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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Karfreitag, 25.03.2016

In Richtung Versöhnung
Predigt zu 2. Korinther 5:19-21, verfasst von Christian Wolff

Lasst euch versöhnen mit Gott!

Wie die Stimme eines einsamen Rufers in der Wüste, so wirkt die zentrale Aussage des Apostel Paulus aus dem Predigttext für Karfreitag 2016. Was kann sie schon ausrichten? Was werden die Gottesdienste und Predigten, die heute in den mehr oder weniger gefüllten Kirchen gehalten werden, schon bewirken können angesichts des brutalen Passionsszenarios, das wir Menschen uns gegenseitig anrichten – in Syrien und Libyen, im Süd-Sudan und in Mali, in vielen kleinen Ortschaften, in denen Menschen täglich von Rechtsradikalen eingeschüchtert und Asylunterkünfte angezündet werden, in den Arbeitslagern von Nordkorea und China? Wie ein riesiges Kreuzigungsbild, gemalt von der Wirklichkeit, nimmt sich das aus, was zu Kurzmeldungen in den Nachrichten zusammenschmilzt – und wir stehen fassungslos davor. Eine auf Gewalt getrimmte und auf’s gegenseitige Niedermachen geile Menschheit inszeniert Golgatha 2016: ab morgen und über Ostern auf den Fußballplätzen zwischen Flensburg und Passau, wo wieder einmal Fans aufeinander einprügeln, auf den Märkten in Kabul oder Bagdad, wenn Selbstmordkommandos Unbeteiligte mit in den Tod reißen; bei Terroranschlägen mitten in Stadtgesellschaften Europas. Vieles von dem, was unsägliches Leid für den einzelnen Menschen bedeutet, wird uns so gefällig, voyeuristisch und verlogen präsentiert - wie vor 2000 Jahren die Verurteilung und Kreuzigung des Jesus von Nazareth, die ja nicht nur das Machwerk von ein paar Mächtigen war, sondern sich auch der geifernden Zustimmung der Massen erfreuen konnte – der Wutbürger auf Golgatha.

 

Lasst euch versöhnen mit Gott!

Wie aber wollen wir das Menschen nahe bringen, die Opfer von Gewalt wurden oder sich als abgehängt in einer globalisierten Welt empfinden? Wie soll denen Versöhnungsbereitschaft abverlangt werden, wenn sich die Täter weiter ihre Hände in Unschuld waschen? Wie können wir denn überhaupt noch glaubwürdig von Versöhnung reden angesichts der arroganten Verstocktheit derer, die für Krieg und Terror, für Unübersichtlichkeit und Spaltung der Gesellschaften in arm und reich verantwortlich gemacht werden müssen? Die wissend und willentlich weiter inkauf nehmen, dass durch ihre Machenschaften die öffentlichen Kassen, also die Gelder der Bürgerinnen und Bürger, geplündert werden, Armut und Ungerechtigkeit wachsen und die darunter Leidenden weiter aufeinander gehetzt werden? Haben wir da noch ein Sensorium für versöhnliche Gedanken, die in einem getrösteten Gottvertrauen ihren Ausgang nehmen?

 

Angesichts einer Menschheit, die sich faktisch und permanent im Aufstand gegen Gott befindet, also Unversöhnlichkeit praktiziert, vergeht einem jede Passionsbeschaulichkeit, die sich über Jahrhunderte ins Karfreitagsbewusstsein der protestantischen Christenheit eingeschlichen hat. Auch ein Lied wie „O Haupt, voll Blut und Wunden“ wird durch die Wirklichkeit seiner barock-mystischen Jesusfrömmigkeit entkleidet und zum Vorschein kommt die brutale Realität eines schmachvoll-gewaltsamen Todes. Zurück bleiben bei uns tiefe Verunsicherung und Verzweiflung, die nur notdürftig dadurch verdrängt werden können, dass wir so tun, als ginge uns diese Welt nichts an oder hätten wir mit den Scheußlichkeiten der Mächtigen und den alltäglichen Exzessen nichts zu tun.

 

Nein, das unversöhnliche Weltgeschehen ist Teil unserer persönlichen Existenz. Denn wir sind alle am Elend der Zerstörung, an der Not der Menschenverfeindung aktiv beteiligt - so wie die Menschenmassen vor dem Palast des Pilatus, die den Despoten erst dazu anspornt haben, das Todesurteil über Jesus zu fällen. Erst wenn uns das bewusst wird, werden wir auch erkennen können: Gott hat den Karfreitag, das Kreuz, mitten in diese Welt hineingestellt - genau dort, wo wir meinen, den Glauben an Gott zu verlieren; wo wir glauben, eigentlich nichts mehr in dieser gott-losen und gott-feindlichen Welt ausrichten zu können; genau dort, wo wir bereit sind, die faulen Kompromisse mit den Gewaltstrukturen zu schließen oder all dies zu verdrängen. Genau da richtet Gott das Zeichen seiner Barmherzigkeit und Liebe auf: Jesus Christus. Damit schlägt Gott einen neuen Ton an, den Paulus im 2. Korintherbrief aufgreift:

Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.

2. Korinther 5,19-21

 

Mit seinem eindringlichen Appell will der Apostel Paulus uns einschärfen, dass wir nicht zuerst fragen: Was können wir in dieser Welt noch ausrichten? Sondern: Was hat Gott für uns aus- und aufgerichtet? Denn nur so gelangen wir zu der Antwort, die uns aus der Sackgasse des nur noch Verzweifelt- oder Betroffenseins herausführt: die Versöhnung in Jesus von Nazareth und damit die Möglichkeit, in dieser Welt wieder die gute Schöpfung Gottes, das Menschsein und seine Sinnhaftigkeit erkennen zu können, also die Gerechtigkeit Gottes zu verkörpern – wo wie es Paulus wenige Verse zum Ausdruck bringt:

Ist jemand in Christus, so ist er ein(e) neue(s) Kreatur (Geschöpf); das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.

2. Korinther 5,17

 

Dabei kommen wir an einer bitteren Einsicht nicht vorbei: Aus uns selbst heraus waren und sind wir Menschen zu dieser Erneuerung, zur Versöhnung unfähig. Das ist in aller bitteren Deutlichkeit und Dramatik am Kreuz von Golgatha offenbar geworden. Wenn wir eine aufrichtige Bilanz unserer menschlichen Existenz ziehen, dann die: Unsere Gesellschaften erweisen sich immer wieder als restlos überfordert, friedlich ihre Streitigkeiten und Interessenskonflikte zu regeln. Ja, es hat den Anschein, als ob wir zu viel Frieden nicht vertragen könnten. Wie sonst ist zu erklären, dass in einer Phase wirtschaftlicher Stabilität und nach über 70 Jahren Friedenszeit gerade jetzt, 25 Jahre nach dem Ende des brandgefährlichen Ost-West-Konfliktes, mitten unter uns, mitten in Europa, mitten in unserem Land gegenseitiger Hass, Menschenverfeindung, Gewalt gegen Fremde wachsen? Wie sonst ist zu erklären, dass sich seit Monaten nicht nur im Netz, aber da besonders ungeheure Hetze über Menschen, die ausgegrenzt, ausgeschaltet werden sollen, wie Pech und Schwefel ergießt? Wie sonst ist zu erklären, dass gerade die vornehmsten Anwälte der Gewaltlosigkeit und Menschenfreundlichkeit wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King eines gewaltsamen Todes sterben mussten?

 

Schon die von Jesus gelebte Versöhnung war für die Menschen, auch für seine Jünger so unerträglich, dass man ihr provokant mit nackter Gewalt begegnete. Jesus musste ausgeschaltet werden, weil er uns Menschen einfach und eindeutig aufzeigte: Der Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt ist kein Naturgesetz; die Einteilung der Welt in oben und unten, reich und arm, schwarz und weiß ist nicht gottgewollt; das Ausgrenzen von Fremden und Andersgläubigen findet keine Rechtfertigung in Gottes Geboten; es gibt keine Menschen erster und zweiter Klasse; niemand ist für immer verloren; Gott richtet sich nicht nach unseren Maßstäben von gut und böse, gerecht und ungerecht. Vergebung ist unberechenbar. So widersprüchlich es klingt: Diese von Jesus gelebte Versöhnung machte die Menschen unversöhnlich ...

... und dennoch: Die von den Menschen dann an den Tag gelegte Unversöhnlichkeit beantwortet Gott mit der Versöhnung. Denn mit dem Kreuz, das die Menschen auf Golgatha errichteten, um den von Jesus aus den Angeln gehobenen Gesetzmäßigkeiten der Unversöhnlichkeit wieder Geltung zu verschaffen, richtete Gott gleichzeitig seine Versöhnung wieder auf.

 

Gott rechnete ihnen ihre Sünde nicht zu

schreibt der Apostel – und denkt dabei sicher auch an sich selbst, an seine eigene Vergangenheit, in der er im Geiste derer, die Jesus ans Kreuz brachten, die ersten christlichen Gemeinden verfolgte. Gott also rechnet mit der Menschheit auf Golgatha nicht ab, sondern er richtet unsere Unversöhnlichkeit hin - IN RIchtung Versöhnung (ja, die Kreuzesinschrift INRI können wir getrost als Abkürzung für IN RIchtung verstehen): Der Mörder neben Jesus wird von Gott ebenso angenommen, wie der römische Hauptmann, der die Kreuzigung durchführte und dann zur Erkenntnis gelangte:

Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn.

Petrus, der Verleugner, kehrt aus dem Untergrund zurück. Und Paulus, der Christenverfolger, findet Gnade und Glauben:

Gott versöhnte die Welt mit sich selbst.

 

Gott, der uns unsere Sünde nicht zurechnet, ist kein verklagender, die Schuld eintreibender, rachsüchtiger, unnachgiebiger Gott - so wie wir Menschen es sind. Wir beantworten - dem Gesetz von Gewalt und Gegengewalt folgend - jedes Golgatha mit einem neuen Golgatha, Schuld mit Schuld. Wir leben davon, dass wir strafen und töten, ausmerzen und vernichten. Gott aber beantwortet den Kreuzestod Jesu mit seiner Auferstehung. Damit untergräbt er die Ordnung, von der diese Welt hauptsächlich lebt: dass alle Rechnungen beglichen werden. Das schließt ein, dass diejenigen, die für die Todesstrukturen in dieser Welt verantwortlich sind, ihren Kopf immer wieder aus der Schlinge zu ziehen vermögen, eben nicht Opfer des „Wie du mir, so ich dir“ werden.

 

Jedoch: Wenn Paulus schreibt,

Gott war in Christus und rechnete ihnen ihre Sünde nicht zu

so sind mit „ihnen“ alle Menschen gemeint, die auf dieser Erde leben: Christen und Juden, Moslems und Hindhus, Unterdrücker und Unterdrückte, Täter und Opfer. Unter dem Kreuz und im Angesicht des leidenden Jesus, also angesichts von Leid und Zerstörung, können sie, können wir uns langfristig zu nichts anderem entwickeln als zu einer versöhnten Gemeinschaft. Wir können einsetzen, was wir wollen: die Berge von Schuld, die uns drücken, und die Abgründe an Versuchungen, denen wir ausgesetzt sind; die kleinen und die großen Gemeinheiten, die wir uns gegenseitig antun; alles erlittene und verursachte Leiden; alle Gotteslästerung und Verleugnung Gottes, die in unserem überheblichen Wirken sichtbar werden; die Ungerechtigkeit und Friedlosigkeit auf dieser Welt; die Grausamkeiten des Krieges und die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen; der kalte Eigennutz der Geldmenschen - all das rechnet Gott uns nicht zu, er rechnet es auch nicht an oder gar gegenseitig auf. Weil das so ist, deswegen riecht der Tod Jesu nach Leben. Deswegen braucht uns beim Anblick des Gekreuzigten kein Ekel und Schrecken überkommen. Denn vom Kreuz herunter spricht der leidende Gott selbst das Wort der Versöhnung und beauftragt uns,

Botschafter an Christi Statt

zu werden.

 

Das soll an Karfreitag aus uns werden: Menschen, die deutlicher und bewusster ihr Leben im Namen und im Geist des Gekreuzigten gestalten. Allerdings: Botschafter an Christi Statt zu sein, ist Auszeichnung und Makel zugleich. Es bereitet Freude und Schmerz. Wir sind in gleicher Weise der Hoffnung auf das Reich Gottes, der vollendeten Versöhnung, und dem Leid dieser Welt, den Folgen unserer Unversöhnlichkeit ausgeliefert. Deswegen gehört zu diesem Botschaftersein: dass wir uns als Christen anrühren lassen und ganz kräftig aufregen über die zahl- und namenlosen Passionen auf dieser Erde –

Versöhnung bedeutet eben nicht, dass das Leiden, die Schuld, die Sünde einfach zugedeckt, weggewischt werden. Vielmehr wird all dies durch das Kreuz Christi, in dem alles Leiden der Menschen gebündelt ist, schonungslos aufgedeckt und damit unübersehbar. Doch Gott deckt nicht auf, um uns einer Strafe zuzuführen, sondern damit wir auf dieser Erde für diese Welt Botschafter der in Christus geschenkten Versöhnung werden, Gottes Gerechtigkeit verkörpern und uns dadurch als neue Kreatur erweisen.

 

Zu diesem Dienst sagt Paulus zweierlei:

Beide Aufgaben sind nicht damit zu lösen, dass wir dieser Welt gleichgültig begegnen, einfach wegsehen, nicht wahr haben wollen und verdrängen, wie sehr sich unsere Welt im Aufstand gegen Gott befindet. Fromme Weltverneinung ist nicht das Amt des Christen, sondern Weltverantwortung, die vor der Haustür beginnt. Wer sich die Not und das Elend der Menschen gar nicht mehr nahekommen lässt, wer daran nicht leidet, der weiß auch nicht, wie sehr er selbst der Ermahnung bedürftig ist:

Lasst euch versöhnen mit Gott!

Deswegen gehören alle uns bedrängenden, aufwühlenden Ereignisse der vergangenen Wochen, unsere Ratlosigkeit und Resignation, unsere Wut und Trauer, unsere Enttäuschung und Verbitterung in die Gottesdienste mit hinein. Hoffnung und Verzweiflung sind für Christen untrennbar miteinander verbunden und widersprechen sich nur scheinbar. Denn es gibt die eine Klammer, die alles zusammenhält: die Versöhnung, die Gott uns schenkt. Sie ist es, die uns gleichermaßen das Elend schonungslos entlarvend, aber auch getröstet auf diese Welt blicken lässt.

 

Nicht von ungefähr wird in den Evangelien berichtet, dass beim Kreuzestod Jesu der Vorhang im Tempel, der fromme Schein, zerriss und sich die Gräber öffneten und die Toten aus ihnen stiegen. Wir im Leben oft so tote Menschen, die ihre Augen vor so viel Leid verschließen, müssen nichts mehr verdecken, wir können hinter die Kulissen schauen, wir können das Leid der Menschen sehen, ohne dass es uns erdrückt. Wir brauchen nicht sprachlos zu bleiben, sondern wir verfügen – auch wenn wir dabei zunächst als einsame Rufer in der Wüste auftreten - über eine aufrichtende Botschaft und mahnende Bitte:

Lasst euch versöhnen mit Gott.

 

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

www.wolff-christian.de

 



Pfarrer i.R. Christian Wolff
Leipzig
E-Mail: info@wolff-christian.de

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