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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Ostersonntag, 27.03.2016

Predigt zu Matthäus 28:1-8 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Marianne Frank Larsen

Als Hans Barrøy stirbt, wird seine Frau stumm. In dem Buch Die Unsichtbaren1 kehrt er auf seine Insel zurück Ende des Tages nach einer Tour auf das Festland. Er bringt seine Einkäufe an Land und zieht das Bott ans Ufer, und bevor er nach Hause geht, setzt er sich auf die Stufe des Bootshauses mit seiner Pfeife und raucht, während er nach Norden in den hellroten Himmel blickt, der langsam blau wird. Sie finden ihn tot, seine Frau und seine große Tochter, seine alleinstehende Schwester und ihr Junge und die beiden kleinen Pflegekinder; die sechs Menschen, die von ihm abhängig sind. In den Tagen nach der Beerdigung tun die Tochter und die Schwester und der Neffe alles, was sie können, um die Aufgaben wahrzunehmen, die Hans gelöst hätte, mit den Tieren, dem Acker und dem Fisch, um das Leben auf der kleinen Insel weitergehen zu lassen. Aber seine Frau Maria nimmt nicht teil. Sie sitzt ganz still. Sie erzählen ihr, was sie machen, aber sie reagiert nicht. Sie nennen, was sie tun sollen, aber sie öffnet den Mund nicht. Sie fragen, ob Geld da ist zum Einkaufen, aber sie antwortet nicht. Sie fragen, was vom Kaufmann zu holen ist, aber sie sagt nichts. Schließlich bitten sie einen Arzt, nach ihr zu sehen. Er nimmt Maria mit aufs Krankenhaus. Als sie auf die Insel zurückkehrt nach einigen Monaten, können sie sie nicht wiedererkennen. Ihr schwarzes Haas ist aschgrau geworden, schreibt der Dichter, und „ihre Haut sieht so aus, als hätte sie nie Sonne gesehen, die sie gehört einer Leiche im Grabe“, steht da. Das kann der Verlust aus einem Menschen machen. Als Hans stirbt, wird Maria wie eine Tote.

Der Denker namens Karl Jaspers ist zu dem Ergebnis gekommen, dass wir in unserem Dasein immer in Situationen befinden, die etwas Verschiedenes von uns verlangen. Und in allen gewöhnlichen Situationen des Alltags tun wir so gut wir können das, was wir meinen, dass die Situation von uns verlangt. Wir gebrauchen die Phantasie und das Einfühlungsvermögen und die Worte, über die wir nun einmal verfügen, und die Mittel und Handlungsmöglichkeiten, die wir nun einmal haben, um die Situationen zu meistern, in denen wir uns befinden, und da ist so viel, was wir tun können. Aber dann gibt es auch Situationen, sagt Jaspers, in denen wir zu kurz kommen. Die nennen wir Grenzsituationen. Das sind die Situationen, in denen unsere Worte und unsere Tatkraft an ihre Grenze stoßen, wo es keinen Sinn macht davon zu reden, dass man irgendetwas meistern kann, denn das ist nichts zu machen. Als sie Hans Barrøy auf der Stufe zum Bootshaus an diesem Abend finden, ist das eine Grenzsituation. Die Stummheit seiner Frau in den Tagen und Monaten danach ist der sichtbare Ausdruck dafür, dass ihre Worte und ihre Tatkraft an ihre Grenzen gestoßen sind.

In derselben Grenzsituation befinden wir uns im Osterevangelium, wenn wir den Frauen an das Grab folgen, während der Himmel rot wird. Ja, sie kommen mit duftenden Ölen, um die Leiche zu salben; das ist das einzige, was sie tun können. Es ist, wie wenn wir mit Blumen an unsere Gräber kommen; es macht eigentlich keinen Unterschied. Es ändert nichts das Geringste an ihrer Situation. Sie haben ihn verloren, den sie nicht entbehren können, und sie können nichts tun. Als er starb und begraben wurde, stießen sie an die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten. Der Stein, von dem sie reden, während sie gehen, ist der sichtbare Ausdruck für diese Grenze. Ganz so wie die Steine auf unserem Grab. Hierher und nicht weiter! Hierher und nicht weiter ging dieses Leben. So nahe und nicht näher könnt ihr euch euren Toten nähern. Auch wenn es den Frauen gelingt, Hilfe zu holen, um den Stein zu entfernen, ändert das nicht das Geringste an der Situation. Die Grenze zwischen dem Toten und den Lebenden kann niemand aufheben.

Als Maria zurück nach Barrøy kehrt mit aschgrauem Haar, beginnt sie langsam zu sprechen. Erst sagt sie nur einzelne Worte, als übe sie sich, das Boot, der Leuchtturm, das Pferd, aber allmählich erzählt sie zögernd der Tochter, wie der Vater gekleidet war, als sie sich begegneten, was sie sagte, welche Einfälle er hatte, wie das war mit dem Pferd, dem Acker und dem Räucherofen. Und sie erzählt, das einzige, an das sie sich erinnerte, als sie ins Krankenhaus kam. Dass er darauf bestanden hatte, immer ihr direkt am Esstisch gegenüberzusitzen, um sie nur ja nicht eine Sekunde aus den Augen zu verlieren. Das hatte er ihr noch vor einem Jahr gesagt. Der Tote lebt in den Erinnerungen, für die sie Worte findet. In ihnen ist alles Banale und Gleichgültige abgetan. Die Erzählung macht ganz deutlich, dass Hans Barrøy für Maria unersetzlich war. Dass niemand jemals an seine Stelle treten könnte.

Und wie merkwürdig es auch klingen mag, so ist dies eine Erfahrung, die mitten in der Trauer Dankbarkeit hervorruft. Dass er für sie unersetzbar wurde, und sie für ihn, dass er nicht eine Sekunde von ihr weichen wollte, dass weckt Freue und weckt allmählich Marias Blick und ihre Worte und ihre Tatkraft. Trotz der Trauer ist die Erfahrung der Unersetzbarkeit eines anderen Menschen eine erfreuliche Erfahrung, auch wenn es vorbei ist, denn es ist eine Erfahrung der Güte des Daseins, vielleicht geradezu eine Erfahrung, die einen den anderen Menschen als eine Gabe sehen lässt, die man von einer Macht erhalten hat, die größer ist als man selbst.

Mitten in der Verzweiflung machen die Frauen, die Ostermorgen zum Grabe gehen, dieselbe freudige Erfahrung. Auch sie haben erfahren, dass dieser bestimmte Mensch für sie unersetzlich ist; auch ihnen ist klar geworden, dass niemand jemals an seine Stelle treten kann; auch in der Erzählung von ihren Erinnerungen aus Galiläa wird der Tote auferstehen; auch für sie wird leuchtend klar werden, dass dieser Mensch als eine Gabe in ihr Dasein kam. Einmal, wenn sie den Toten erst einmal instand gesetzt hatten.

Aber dann ist es gar nicht, wie sie glauben. Der Stein ist zur Seite gewälzt. Statt des toten Mannes finden sie einen lebendigen Engel. Seine Botschaft ist, dass nicht nur der Stein umgestoßen ist. Das war die Grenze, an die die Frauen gestoßen sind. Sie gilt nicht mehr, denn der Tote ist auferstanden. Ja eigentlich sagt der Engel auf Griechisch, er ist auferweckt worden – im Passiv. Denn die Sache ist ja die, dass Tote nicht von sich aus auferstehen. Wenn der Tote wirklich auferstanden ist, so nur darum, weil ihn jemand auferweckt hat und ihm neues Leben gegeben hat und ihn in die Morgenröte hineingenommen hat. Und dieser Jemand kann nur derselbe Gott sein, der den Frauen diesen bestimmten unersetzbaren Menschen als eine kostbare Gabe gegeben hat. Der Gott, der uns für einander schafft, während wir leben, ist derselbe, der nun nach dem Tode seine Schöpferkraft eingesetzt hat, um seinen Menschen zu erwecken und ihm ein Leben zu geben, das keine Grenzen kennt.

Ostern, das jüdische Passah (dänisch påske), ist dasselbe Wort wie Passage. Es bedeutet Übergang. Übergang vom Tod zum Leben. Übergang von der Grenzsituation des Verlustes zur Hoffnung und die Wiedersehen. Allmählich, nachdem sich das Entsetzen der Frauen gelegt hat, wird es auch Übergang von Stummheit zum Reden, von Trauer zu Freude. Die Worte des Engels im Osterevangelium bieten uns auch eine Passage an. Der Übergang von Marias Erfahrung auf der norwegischen Felseninsel und unsere Erfahrung, dass jemand für uns unersetzlich wird, hin zum Glauben, dass der Gott, der uns einander gibt als kostbare Gaben, während wir leben, auch Leben schenkt, wenn wir tot sind, wie er dies am ersten Ostertage tat. Weil wir und unsere Toten so unersetzlich für ihn sind, dass er sie nicht eine Sekunde vermissen will. Amen.

 

1 Roy Jacobsen: Die Unsichtbaren, Osburg Verlag, Hamburg, März 2014, aus dem Norwegischen.



Pastorin Marianne Frank Larsen
DK 8000 Aarhus C
E-Mail: mfl(at)km.dk

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