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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Reminiscere, 21.02.2016

Bedrängnisse, Verletzlichkeit als Chance
Predigt zu Römer 5:1-5, verfasst von Stefan Knobloch

Überfällt uns heute nicht der Text aus dem Römerbrief (Röm 5,1-5)? Er setzt mit einer Sprache ein, die wir zwar irgendwie als Kirchensprache kennen, aber sie klingt so fremd, dass sie in uns kaum einen Resonanzraum findet. Das müsste dann gar nichts damit zu tun haben, dass wir nicht religiös, nicht gläubig genug wären. Es hat eher damit zu tun, dass die Erfahrungsfelder unseres Lebens sprachlich zu weit von der Sprache des Römerbriefes entfernt liegen. Das besagte also nicht, dass unsere Lebenserfahrungen unberührt wären und grundsätzlich an dem vorbeigingen, wovon Paulus spricht. Es kommt lediglich darauf an, uns dem Paulustext von unserem Leben her zu nähern, ihn von unserem Leben her als Text aufzubrechen.

 

Am ehesten verstehen wir Paulus wohl noch in der Passage, in der er von Bedrängnissen sprach. Wir wissen zwar nicht, welche er damals im Auge hatte, aber allein das Wort Bedrängnis ruft in uns die Fragen und Probleme unserer Tage auf.

 

Wir machen seit einiger Zeit die Erfahrung, wie verletzlich und verwundbar unsere derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnisse sind und wie verletzlich und verwundbar sich die Menschen darin fühlen. Paulus empfahl im Römerbrief auf Bedrängnisse mit Geduld zu reagieren, Geduld führe zur Bewährung und aus der Bewährung erwachse Hoffnung. Diesen Lösungsweg müssen wir heute wohl anders formulieren. Vielleicht so, dass wir von der Erfahrung der Verwundbarkeit, der Verletzlichkeit ganzer Gesellschaften und der einzelnen Menschen in ihnen ausgehen. Man spricht heute, Wissenschaften übergreifend, von der Vulnerabilität; von lateinisch vulnus/die Wunde. Im Zuge der Flüchtlingsproblematik, die in unseren Tagen ein heiß diskutiertes Thema ist, bis in die Familien hinein, die sich darüber zerstreiten, hat sich das gesellschaftliche Klima verändert. Gewiss reagieren die Menschen unterschiedlich. Nicht alle folgen gottseidank den angstschürenden Parolen der AfD, noch weniger schließen sich den grobschlächtigen Auftritten der Pegida an. Aber insgesamt ist der Eindruck unabweisbar, dass sich Menschen irgendwie verletzt, lebenseingeschränkt und verunsichert fühlen. Und das weniger aufgrund bereits eingetretener realer Einschränkungen und Abstriche an der Lebensführung, sondern allein schon aus der Befürchtung, die Flüchtlingsproblematik werde in Zukunft für sie und die Gesellschaft negative Folgen haben.

 

Verletzlichkeit und Verwundbarkeit führen zu Abgrenzungsstrategien, hinter die man sich verschanzt, hinter denen man sich wie hinter einer Wagenburg sicher fühlt. Dabei nimmt man große Worte in den Mund. Es gehe um die eigenen überkommenen Werte, um die eigene Kultur, letztlich um das Abendland. Und man scheut sich dann nicht eine Formel in den Mund zu nehmen, die neuerdings wieder Konjunktur hat: man spricht vom christlichen Abendland. Das christliche Abendland müsse verteidigt werden.

 

Hier, denke ich, muss man einhaken. So verständlich diese letztlich im Gefühl der Verletzlichkeit und allgemeiner Verunsicherung gründenden Reaktionen auch erscheinen: wenn sie als Verteidiger des Christlichen auftreten und als Verteidiger des christlichen Abendlands fungieren, dann sind sie gehörig auf dem Holzweg. Nicht, dass das Christliche auf dem Weg durch die Christentumsgeschichte nicht gehörig Schuld auf die genommen hätte, was nicht eine Sekunde lang in Zweifel zu ziehen ist. Nein, es geht um das tiefere Verständnis, das das Christliche vom Menschen hat. Ein Verständnis, das es freilich selten annähernd umgesetzt hat. Hier müssen wir bei der zentralen christlichen Glaubensaussage der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ansetzen: bei der Inkarnation. Wir loten gewöhnlich zu wenig aus, dass Gott in der Menschwerdung Jesu die menschliche Verletzlichkeit und Verwundbarkeit auf sich genommen hat. Das ist mehr als ein theoretischer Gedanke. Jesus machte die Erfahrung der Verletzlichkeit in einem extremen Maße, das ihm am Ende das Leben kostete. Er verschanzte sich nicht vor der angriffigen Zeit damals, er hob nicht Gräben aus. Er wurde Mit-Mensch, er wurde, wie ein schönes Wort sagt, „verwundeter Arzt“. Er versteckte seine Verletzlichkeit nicht, sondern gewann aus ihr die Kraft eines neuen Umgangs mit den Menschen, zumal mit den Leidenden, Armen und Kranken, mit den gesellschaftlich Geächteten. Ein Umgang, der ihr Leben öffnete, ihrem Leben einen neuen Weg bahnte.

 

Paulus, dessen Römerbriefstelle wir heute gelesen haben, hat eine ähnliche Erfahrung wie Jesus gemacht. Er hat sie im zweiten Korintherbrief festgehalten: „Meine Kraft erweist sich in der Schwachheit“ (vgl. 2 Kor 12,9). Aus der Verletzlichkeit, aus der Erfahrung der Verwundbarkeit können andere Strategien erwachsen als die der Verteidigung, des Misstrauens, der Abgrenzung, der Verschanzung. Aus der „Bedrängnis der Verletzlichkeit“ kann die Kraft wachsen - das ist sozusagen das Grundprinzip des Christlichen -, Grenzen zu überschreiten, sich zu öffnen, sich in seiner kulturellen und religiösen Identität in Frage stellen zu lassen. Sich in einen Dialog vorzuwagen, der Menschen anderer Kultur, anderer Lebensgewohnheiten, anderer Religion nicht nur toleriert, das heißt nämlich nur, gerade noch so erträgt (und sie dabei weiter ablehnt), sondern einen Dialog zu wagen, bei dem man „aufmacht“, und der die Verletzlichkeit in eine Chance menschlicher Begegnung ummünzt. „Meine Kraft erweist sich in der Schwachheit“, sagt Paulus.

 

Diese Gedanken wollen mehr sein als schöne Worte. Auch die uns zunächst so fremden Worte des Paulus waren mehr als eine Sonntagsrede. Er kam auf die Bedrängnisse seiner Zeit zu sprechen und stellte sie in den Horizont des Lebens Jesu. Wir haben Frieden mit Gott durch Jesus Christus. In ihm – sagen wir, aufgrund seiner Verletzlichkeit, aus der bei ihm Stärke wuchs – haben wir einen neuen Zugang zum Frieden, bzw. zur Gnade, wie Paulus sagt.

 

Was war das Neue an Jesus? Jedenfalls nicht das, dass mit ihm erstmals so etwas wie Gnade von Gott her über die Menschheit gekommen wäre. Wir täten dem Alten Testament schreckliches Unrecht und damit Gott selbst schreckliches Unrecht, wenn wir dächten, erst mit Jesus habe das Heil der Menschen angefangen. Jesus war nicht der Anfang des Heils, er war seine Vollendung. Deshalb heißt es im „Benedictus“ (Lk 1,68-79), im Lobpreis des Zacharias, zurecht: Gott „hat das Erbarmen mit den Vätern an uns vollendet“, und nicht begonnen. Die Vollendung bestand gerade darin, uns an Jesus Christus, dem Mittler zwischen Gott und den Menschen (vgl. 1 Tim 2,5), die grundlegende Erfahrung machen zu lassen, dass Verletzlichkeit, Verwundbarkeit, Schwäche nicht reflexartig zur Abgrenzung, zur Verschanzung führen sollen, sondern zur Öffnung, zur Mitmenschlichkeit, zum Schritt auf den anderen zu.

 

„Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit.“ Ein Wort, das wir nicht in einem Schritt einlösen werden, aber an dem wir unsere nächsten Schritte im Alltag unseres Lebens ausrichten sollen. So werden wir in Taten vom christlichen Abendland reden, von einem Abendland, das Menschen anderer Kulturen, anderer Religionen begegnet. Aktuell noch dazu Menschen als Flüchtlingen, die ihrerseits ein Übermaß an Verletzungen, an Verwundungen, an seelischen und leiblichen Wunden erlitten haben. Warum sollte sich hier nicht die Verletzlichkeit der einen Seite in der Verletzlichkeit der anderen Seite wiederfinden?

 



Prof.em.Dr. Stefan Knobloch
Passau
E-Mail: dr.stefan.knobloch@t-online.de

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