Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Invokavit, 14.02.2016

Predigt zu Lukas 22:24-32 (dän. Perikopenordn.), verfasst von Leise Christensen

 

Ehe ich Theologie studierte, war ich ein Jahr lang Jurastudent. Aber im Vergleich zu hebräischen und griechischen Verben ist das Gesetz ja ganz langweilig, deshalb wechselte ich das Studium nach fast einem Jahr. Aber ein Fach im Jurastudium, das ich noch studieren konnte, war das Fach Erbrecht. Und wo Jura in vieler Hinsicht in meiner jugendlichen Optik unbegreiflich trocken war, war dieses eine Fach jedoch etwas, was ich ohne Zögern als unterhaltend bezeichnen würde. Es ging ja um Erbrecht. Wenn man Jura studiert und verschiedene juristische Fragen erörtern soll, ist es immer wichtig, Präzidenzfälle zu beachten, also Urteile, die früher in ähnlichen Fällen ergangen sind. Zu diesem Zweck gibt es eine Sammlung von Urteilen, also ein großes dickes Buch, wo man gerichtliche Entscheidungen über alle möglichen Dinge nachlesen kann. Eine solche Sammlung gibt es auch im Erbrecht, und dieses Buch war recht interessant. Man konnte wirklich sehr überrascht sein, wie Leute aneinander gerieten, wohlgemerkt im Kreise der Familie, wegen einiger Silberlöffel oder Gemälde, ganz zu schweigen von einem alten verschlissenen Sofa oder einem Schmuck ohne einen eigentlichen Wert, was das Metall oder den Schmuckstein betrifft. Man denkt: “Um Gottes willen, wie die Leute sich im Gerichtssaal aufregen und erregen können über die merkwürdigsten Dinge, wegen einer alten Kommode“. Man kann sagen, dass mein Lachen über die Fälle in den Gerichtsakten Ausdruck einer jugendlichen Unwissenheit war, denn natürlich hatten die Erbstreitigkeiten, die über alle Instanzen bis zur letzten Instanz geführt wurden, ja selten irgendetwas mit den eigentlichen Werten gemessen an deren Geldwert zu tun. Die paar alten Löffel hatte man ja gut und gerne auf jedem Trödelmarkt kaufen können, und die talentlosen Gemälde gibt es massenhaft auf Auktionen. Aber eben weil es nicht um den kommerziellen Wert der Dinge ging, sondern um etwas ganz anderes, konnten die Erbstreitigkeiten unglaublich bitter sein. Denn es hatte etwas zu tun mit dem Affektionswert, mit Anerkennung, mit dem, was die nun erwachsenen Kinder in der Kindheit an Ungerechtigkeiten erlebt hatten. All das, was diese Menschen hinter sich gelassen zu haben glaubten, tauchte in dem Erbstreit um Teelöffel und Kommoden mit erneuerter gewaltiger Kraft wieder auf. Wen hatten Vater und Mutter am liebsten? Wer durfte was und warum? Wer durfte am meisten, und wer bekam immer Recht? Wer bekam immer das Erste und Größte, und wer war das Nesthäkchen? In Wirklichkeit waren diese Gerichtsakten ja keineswegs witzig, auch wenn sie vielleicht lächerlich waren. Sie waren ja tief tragisch, weil sie von einigen ganz unglücklichen Kindheiten zeugten, die man eigentlich glaubte verwunden und vergessen zu haben, aber es zeigte sich, dass beides nicht der Fall war. Es geht um Eifersucht zwischen Geschwistern, es handelt sich um Kampf um die Liebe der Eltern, um das Gefühl fehlender Anerkennung. Das ist ein Kampf, der nie endet. Es sei denn, es endet wie bei Kain und Abel. Da endete der Kampf tragisch. Es ist das erste Bruderpaar und der erste Brudermord der Weltgeschichte. Gott zog das Opfer des jüngeren Bruders Abel vor, während er den ältesten Bruder überging, der erzürnte und mit gesenktem Haupt ging. Warum sich Gott auf die Seite Abels stellte, wissen wir nicht. In alten Kinderbibeln ging es immer darum, dass Kain irgendwie in irgendeiner Weise nicht artig gewesen war, vielleicht undankbar oder dergleichen, und deshalb wollte Gott sich nicht mehr zu ihm bekennen, sondern zog den guten und dankbaren kleinen Bruder Abel vor. Das kann man aber in der Erzählung nicht lesen. Sondern man kann lesen, dass es um Anerkennung geht, um Akzept. Gott erkannte Abel an, aber nicht Kain, und deshalb musste das furchtbar ausgehen, nicht in einem Erbstreit, sondern in einem Mord. Warum sich Gott so verhielt, wird nicht erklärt.

Denselben grundlegenden Streit wie den zwischen Kain und Abel und in Erbstreitigkeiten moderner Menschen finden wir in dem Text dieses Sonntags. Die Apostel gerieten in einen Streit darüber, wer unter ihnen der Größte ist, steht da. Wieder geht es um Anerkennung, diesmal die Anerkennung Jesu. Aber die Antwort Jesu auf die Frage, welcher von ihnen für den Größten gehalten werden sollte, muss sie überraschen. Denn der Größte ist eben nicht der Größte, sondern der Geringste. Nicht der Herr ist der Größte, sondern der Knecht. Nicht der Älteste ist der Größte, sondern der Jüngste (und das in einer Zeit, wo es darum ging, der Älteste zu sein, heue geht es ja gerade darum, der Jüngste zu sein). Das ist wie in einer Familie, wo sich große Erbstreitigkeiten anbahnen und wo plötzlich einer der Kinder sagt: „Ja, nimm du nur alles. Mir genügt das, was ich selbst habe“. Dieses Kind ist ja das stärkste, weil es die Ereignisse der Vergangenheit und die Spekulationen über gerechte und ungerechte Verteilung der elterlichen Gefühle von 30 bis 40 Jahren hinter sich lassen kann. Dieses Kind ist frei. Jesus wollte die Jünger auch freistellen, aber nicht so, wie sie glauben. Normalerweise streiten wir in verschiedener Weise darum, der Größte und Beste zu sein, weil wir glauben, dass darin unser Glück und unsere Freiheit liegen. Nein, sagt Jesus, die Freiheit liegt nicht darin, am größten und besten zu sein, die Freiheit liegt darin zu dienen. Den Jüngern fiel es sehr schwer zu glauben, dass es sich so verhält, uns fällt es auch schwer. In einer Welt, wo es in schockierendem Maße darum geht, der Beste, Tüchtigste, Klügste, Schönste, Schlankste usw. zu sein, ist es fast nicht möglich, die Worte Jesu zu verstehen. Soll es wirklich nicht am besten sein, der Größte zu sein? Soll die Freiheit nicht für den größer sein, der der Größte ist, als für den, der der Geringste ist? Es liegt ja fast in der Sprache, dass es sich so verhält, dass es am besten ist, der Größte zu sein, zu führen statt zu dienen. Aber nein, sagt Jesus also. Die Freiheit und die Anerkennung, die er den Menschen geben will, bestehen nicht darin, dass man sich selbst und einander nach den üblichen beinharten Kriterien misst, wie es in dieser Welt geschieht. Seine Kriterien sind Vergebung, Barmherzigkeit, Gnade vor aller menschlichen Gerechtigkeit, sein Kriterium ist vor allem Liebe. Und das ist nun nicht nur ein loses Gerede von der Liebe, nein, es ist die Liebe die alles glaubt, alles hofft, alles verträgt. Es ist die Liebe, die dienen kann, weil die wahre Liebe auf Macht verzichten muss, darauf verzichten muss, am größten und besten zu sein, zu führen statt zu dienen. Menschen können nicht anders als einander am Erfolg messen, an Geld, Karriere, Aussehen. Aber in den Fällen – und von denen gibt es viele – wo der Vergleich nicht zu unseren Gunsten ausfällt, da sollen wir wissen, dass unsere Freiheit, unsere Fülle und unser Friede nicht in dem Urteil anderer über unsere Fähigkeit, die Größten, Ersten und Besten zu sein, besteht, sondern in Gottes unendlicher, behutsamer und unverbrüchlichen Liebe zu uns. Als freie Menschen können wir deshalb in unserem Leben Anerkennung finden – nicht für etwas, was wir an Gutem oder Großem getan haben, sondern weil wir Gottes Kinder sind. Es gibt keinen Grund, um das Erbe zu streiten, weil wir es schon haben. Und da ist merkwürdigerweise reichlich für alle. Unsere Anerkennung können wir deshalb ganz natürlich an den Mitmenschen weitergeben, der sie braucht - zu seinem Nutzen und seiner Freude. Amen.

 



Pastorin Leise Christensen
DK 8200 Aarhus N
E-Mail: lec(at)km.dk

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