Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag im Advent, 16.12.2007

Predigt zu Offenbarung 3:1-6, verfasst von Inke Raabe

Das  Schreiben eines Predigers im Exil  an seine Gemeinde, zu verlesen im Gottesdienst zum dritten Advent anno 2007:

Gnade sei mit euch, liebe Gemeinde, und Friede von dem, der da war, der da ist und der da kommen wird. Amen

Wie lange habe ich euch nicht gesehen? Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Ihr seid jetzt wieder versammelt, ihr meine Lieben, und ich sehe eure Gesichter vor mir: Lydia wird da sein, die mir so gerne im Gottesdienst geholfen hat. Ich vermisse ihren Witz und ihre Lebensfreude. Gertrud, die mir soviel Mut gemacht hat - sie war eine aufmerksame Zuhörerin, ging mit und lächelte an den richtigen Stellen. Auch Peter und Lisbeth, die so glücklich miteinander wirken, sind bestimmt im Gottesdienst - Peter schlief immer schon bei den ersten Worten meiner Predigt ein. Ich dachte, es läge an mir. Vielleicht liegt es aber an Lisbeth? Vielleicht sind die Samstagabende mit ihr einfach zu schön, um sie nicht bis in den Morgen dauern zu lassen.  Martha, Erika und Lucia werden da sein, sie fehlten fast nie. Die drei alten Damen sind mir im Laufe der Jahre ans Herz gewachsen. Während ich diesen Brief schreibe, denke ich an euch mit Sehnsucht.

Ihr feiert heute den dritten Advent. Vielleicht wird  der ein oder andere Gast  im Gottesdienst sein, wahrscheinlicher aber ist,  dass es bei euch, den Getreuen bleibt. Wir waren ja immer nur eine gute Handvoll an den Sonntagen im Advent. Vielleicht habe ich nicht brennend genug geliebt und nicht kraftvoll genug das Evangelium gepredigt? Aber anderen Gemeinden geht es nicht besser. Es steht nicht gut um unsere Kirche. Von meinem „Patmos", meinem Exil aus beobachte ich die Entwicklung mit großer Sorge und mancher Trauer.

Ich beobachte, aber ich kann nicht mehr mitgestalten. Ich bin nicht mehr euer Hirte, verbannt wurde ich, warum und wozu weiß Gott allein. Wie seltsam, dass sie   ausgerechnet mich am dritten Advent ausgerechnet zu euch senden. Es sind Worte aus der Johannes-Apokalypse, die ich euch zu sagen habe:

Das sagt, der die sieben Geister Gottes hat und die sieben Sterne: Ich kenne deine Werke: Du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot. Werde wach und stärke das andre, das sterben will, denn ich habe deine Werke nicht als vollkommen befunden vor meinem Gott. So denke nun daran, wie du empfangen und gehört hast, und halte es fest und tue Buße! Wenn du aber nicht wachen wirst, werde ich kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich über dich kommen werde. Aber du hast einige in Sardes, die ihre Kleider nicht besudelt haben; die werden mit mir einhergehen in weißen Kleidern, denn sie sind's wert. Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angetan werden, und ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buch des Lebens, und ich will seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!

Erinnert ihr euch? Am dritten Advent gab es bei uns fast immer einen besonderen Gottesdienst. Der Gospelchor hat gesungen oder der Posaunenchor trat auf. Dazu habe ich dann eine Geschichte gelesen oder wir haben einfach nur miteinander gebetet. Es ist keinem richtig aufgefallen, dass ich fast nie gepredigt habe, nicht einmal dem Bischof, der sich sonst  gerne wohl informiert gibt. Ich wusste doch, dass ihr in den Weihnachtsvorbereitungen steckt. Wir sehnten uns doch alle nach Nähe, nach Menschlichkeit und Wärme. Die Predigttexte des dritten Advent aber sind sehr schroff und zurechtweisend. Ich habe all die Jahre für euch gebetet: „Ach lieber Vater", bat ich, „lass sie doch ein andermal Buße tun und nicht gerade so kurz vor Weihnachten!" Und mir war immer, als ob der alte Herr für euch lächelnd und gerne ein Auge zudrückte.

Aber diesmal war es anders. Es drängte und drückte mich. Eure Gesichter erschienen mir, die ich so weit weg von euch bin, im Traum. Ich hörte meinen Namen rufen. Aus   leidvoller Erfahrung weiß ich, dass es keinen Sinn hat, vor Gott fortzulaufen und sich vor seinem Ruf zu drücken. Der „die sieben Geister Gottes und die sieben Sterne hat", gebot mir euch zu schreiben. Ihr habt den Text gehört. Und ich wusste, auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, dass er für euch bestimmt ist.
„Du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot." - was waren wir denn für eine Gemeinde, die wir oft nicht einmal ein Dutzend Leute zum Gottesdienst zusammen rufen konnten? Wo waren all die anderen? Die Gemeinde war zersplittert in die Konfirmanden, die Alten, die Mütter - in die vielen Gruppen und Kreise, die der Propst bei seiner Visitation noch als Zeichen lebendiger Gemeindearbeit rühmte. Aber dem war nicht so! Überall war ein bisschen von dem lebendigen Wort Gottes, aber nirgends war es ganz. Und dann waren da noch die vielen, die nie, oder höchstens mal zu Weihnachten in die Kirche kamen. Ich fühle Zerrissenheit, wenn ich mich daran erinnere. Immer wieder versuchte ich, meine Enttäuschung vor euch zu verbergen - vielleicht war das der Fehler. Heute muss ich euch sagen: „Du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot."
Ich wünschte, ich wäre bei euch, vielleicht könnten wir noch einmal versuchen, das Ruder umzuwerfen. Tut Buße! Das ist das, was ich euch sagen muss. Ändert das. Bringt echtes Leben und echte Gemeinschaft in das Haus Gottes! Werdet wach, dazu fordere ich euch auf - und ich meine nicht nur Peter.

Wir hatten uns so schön miteinander eingerichtet, nicht wahr? Wir wollten niemanden bedrängen und dennoch immer offen und einladend sein - dabei sind wir lahm und lau geworden. Es fehlte uns der überspringende Funke, das Feuer der Leidenschaft für Gottes Wort. Wir waren schlichtweg nicht begeistert und nicht begeisternd - wir hätten uns nicht mit dem Status quo zufrieden geben dürfen. Jetzt ist mir ganz klar: Unser Bekenntnis zum Glauben war verzagt. Wir dachten: Bloß nicht auffallen, dann nimmt auch keiner Anstoß. Ich sehe es deutlich: Wir waren keine adventliche Gemeinde. Wir haben unsere Fenster geschmückt und unsere Stuben, aber unsere Herzen blieben, was sie waren: starr vor Furcht und dem Schicksals ergeben.  

Es tut mir weh, euch das zu sagen, gerade weil ich jetzt nicht bei euch sein kann.  Peter ist vielleicht inzwischen wach geworden und schüttelt missbilligend den Kopf. Er mag es nicht, wenn ich meinen Moralischen kriege und hat mich dafür schon manches Mal gerügt. Lydia wird traurig sein, ich weiß es, gerade weil sie soviel Kraft in die Gemeinde steckt. Denk nicht, liebe Lydia, dass ich das nicht weiß und nicht sehe. Wir haben beide viel Kraft gelassen - aber  was haben wir eigentlich gewonnen? Martha, Erika und Lucia blicken  sicher mit stoischer Gelassenheit zur Kanzel hinauf, wo ich nicht mehr bin. Sie sind alle weit über 70 und sie wollen keine andere Kirche als diese.  Aber es muss sich etwas ändern!

Ich lasse meinen Blick in Gedanken über euch hinwegschweifen, wie ich es so oft in den vergangenen Jahren getan habe. Da bleibe ich an Gertrud hängen. Und was sehe ich? Sie lächelt! Siegesgewiss! Zum ersten Mal in all den Jahren an unpassender Stelle! Sie lächelt, als wollte sie sagen: Predige weiter, Pastor, der Text geht weiter! Ich warte auf dein Wort!

„Aber du hast einige in Sardes, die ihre Kleider nicht besudelt haben; die werden mit mir einhergehen in weißen Kleidern, denn sie sind's wert." - da bin ich doch tatsächlich in     Selbstmitleid verfallen und hatte nur die eine Seite der Medaille betrachtet. Nicht wahr, Gertrud, du kennst das schon?  Ist das Glas halb voll oder halb leer? Immer schon warst du die optimistischere von uns beiden. Ich sehe nun die Versammlung mit deinen Augen. Du freust dich über Lydia und ihre Kreativität. In ihr siehst du die Kraft Gottes. Martha hat vielleicht eine Knie-Operation gehabt, das Gehen mag ihr an diesem Sonntag schon leichter fallen als am vergangenen - für dich ein Grund zur Freude und zum Gotteslob! Wie oft hat ihre Glaubenstreue uns getröstet! Du setzt dich immer mit Absicht so, dass du Peter sehen kannst. Wenn er einnickt, fällt ihm der Kopf etwas zur Seite - einmal sahen wir es gleichzeitig und du hast so frech gegrinst, dass ich fast laut gelacht hätte. Ihr seid es wert! Eindeutig. Ihr wenigen, ihr kleine Schar - ja, ihr seid es wert. Denn unter euch gibt es echte Liebe und herzliches Erbarmen. Darum kennt Gott euch. Eure Namen stehen im Buch des Lebens.
Ist das Glas halb voll oder halb leer? Wie konnte ich vergessen, dass Jesus ein unverbesserlicher Optimist war? Er sah in jedem Menschen das Gute, in seinen Augen war jeder Mensch etwas wert. Er stellte die ganze Welt unter das Licht der Liebe Gottes. Von Anfang an, von der Krippe bis zum Kreuz, hielt er an Güte und Menschlichkeit fest.  

Ihr seid es wert. Meine kleine, fröhliche Gemeinde.
Ich schreibe euch aus dem Exil, aus der Fremde. Ich weiß, dass ihr nicht tot seid, sondern weiterhin das Wort des lebendigen Gottes verkündet. Das Schreiben, das mir in Auftrag gegeben wurde, will euch Mut machen: Haltet fest, was ihr empfangen habt - ihr seid ja getauft und steht fest im Glauben, das kann euch niemand nehmen! Gebt nicht auf in eurem Bemühen um die Kirche und um die Menschen, die euch anvertraut sind. Begegnet jedem Menschen mit Liebe und herzlichem Erbarmen. „Tut Buße" meint: Da ist immer noch mehr möglich, als man denkt. Freut euch auf Weihnachten! Ihr wisst, dass die Geschenke und die Lichter nur Beigaben sind. Ihr habt längst verstanden, dass in dem Kind die Liebe Gottes erschien und bis heute in euch wohnt. Ihr seid es wert. Ihr werdet in weißen Kleidern mit Christus einhergehen - wie die Engel. Auch du Peter, wirst dann hellwach sein, und ich möchte glauben, dass du auch als Engel noch Hand in Hand mit deiner Lisbeth gehst.
Ihr seid es wert. Und die Liebe, die ihr untereinander habt, ist es wert, verkündigt, gepredigt und geteilt zu werden.

So grüße ich euch aus der Ferne mit dem Frieden Gottes, der soviel höher ist als meine Vernunft. Er bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.



Pastorin Inke Raabe
Husum
E-Mail: inkeraabe@web.de

(zurück zum Seitenanfang)