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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Estomihi, 07.02.2016

Atemlos? Grenzenlos!
Predigt zu 1. Korinther 13:1-13, verfasst von Wolfgang Petrak

Liebe Gemeinde,

Wenn ich in den Sprachen der Menschen redete und sogar in denen der Engel, die Liebe aber ich nicht habe, so wäre ich ein hallendes Becken oder eine gellende Zymbel. Und wenn ich Offenbarung hätte und wüsste alle Mysterien und hätte alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, die Liebe aber nicht haben würde: nichts wäre ich. Und wenn ich verfüttern und aufteilen würde, was mir gehört, und wenn ich meinen Leib hingäbe, sodass ich mich rühmen könnte, die Liebe aber nicht habe: es würde mir nichts nützen

Die Liebe ist langmütig, sie erweist sich als brauchbar, gut; die Liebe ist nicht eifersüchtig und prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf, nicht sie handelt unanständig, nicht sucht sie das Ihre, nicht lässt sie sich reizen, nicht stellt sie das Böse in Rechnung. Nicht freut sie sich über das Ungerechte, sie freut sich über die Wahrheit; alles erträgt sie, alles glaubt sie, alles hofft sie, alles hält sie aus.

Die Liebe verfällt niemals. Ob nun die Offenbarungen: sie werden vergehen;- oder auch das Zungenreden: es wird aufhören; oder die Erkenntnis: auch sie wird vergehen; Nur aus Teilen erkennen wir, und aus Teilen verkündigen wir die Offenbarung. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, wird das Stückwerk vergehen. Als ich ein kleines Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte ich wie ein Kind, urteilte ich wie ein Kind. Als ich aber ein Mann geworden war, habe ich das Kindliche abgelegt. Wir sehen nämlich jetzt mit einem Spiegel ein undeutliches Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich aus Teilen, dann aber werde ich vollständig erkennen, so wie ich ja erkannt bin.

Nun aber bleibt: Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Das Größte von diesen ist aber die Liebe.

 

 

Liebe Gemeinde,

 

Atemlos. Es mag ein Lied für die Nacht sein, es kennt jeder und kann zumindest eine Zeile mitpfeifen, weil alles nur angedeutet wird, die Sehnsüchte und die verborgenen Wünsche und die Erfahrung des Ausgelassen-Seins. So dass sich die eigenen Erfahrungen und die Sehnsucht zusammensetzen wie Bilder im Kopf, die ein großes Kino erlauben.

 

Die Liebe. So viel hat Paulus über sie gesagt. Allerdings kein Bild angedeutet. Und natürlich kein Kino. Denn er sagt nicht, was sie ist. Was wäre denn die Liebe, wenn sie sich definieren ließe. Sagt auch nicht, wem die Liebe gilt. Was wäre denn die Liebe, wenn sie sich eingrenzen ließe. Sagt aber, wie sie ist. Und: Wie sie nicht ist. Sodass das Erkennen offen bleibt. Und die Zeit offen bleibt. Traut sich auch zu sagen, was bleibt, in der Zeit. Und was das Größte ist. Diese Worte haben sich eingeprägt. Wie in einem Lied. Natürlich.

 

Ob Paulus damals eine Liedzeile zum Mitpfeifen im Kopf gehabt hatte, in diesen Nächten von Ephesus, mit den vorgelagerten kleinen Inseln und dem offenen Meer dahinter, und hinter dem Horizont Korinth und damit die Frage, wie es dort weiter gehen würde in der Gemeinde mit ihren Erwartungen an ihn, den Mann aus Syrien? Nicht, dass er sich nicht darauf verstanden hätte, die Schriften auszulegen und sie in die Sprachen der Völker zu übersetzen; aber es wurde ja noch viel mehr erwartet, nämlich mit einzustimmen in jene sphärischen Klänge, die himmlischen Mächte und Welten abzubilden vermochten, dann aber auch die Zeichen der Zeit zu deuten und ihre Zukunft auf das Offenbar- Werden des Höchsten zu befragen, die Kraft der Wunder aufs Höchste zu bestätigen und mit anderen in mystisch- verborgene Tiefen sich zu begeben und schweigend die Geheimnisse zu bewahren, andererseits aber sich mit Leib und Seele, Haut und Haar einzusetzen für das Wohl derer, die auf der Schattenseite des Lebens ihr Dasein fristen: Erwartungen also, die heute vielleicht in Kirchen leitendem Interesse nach Kernkompetenzen fragen ließen und dementsprechend in einer Pfarrstellenausschreibung oder noch mehr in einer Visitationsverhandlung zum Ausdruck kommen könnten.

 

Ob Paulus demnach atemlos war? Man kann es sich ja vorstellen. Wenn man sich klar macht, wie oft und wie weit Paulus aufgebrochen ist, um weiter zu geben, was er empfangen hat, nämlich, „dass Christus gestorben ist für unsere Sünden nach der Schrift, und dass er begraben ist und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift“(1. Kor.15,3-5) und dieses aller Welt zu verkünden, in die Sprachen und Kulturen der Fremden hinein zusage, von ihm, der selbst ein Fremder gewesen ist. Doch darüber sind kaum Worte verloren. Auch nicht sich der Anstrengungen und Gefahren groß zu rühmen, geschweige denn große Worte über die Rettungen zu verlieren, die an ein Wunder grenzten. Natürlich weiß er, dass dieser Glaube gelebt werden muss. Und dass dazu der Einsatz der Fähigkeiten gehört. „Wenn ich aber die Liebe nicht habe“…. Ließe man sie allein in jenen Sätzen weg, die mit dem ‚Wenn’ und den angenommenen Bedingungen beginnen, dann würde sich ihr Gehalt verdünnen. Es käme nur dieses eine heraus: Ich, ich, ich, ich… Dieses Merkmal der Alleinstellung nicht nur die Abgrenzung ausdrücken; es beschreibt auch eine Ausgrenzung, die durch ihren ausschließlichen Selbstbezug zum Wirklichkeitsverlust führen kann. So war in der vergangenen Woche nach der fingierten Entführung einer 13jährigen bei Facebook gepostet: „Egal, ob es wahr ist oder nicht - ich glaube die Geschichte“.

 

Atemlos ist unsere Zeit. Das mag in den rasanten Entwicklungen liegen, an deren Möglichkeiten man nicht zuvor hat denken wollen und die dementsprechenden Ängste auslösen. Zu weit liegen für die meisten die Erfahrungen mit der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen zurück. Zu undeutlich sind die Anstrengungen und Aufgaben, die zu unternehmen sind, um die zu uns kommenden Menschen zu integrieren. Zu leicht ist es, seine eigene Ansicht als scheinbar verbindliche Wahrheit zu veröffentlichen und sich so -grundsätzlich aggressiv gegenüber den scheinbar Anderen- abgrenzen können. Zu stark ist der Zwang, sich zu perfektionieren. So folgte am Montag im Ersten der Sendung Beckmanns „Wie liebt Deutschland“ „Hart aber fair“; Plassberg sprach mit seinen Gästen über Angst und Unsicherheit in Deutschland. Beiden Sendungen gemeinsam war die Frage nach zeitlich angemessenen Handlungsoptionen: Bei der Sendung mit der Liebe waren es die Techniken, die mögliche Medikamentationen und die Frage des Partnerwechsels, bei Plassberg die Bedeutung angemessener Strafverfolgung und die Problematik eines Selbstschutzes. Bei beiden Sendungen bildete jeweils die Zeiterfahrung den Hintergrund für den angenommenen Handlungsdruck und beschleunigte die Offenheit, etwas schnell tun zu müssen. Auch dieses ist ein Ausdruck unserer Zeit. Atemlos.

Wenn wir uns die Zeit nehmen, den Sätzen, die damals Paulus in Ephesus der Gemeinde in Korinth mit gegeben hat, können wir wie in einem Lied nach den harten, negativen Akzenten zu Beginn Sätze hören, die wie eine ruhige Melodie klingen: „Die Liebe ist langmütig, sie erweist sich als brauchbar, gut… Nicht freut sie sich über das Ungerechte, sie freut sich über die Wahrheit; alles erträgt sie, alles glaubt sie, alles hofft sie, alles hält sie aus.“ (1. Kor. 13, 4.7). Es geht Paulus um ein neues Verständnis der Zeit. In ihr ist die Liebe ist nicht atemlos, sondern grenzenlos. Das Selbstverständnis des darin neu werdenden Mensch ist aber nicht das einer Vollendung oder das einer Selbstbemächtigung, sondern ein Leben aus der Erkenntnis, selbst begrenzt zu sein: „Als ich ein kleines Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte ich wie ein Kind, urteilte ich wie ein Kind. Als ich aber ein Mann geworden war, habe ich das Kindliche abgelegt“ (1. Kor.13,11). Das Kennzeichen eines kleinen Kindes ist der Wunsch nach Autonomie, nach Beherrschung und Besitz, so wie man es uns als Dreijährigen nachgesagt hat: „Ich kann das….Alles meins“. Das Kennzeichen des Erwachsenen ist dem gegenüber das Anerkennen der eigenen Begrenztheit, das Leben aus dem Fragmentarischen und das Erkennen aus der Partikularität. Jetzt erkenne ich stückweise. Dann werde ich erkennen.

Warum also müssen wir dann noch in der Gegenwart absichern und gegenüber anderen abgrenzen? Warum müssen wir, nicht nur in Talkshows, uns mit Hilfsmitteln zur scheinbaren Liebeskunst und zur scheinbar zweckmäßigen Selbstsicherung befassen statt uns einer Liebe anzuvertrauen, die sich nicht aufbläst und prahlt, sondern in sich Zeit erfassen lässt also langmütig ist, was das Gegenteil von atemlos ist? Ja, genau das meine ich: dass wir uns Zeit nehmen, weil sie gegeben ist. Ich meine, dass wir den Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, Zeit geben müssen, ihre erlittenen Traumata zu bearbeiten, damit sie unbeschwert Liebe leben können. Ich meine auch, dass wir den Tätern die Möglichkeit geben müssen, mit einem gerechten Urteil die Schuld zu erkennen und abzuarbeiten. Mit einer schnellen Abschiebung irgendwo hin ist nichts gelöst, sondern nur verdrängt. Und ich meine, dass Menschen, die aus Nordafrika hierher gekommen sind, mithin anders aussehen, anders reden und anders glauben als wir: dass auch ihnen diese Liebe gilt. Denn auch sie haben ein Gesicht, ein Antlitz, in das wir blicken und in dem wir den erkennen, der uns erkannt hat. Mag sein, dass unser Blick oft genug gehalten ist wie in jenem dunklen Spiegel, der uns selbst in unserer Zeit zum Rätsel werden lässt. Aber erkennen werden wir.

Der Philosoph Emanuel Levinas, der damals nicht in Deutschland studieren durfte und deshalb nach Frankreich emigrieren musste, hat das so gesagt: „Ich nenne Antlitz, was dergestalt im Nächsten das Ich angeht- mich angeht- indem es mich, durch die äußere Gefasstheit, die es zur Schau trägt, hindurch an seine Verlassenheit, seine Wehrlosigkeit und seine Sterblichkeit erinnert“ (E. Levinas, Zwischen uns. Aufsätze, München/Wien 1995, S. 270).

Es ist das Antlitz dessen, der uns erkennt. Und das heißt in der Sprache der Bibel nichts anderes als geliebt zu sein. Grenzenlos ist diese Liebe und birgt in sich jenen Atemhauch, den wir zum gemeinsamen Leben brauchen.

Amen

 

 

 

 

 



Pfarrer i.R. Wolfgang Petrak
Göttingen
E-Mail: w.petrak@gmx.de

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