier und Jetzt ist der Ort, an dem ich bin.

Und doch: Es liegt ja auf der Hand, daß kein Sein denkbar wäre ohne ein Vorher und ohne ein Nachher. Alles, was ist, ist geworden. Und sofern es ist, wird es auch sein. Wenn ich den Blick nur ein wenig aus dem Erleben des Augenblicks erhebe, das heißt, wenn ich mir des Augenblickes als eines Momentes bewußt werde, wird mir die Verwobenheit der Zeiten bewußt. Der Moment – das „momentum“ – ist ja eben ein Zeitintervall, ein Zeitabschnitt oder auch eine Zeitphase, also ein mehr oder weniger ausgedehnter Teil der Zeit als Dauer. Von einem „Ich“ kann gar keine Rede sein, wenn nicht auch Herkunft und Zukunft mit in die Gegenwart des Seins einbezogen werden.

Die Wahrheit des Seins ist das Werden. Der Begriff „Lebenslauf“ bringt es zur Anschauung. Ich lebe jetzt (das bedeutet: im Jetzt), aber ein Leben habe ich doch nur in der Ausdehnung der Zeiten, mit den Bestimmtheiten aus dem, was gewesen ist, und den Aussichten, die ich mir von dem mache, was werden wird.

 

II.

Das Leben als ein „Laufen“. Es geschieht in der Folge von Momenten. Man wird schwerlich behaupten können, daß es sich dabei um eine irgendwie geordnete Folge handelt, daß sie sich aus dem Geschehen selbst heraus ergeben würde. Die Wirklichkeit spricht eine andere Sprache. Und doch versuchen wir, wenn wir auf uns selbst blicken, genau das zu sehen. Wir konstruieren unser Leben im Rückblick, und anders kann es auch nicht sein. Wir sind uns jetzt als dieser eine oder diese eine bewußt und können uns mit unserem Namen als die ausweisen, die wir in diesem Jetzt sind. Zugleich aber „sind“ wir auch diejenigen, die wir gestern, letztes Jahr und am ersten Tag unseres Lebens gewesen sind. Wir „sind“ auch diejenigen jetzt schon, die wir sein werden, wenn einmal der letzte Tag gekommen sein wird. Das „Ich“, mit dem wir uns selbst bezeichnen, umschließt alle Dimensionen unserer selbst. Es bildet eine Art Rahmen, in dem sich der „Lauf des Lebens“ ereignet.

Auf einer rein beschreibenden Ebene lassen diese Dinge sich ordnen und wohl auch begreifen. Es geht darum, was überhaupt „Identität“ und Selbstsein bedeuten. Sieht man allerdings die einzelne Biographie an, sei es die eigene oder eine andere, dann wird rasch sichtbar, wie voraussetzungsreich, wie bedeutungsschwer im Grunde das Sprechen von einem „Ich“ oder in der Form des „Ich“ ist. Welche Last lädt sich auf, wer für sich in Anspruch nimmt, Urheber und Autor seines Selbstseins zu sein. Paulus hat das im Blick, wenn er von „einem jeglichen“ spricht, und mehr noch dann, wenn er am Ende unmittelbar von sich selbst als einem „Ich“ spricht. Nicht ohne Grund verwendet er ein kämpferisches Vokabular: Da wird gekämpft, gefochten, betäubt und gezähmt.

Und tatsächlich hat ja alleine schon die Erfahrung der schieren Zeitlichkeit etwas Bedrückendes. Gerade erst haben wir das Weihnachtsfest gefeiert, und doch liegt es schon wieder vier Wochen zurück. Die Erinnerungen sind noch frisch: Da hat uns vielleicht der Sohn besucht, und vielleicht hat er auch seine Freundin mitgebracht. Da sind wir, weil sie kurz nach dem Fest ihren Hochzeitstag haben, zu den Eltern gereist, und auch die Geschwister waren da. Es kamen Freunde zu Besuch; wir waren bei ihnen zu Gast. Alles Begegnungen, die in uns nachhallen, an die wir gerne denken und die so, wie sie waren, eben nur zu jenem Zeitpunkt stattgefunden haben. Doch heute ist schon der 24. Januar, und an diesem Tag senden wir, wie jedes Jahr, dem verehrten Lehrer einen Gruß zu seinem Geburtstag, dieses mal zum fünfundachtzigsten. Da sind die Gedanken bereits wieder an ganz anderen Orten. Aber es ist eine und dieselbe Person, die das erlebt und erlebt hat. Es wird (hoffen wir) weitere Besuche, weitere Hochzeits- und Geburtstage geben, die wir uns in der Vorstellung am Beispiel der gewesenen ausmalen.

Auch die Erfahrung der Zeitlichkeit gehört also zum „Laufen“. Gewiß ist das ewige Zurückblicken keine gute Sache. Man muß sich davor hüten; es führt in die Irre. Aber ein Bewußtsein unserer selbst haben wir eben doch nur dann, wenn uns klar ist, daß es ein Woher und ein Wohin gibt.

 

III.

Damit sage ich nichts Neues und auch nichts, das uns weiter aufregen müßte. In den Augen des Glaubens aber nimmt nun diese Ausgedehntheit ins Vorherige und ins Fernere noch eine besondere Färbung an. Für ihn ist „Leben“ ja selbst nur ein Wort. Es geht ihm nicht um das Leben an sich, das schlichte Dasein oder die Existenz, die mir nun einmal zu der meinigen geworden ist. Es geht um das Wie.

So ist auch Paulus zu verstehen. Er legt das Gewicht ja gerade nicht auf das bloße Faktum des „Lebenslaufes“. Sondern ihm geht es um die Art und Weise, wie wir selbst dabei im Spiel sind. Es ist die eine und alte protestantische Grundidee: Das Leben wird geführt. Es wird gestaltet, und zwar in einem verantwortlichen Sinne von uns selbst. Erst dann ist es wirklich „unser“ Leben. Es ist erst dann wirklich unser Leben, wenn wir sagen können: „Ich führe mein Leben.“

Wie nun aber wird das Leben „geführt“? Auch dabei geht es nicht in erster Linie darum, ob ich diese oder jene Richtung einschlage. Wichtig ist vielmehr, was der Entscheidungsgrund ist, aus dem heraus solche Richtungswahl erfolgt. Dieser Grund für alle Entscheidungen aber ist kein anderer als die Liebe zu Gott (amor Dei). Es ist das Wissen, die erfahrene Gewißheit um seine Nähe. Gott ist an meiner Seite – und stünde ich auch sonst ganz allein.

Warum soll man lange nach einer Erklärung oder einer Begründung für diese Gewißheit suchen? Es ist einfach so. Und es ist deshalb einfach so, weil es anders nicht sein kann. Ich kann mir mich und mein Leben gar nicht anders denken.

Im christlichen Leben geht es nicht darum, überhaupt zu bestehen, sondern den Glauben an Gott und seine Güte und Gerechtigkeit wirklich zur Grundlage zu machen. „Wer recht tut, der ist gerecht“ (1. Joh 3, 7b). Frömmigkeit ist dann gegründet, in sich fest und stark, wenn sie sich in einer religiös sinnvollen Lebensführung verwirklicht. Der Glaube ist eine Lebensangelegenheit. Er soll nicht in das Gegensätzliche verliebt sein.

Auch die Religion ist nicht nur ein „Sein“, sondern eben auch ein „Haben“, nämlich das Haben eines Lebensstiles und einer moralischen Festigkeit, und auf ihnen muß man mit Willen und Entschiedenheit bestehen. Das ist die Vernunft des Glaubens.

„Darauf bestehen“ bedeutet nun aber, daß ich gerade den Erfahrungen des Widrigen, des Ungenügens und Scheiterns gegenüber darauf beharre. Denn natürlich weiß ich, daß bei mir selbst vieles ist, was nicht so ist, wie es sein sollte. Ich bin mir dessen bewußt und damit nicht zufrieden. Die kritische Selbstbeurteilung kann mich aber nicht von der Einsicht in das Richtige abbringen.

In meinem Leben ist der gütige und gerechte Gott an meiner Seite. Diese Einsicht ist es, worum es geht. Je kräftiger sie in mir ist, desto standhafter kann ich auch sein und desto weniger leicht werde ich abweichen. Man muß sie festhalten, an ihr sich konsequent orientieren und das Leben so führen, daß man Gott nicht beleidigt. Wer das beherzigt, der ist auf dem rechten Weg. Und der darf denn wohl auch von einer „unvergänglichen Krone“ sprechen.

Amen.

 

 



Dr. Dr., Pfarrer Matthias Wolfes
10625 Berlin
E-Mail: wolfes@zedat.fu-berlin.de

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