Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Karfreitag, 25.03.2016

Predigt zu Matthäus 27:46, verfasst von Anne-Marie Nybo Mehlsen

Merkwürdig, dass das Kreuz da hängt – als sei es eine Ausschmückung. Der Mann ist aus Holz, das Blut gemalt, und wir haben uns längst daran gewöhnt – sehen nicht mehr, was das ist. Wir erkennen es wieder aus den Nachrichten des Tages, Bilder von Leiden, auch Folter und Tod, ganz wie das Kreuz. Den Schmerz und das Grauen können wir durchaus wiedererkennen. Nicht nur in der Welt draußen, sondern auch bei uns: Krankheit, Schmerz, Versagen, Sehnsucht, Scham, Verlust, Depression, Verrat, Angst … Ja wir kennen alle diese Nuancen des Kreuzes, bis dorthin, wo sich die Finsternis über uns senkt. Nicht am eigenen Leib vielleicht, aber an dem anderer. Wir erkennen es wieder, wenn wir da waren, wo es hart her ging, wo wir eine Hand hielten, Lippen befeuchteten, Schweiß und Blut trockneten und Augenlieder schlossen. Wenn wir es nicht selbst erfahren haben, haben wir es gesehen, davon gewusst. Und wenn das nicht der Fall ist, werden wir es erfahren, wenn wir dran sind. Niemand entgeht dem ganz, weil Tod und Schmerz und Leiden zum Leben gehören, genauso wie Freude und Liebe und Frühjahrssonne dazugehören. Abgestumpftheit ist es, wenn wir das nicht wissen – oder nicht wissen wollen.

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ – schrie Jesus, und die Menschen schreien noch immer und wenden sich ab. Trug er die Sünden aller Welt? Warum schreien wir noch immer? Und welchen Gott ruft er an, dort am Kreuz? Er, der immer Gott seinen „Vater“ nannte?

Es sollte einen Unterschied machen, dass er da hängt, dass er sich nicht nur versteckte und abhaute, vom Kreuz herabstieg und sich von den Engeln holen ließ. Wenigstens hätte er sich durch Wein mit Myrrhe betäuben lassen können, Adrenalin og was der Körper so an genialen Stoffen hat. Oder was? Steige herab, wenn du Gottes Sohn bist, der alles kann! Zeige es uns!

Aber das Kreuz hängt da, allein weil er da blieb, weil er nicht nachgab, nichts anderes wollte. Das Kreuz hängt da, weil er sich nicht selbst erlösen wollte, nicht seine eigene Haut retten wollte, sondern zu uns stand.

Uns – du und ich, Menschenkinder, die es nicht ertragen können. Wir, die nicht ein und aus wissen, wenn wir den Trauernden begegnen, und nicht wissen, wie wir sie begrüßen sollen. Wir, die wir versuchen, die menschlichen Schicksale hinter den Nachrichten auszublenden, und das Menschenkind nicht in dem fremden Gesicht zu sehen wagen. Wir, die wir es immer wieder vor uns hergeschoben haben, die Alten im Pflegeheim zu besuchen wir, die wir die Nummer getastet haben, aber doch nicht angerufen haben. Wir, die wir uns die Lippen blutig gebissen haben aus Furcht und die Fingernägel in die Handflächen gebohrt haben, während wir lächelten und trösteten, und ein Lied sangen, Musik machten, etwas vorlasen oder was wir nun taten, während die Zeit verging.

Während wir für einander den Platz offen hielten, den kleinen Platz offen hielten, der Leben heißt. Wir ließen die Frühjahrssonne und die Liebe den Raum füllen, der da war, und hielten gemeinsam den Ort des Lebens offen – wohl wissend, dass wir keine Chance haben, und dass es trotzdem nichts nützt. Das ist das einzige, was gerade dort Sinn macht, wo wir gar nichts können.

Das ist rätselhaft. Deshalb hängt das Kreuz an der Wand oder am Hals und erinnert uns an das Rätsel des Kreuzes.

Es ist verwunderlich, dass Jesus am Kreuz und im Tode den Schmerz aller Welt trägt. Er trägt nicht nur sein eigenes Leiden, sondern alles Leiden, das es gibt. Er ist Stellvertreter. Und das macht einen Unterschied.

Mehr als nur der Unterschied, der bewirkt, dass da einer ist, der solidarisch ist mit uns – oder es einmal war. Mehr als nur dies, dass Gott unser Leiden sieht und selbst mit uns leidet.

En Stellvertreter ist jemand, der den Platz offen hält, die Stelle offen hält. Zumindest ist der Stellvertreter ein Vertreter. Jemand, der dabei hilft, meine Dinge zu tun, wo ich das selbst nicht kann. Der Vertreter darf nicht den Laden übernehmen. Es erfordert Respekt und Demut, ein Stellvertreter zu sein, denn da muss Platz sein für den, der zurückkehrt. Der Vertreter wird überflüssig und soll das zu seiner Zeit sein.

Im alltäglichen Leben haben wir viele Stellvertreter und Vertreter bei unseren Angehörigen, wenn sie sich hineinfühlen, wie es uns geht, was wir wünschen und was wir brauchen, uns Raum geben und uns stützen, während sie mit uns unterwegs sind.

Wir können nämlich alles für die ertragen, die wir lieben. Wenn wir nur das wenigste tun können, wenn wir lindern, trösten, aufmuntern, erfreuen können, fragen wir nicht nach Sinn und Ziel. Dann sind unsere Kräfte fast unendlich, weil das in sich Sinn macht.

Wir können unser Leben weggeben, und tun es auch. Im Alltag können wir Zeit und Kräfte für andere geben, wir können daran im Großen gesehen direkt zugrunde gehen, aber wenn drin nur Liebe ist, macht es Sinn. So ist es auch sinnvoll zu trauern und sich zu sehnen, wenn wir einen Verlust erlitten haben. Das hängt zusammen mit der Liebe, die war.

Leben, gegeben in Liebe, ist niemals verloren, niemals vergeblich. Es gibt Mut und Hoffnung und Wille zum Leben.

Das, womit du und ich, wir Menschenkinder, uns nicht versöhnen können, ist dies, wenn Leben zugrunde geht vergebens, sinnlos. Das Verlorene, Unerlöste, Unfertige – das ist nicht zu ertragen.

Es ist Sünde, wenn Leben zerstört oder verspielt wird, zugrunde geht, verloren geht.

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Wer bist du, mein Gott? Ganz bis dahin ging Jesus, um diesen Ort für uns zu öffnen. Dort hängt er am Kreuz, um für uns zu öffnen und Raum zu geben in dem, was wir nicht selbst und miteinander ertragen können. Wir, die wir leben müssen und es ertragen müssen. Ertragen müssen, es zu sehen, es spüren müssen, mit all dem Schmerz leben müssen.

Weil er, der da hängt, an Gott festhält, und nicht an sich selbst, geschieht etwas Neues, etwas Entscheidendes und alles Veränderndes auf der anderen Seite n… aber das geschieht erst am Ostermorgen. Jetzt, hier am Karfreitag, müssen wir es sehen und ertragen, und davon hören und singen, dass es etwas bedeutet, dass er dort hängt. Das befreit uns nämlich von der Suche nach dem Sinn – und lässt uns das Unerträgliche und Unerlöste mitnehmen, neben dem Liebevollen und Schönen, das wir nie verleugnen werden. In der Hand Gottes verändert sich alles, verschmilzt, wird neun und nichts wird vergehen.

Nur so nimmt Gott unseren Schmerz und unsere Schreie ernst. Das Kreuz hängt dort, weil er dort blieb – nun ist er bei uns. Amen.

 



Pastorin Anne-Marie Nybo Mehlsen
DK-Ringsted
E-Mail: amnm@km.dk

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