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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Heiliger Abend, 24.12.2007

Predigt zu 1. Timotheus 3:16, verfasst von Wolfgang Vögele

Die Geheimnisse der Welt und das Geheimnis des Glaubens

„Und groß ist, wie jedermann bekennen muß, das Geheimnis des Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit." (1Tim 3,16)

Liebe Gemeinde,

Geheimnis des Glaubens.

Das entscheidende und wichtigste Wort dieses ehrwürdigen Glaubenshymnus aus dem 1.Timoteusbrief lautet: Geheimnis. Geheimnis des Glaubens. Um das Großartige, Überraschende und Überwältigende von Weihnachten zu spüren und vorsichtig aufzunehmen, muß ich zuvor über Geheimnisse nachdenken. Vor das unergründliche Geheimnis des Glaubens treten die vielen Geheimnisse der Welt.

Je älter kleine Kinder werden, desto selbständiger werden sie und desto mehr machen sie sich von der Nabelschnur ihrer Eltern frei. Die heranwachsenden Töchter und Söhne fangen an, vor ihren zunehmend ängstlichen Eltern kleine Geheimnisse zu haben. Sie sagen es nicht gerne, daß sie sich mit dem netten Jungen oder dem netten blonden Mädchen aus der Parallelklasse verabredet haben. Das Leben von kleinen Kindern ist begrenzt durch den Raum, den die Eltern ihnen abstecken. Heranwachsende Kinder entdecken mit Mut und Angst zugleich, daß dieser begrenzte Raum ihnen zu klein wird. Und sie vergrößern ihn langsam, aber stetig dadurch, daß sie ihre eigenen Geheimnisse haben. Zum Erwachsenwerden gehört das dazu. Und das ist gut so. Und Eltern tun gut daran, solche kleinen Geheimnisse zu respektieren.

Kinder werden dadurch erwachsen, daß sie lernen, mit ihren eigenen Geheimnissen zu leben und umzugehen. Die einen respektieren Geheimnisse, andere beschäftigen sich damit, Geheimnisse und Rätsel aufzulösen. Das Unbekannte, das Unverstandene und das Unerklärliche soll beleuchtet, entdeckt und aufgedeckt werden.

In vergangenen Jahrhunderten bezog sich das zum Beispiel auf unbekannte Kontinente und Länder. Entdecker und Seefahrer wollten Küsten vermessen und Seewege entdecken, so wie Christoph Kolumbus, der 1492 mit drei Schiffen im vermeintlichen Indien landete. Er wollte das Geheimnis des Seewegs nach Indien auflösen - und er fand einen neuen Kontinent: Amerika. Heute gibt es keinen Ort mehr auf der Welt, der nicht mindestens einmal gemessen, geortet und verfilmt wurde. Anders ist das, wenn wir auf das gesamte Universum schauen.

Ich fand immer schon die Astronomen faszinierend, die mit immer komplizierteren und größeren Teleskopen die Sternenwelt erkunden und dort schwarze Löcher, weiße Zwerge, rote Riesen, Sternennebel und Galaxien entdecken. Trotzdem: So viel die Astronomie heute weiß, von Urknall, Lichtgeschwindigkeit und explodierenden Zwergen, es bleiben dennoch Geheimnisse und Rätsel, die gegenwärtig noch nicht erklärt werden können.

In einer dritten Hinsicht sind Geheimnisse heute wichtig: Wir werden alle durch die Medien, durch das Fernsehen und das Internet, durch Bücher, Zeitschriften und Zeitungen mit Informationshäppchen und Wissensfetzen überflutet. Die Medien verarbeiten Informationen wie eine mit ungeheurer Geschwindigkeit rotierende Maschine: Sie sammeln, sie formulieren, sie verbreiten und sie geben weiter. Es spielt dabei eine immer geringere Rolle, ob diese unzähligen Informationen irgendeine Bedeutung für unser Leben haben: Im Grunde interessiert es niemanden, welche hübsche blondierte Freundin George Clooney gegenwärtig küßt, wer sich in Malibu am Strand die größte Millionenvilla mit drei Tennisplätzen gekauft hat, oder welchen Schönheitschirurgen älter werdende Schauspielerinnen bevorzugen. Klatsch ist ein bevorzugtes Mittel der Medien, um unsere unersättliche Neugier zu befriedigen. Die meisten von uns bestimmt eine unstillbare Sehnsucht, Geheimnisse aufzudecken. Es interessiert das Private, das Unwichtige, das Persönliche. Hast du schon gehört? Weißt du schon? Hat er dir das schon erzählt? Das ist ja erstaunlich. That's entertainment.

Wir leben in einer Welt, in der es von bewahrten und aufgedeckten Geheimnissen nur so wimmelt. Von den Jugendlichen lernen wir: Geheimnisse gehören zum Erwachsen- und Reifwerden. Von den Wissenschaftlern lernen wir: Das Aufdecken von Geheimnissen bringt die Menschheit voran, aber auch die Wissenschaft kann nicht alle Fragen beantworten. Von den Medien lernen wir: Es gibt eine allgemeine, verbreitete Sehnsucht nach Klatsch, nach dem Aufdecken privater Geheimnisse. Klatsch läuft sich leer im Verbreiten von Banalitäten.

Wie stehen nun die Geheimnisse der Welt mit dem Geheimnis des Glaubens in Verbindung?

Leben heißt mit Geheimnissen umgehen zu können. Wer wie die Unterhaltungsmedien alle Geheimnisse aufdecken will und keine Privatsphäre respektiert, der richtet sich am Ende durch seine NeuGIER (mit Betonung auf der Gier) selbst zugrunde.

Wer um Geheimnisse weiß, der begibt sich auf einen schmalen Grat. Und es ist ganz entscheidend, daß man nicht jedes Geheimnis um jeden Preis aufdeckt. Manchmal kann es wichtiger sein, Geheimnisse stehen zu lassen, sie anzuerkennen und zu respektieren.

Der tschechische Schriftsteller Ivan Klima hat einmal geschrieben: „Der Mensch hat sich die Welt immer dadurch angeeignet, daß er Fragen stellte. Für ein Kind ist die Welt noch ein einziges Geheimnis. Für einen weisen Menschen bleibt sie es bis an sein Lebensende. Das Geheimnis, das am meisten herausfordert, sollten andere menschliche Wesen sein."

Weisheit besteht darin, die Geheimnisse anderer zu respektieren. Das Geheimnis anderer Menschen besteht vor allem darin, daß sie anders sind als wir selbst. Und das gilt für Partnerinnen und Partner, Freunde, aber auch die eigenen Kindern. Wir lieben sie, indem wir das Geheimnis ihres Andersseins respektieren.

Und ich würde noch einen Schritt weiter gehen als der tschechische Schriftsteller und formulieren: Das Geheimnis, das am meisten herausfordert, sollte Gott sein, der Schöpfer, Erhalter und Erlöser des Lebens. Das entscheidende Geheimnis der Welt ist ein Geheimnis des Glaubens.

Es ist DAS Geheimnis des Glaubens, daß Gott Mensch wurde. Es ist DAS Geheimnis des Glaubens, daß die Engel und Hirten das Kind in der Krippe angebetet und verehrt haben. Es ist DAS Geheimnis des Glaubens, daß der allmächtige Gott, der Schöpfer und Erlöser der Welt, den Menschen, uns Menschen in einem Neugeborenen begegnet, das irgendetwas zwischen 2500 und 3500 Gramm wiegt, dessen Haut mit Käseschmiere bedeckt und von Fruchtwasser noch feucht ist.

Das ist das große Wunder von Weihnachten. Und das ist das entscheidende und tiefste Geheimnis Gottes. Dem darf sich niemand mit dem analytischen Messer nähern: Grübeln und Gründeln sind hier nicht angebracht. Denn das sezierende Messer tötet, was es eigentlich erhalten will. Der italienische Kardinal Carlo Maria Martini hat einmal sehr richtig bemerkt, daß die Christen nicht Erwartungen befriedigen, sondern Geheimnisse feiern wollen. An keinem Festtag ist das so wahr wie am Heiligen Abend.

Wir feiern das Geheimnis von Weihnachten, durch Singen, durch Beten, durch das Hören auf die biblischen Verheißungen. Wir finden das Vorbild dafür bei den schlichten Hirten, die sich ohne Zaudern auf den Weg machen, nachdem ihnen in einer Vision ein Engel erschienen ist. Was die Hirten treibt, ist nicht wissenschaftliche Neugier, auch nicht die Sucht nach Klatsch und Neuigkeiten, nach allem, was eine Zeitungsmeldung oder ein Sensationsphoto wert wäre. Was die arglosen Hirten treibt, sind Ehrfurcht und Staunen über das Wunder Gottes: Er ist Mensch geworden. Das wollen wir uns ansehen.

Am Anfang steht kein Wort, im Gegenteil: Am Anfang steht höchstens der Schrei dieses Krippenkindes. Am Anfang steht kein nüchterner Gedanke. Am Anfang steht keine logische Reflexion. Am Anfang steht kein buntes Bild. Am Anfang steht ein wirklicher Mensch, klein, unscheinbar, verletzlich, geboren in einer abgelegenen Hütte eines sehr abgelegenen Dorfes in einer abgelegenen Provinz des riesigen römischen Imperiums. Das Göttliche unter den Menschen nimmt einen unscheinbaren, kaum zu bemerkenden Anfang.

Am Anfang ist ein Baby, ein kleiner Mensch. Das ist das Geheimnis Gottes, aus dem der christliche Glaube heraus wächst.

Und alles andere, was das Leben von Christen ausmacht, nimmt dort seinen Anfang: Dieses kleine Kind weckt den wahren Glauben. Es schafft Vertrauen. Es ermutigt zur Predigt, dazu, diesen Glauben auch weiterzugeben, denn er ist ansteckend; er verbreitet sich. Dieses kleine Kind stärkt uns zur Liebe; unermüdlich macht es uns Hoffnung trotz aller Verzweiflung und Mutlosigkeit. Dieses kleine Kind, so unwahrscheinlich sich das anhören mag, führt uns in die Herrlichkeit Gottes, in die Zukunft seines Reiches.

Am unscheinbaren Anfang steht ein Geheimnis. Am Anfang, in der schummrigen Krippe von Bethlehem steht DAS Geheimnis Gottes. Das kleine Kind steht für den Glauben, für wachsendes Vertrauen, für Hoffnung und für die Zuversicht, daß Gott menschliches Leben schützend in seiner segnenden Hand hält. Das Kind steht für die Liebe, für wachsende Liebe, für die Liebe, die Gott uns Menschen entgegenbringt - so wie Maria, darin allen liebevollen Müttern gleich - sich um ihr Neugeborenes rührend sorgt.

Aber auch das andere darf nicht vergessen werden: Die Maler mittelalterlicher Krippendarstellungen haben das immer gewußt und durch Symbole und Zeichen dafür Rechnung getragen, daß uns das bewußt bleibt: Das Kind in der Krippe wird Jahrzehnte später zum Gekreuzigten. Die Geschichte Gottes mit den Menschen bleibt nicht frei von Trübungen, Enttäuschungen, Verzweiflungen.

Aber das tut unserem Staunen keinen Abbruch. Wir leben in einer Welt, in der wir mit Wissen und Informationen überflutet werden. Leider ist es so, daß all diese Informationen und Wissenshäppchen die eine entscheidende Sehnsucht nicht stillen können.

Jeder möchte gerne die Frage beantwortet haben: Was gibt unserem Leben Sinn? Wer trägt uns über den Tod hinaus? Das Krippenkind gibt uns auf diese beiden Fragen eine Antwort. Die Antwort besteht nicht in objektivem Wissen, nicht in nachschlagbaren Informationen. Die Antwort besteht in dem Satz: Gott ist Mensch geworden. Das ist - im wahren Sinn des Wortes - ein geheimnisvoller Satz. Der allmächtige, gewaltige Gott bleibt den Menschen unzugänglich. An Weihnachten feiern wir das Geheimnis, daß er Mensch geworden ist, daß er sich zugänglich gemacht hat. Den Gott, der Mensch geworden ist, ihn können wir ansprechen. Wir beten zu ihm. Wir singen zu seiner Ehre.

Gott kommt zur Welt. Er kommt als Krippenkind zur Welt. Das ist das Geheimnis von Weihnachten.

Amen



PD Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe
E-Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de

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