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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Kantate, 24.04.2016

Predigt zu Kolosser 3:1-17, verfasst von Reinhard Schmidt-Rost

Liebe Gemeinde,

was hält christliche Gemeinden zusammen?

Die Gemeinsamkeit des Ortes?  Die Ortsgemeinde? 

Die organisatorische, also rechtliche Verbindung, die gemeinsame Zugehörigkeit zur Körperschaft öffentlichen Rechts, also die Mitgliedschaft?

Das gemeinsam gesprochene Bekenntnis, die gemeinsame Gottesdienst-Praxis?

Die Außenansicht, dass wir alle als Christen gesehen werden, von den anderen, den Muslimen, denen, die sich als weltanschaulich ungebunden bezeichnen, die sich heute auch gerne als „normal“  ausgeben ?

Alle diese Antworten – lokale Zugehörigkeit, organisatorische Einbindung, Bekenntnis –  enthalten ein Wahrheitsmoment, aber wir wissen, dass damit doch nur die Außenseite und die Oberfläche angesprochen sind.

Deshalb vertiefen wir uns Sonntag für Sonntag, oder Tag für Tag, jedenfalls einigermaßen regelmäßig in einen Bibeltext, ob es nun ein Losungswort für den Tag oder ein Perikopentext für den Sonntagsgottesdienst ist, stets geht es darum, durch Besinnung auf biblische Texte, die Besinnung auf unser Leben anzuregen, wie es von unserem Glauben an Christus beeinflusst wird. Denn was uns verbindet, ist eine geistige Größe, die sich in den Worten der Bibel, aber auch in den Worten vieler Zeugen abzeichnet, zum Ausdruck kommt.

 

So auch in den Worten des Apostels, die er in einem Brief an die Gemeinde in Kolossä geschrieben hat:

 

12 So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld;

13 und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!

14 Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.

15 Und der Friede Christi, zu dem ihr auch berufen seid in "einem" Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar.

16 Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.

17 Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.

 

Liebe Gemeinde,

als Elite werden die Christen in Kolossä vom Apostel angesprochen, aber gerade nicht als bürgerliche oder politische Elite des Ortes, - über die soziale Gliederung der Gemeinde in Kolossae wissen wir wenig -, sondern als Elite, die sich hat herausrufen lassen durch das Wort Christi, die Auserwählten Gottes.

Die Weisheit der Gestalter der Perikopenordnung hat als Predigttext genau die Verse ausgewählt, die den Exzellenz-Status der christlichen Gemeinden – auch im Landstädtchen Kolossae in der südwestlichen Türkei – anschaulich machen: die Verse 12-17.

Denn danach folgen Gedanken, die der Ordnung in jener Zeit vollständig entsprachen, sie nicht veränderten, vielmehr stabilisierten:

 

Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter, wie sich's gebührt in dem Herrn.

Ihr Männer, liebt eure Frauen und seid nicht bitter gegen sie.

Ihr Kinder, seid gehorsam den Eltern in allen Dingen; denn das ist wohlgefällig in dem Herrn.

Ihr Väter, erbittert eure Kinder nicht, damit sie nicht scheu werden.

Ihr Sklaven, seid gehorsam in allen Dingen euren irdischen Herren, nicht mit Dienst vor Augen, um den Menschen zu gefallen, sondern in Einfalt des Herzens und in der Furcht des Herrn.

Das ist die Ordnung jener Zeit und an jenem Ort. Manches hat sich bis heute nicht geändert, trotz der Verse 12-17, zumal in der Gegend von Kolossae. Man spricht bei einer solchen Liste von Anweisungen für Frauen und Männer, Kinder und Sklaven von „Haustafeln“, man könnte auch sagen von Hausordnungen.

Herzliches Erbarmen aber, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; einander ertragen und Vergebung hingegen sind außerordentliche Verhaltensweisen. Sie zeigen, dass sich das Leben der Christen nach und nach aus den Ordnungen ihrer Zeit heraus- und weiterentwickelt hat.    

Am deutlichsten kommt der Wandel in den Ordnungsvorstellungen bei dem Sachverhalt der Vergebung zum Ausdruck: Der Alltagsverstand denkt ja in schlichter zeitlicher Reihenfolge: Erst „Vergehen“, dann „Vergeltung“ oder eben besserenfalls auf Vergehen kann „Vergebung“ gnädig folgen.

Aber „Vergebung“ ist viel mehr als eine unübliche Reaktion auf ein „Vergehen“, und deshalb ist sie vor allem etwas ganz anderes. „Vergebung“ ist eine Vorgabe, sie ist die lebensrettende und kulturerhaltende Voraussetzung dafür, dass wir die Unterschiede zwischen den Menschen nicht nur nach Recht und Gesetz aushalten, wo wir uns nicht bis aufs Messer bekämpfen, sondern sie auch reichhaltig ausgestalten können. „Vergebung“ gibt Spielraum zum Umgang mit Unterschieden.

 

Die üblichen und nicht selten üblen Folgen der gewohnten direkten Verbindung von Versehen, Vergehen und Vergeltung, von Untat und Rache gefährden definitiv die menschliche Kultur auf dem ganzen Globus, das blinde Schicksal ist blind für das Überleben der Gattung Mensch. Wo Schuld als Schicksal hingenommen wird, bleibt nur Vergeltung und tragischer Ausgang, wie der Harfner in Goethes Wilhelm Meister in seiner jahrhundertegetränkten Weisheit singt:

„Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte!

Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr lasst den Armen schuldig werden,
Dann überlasst ihr ihn der Pein;
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.“

Das ist die klassisch-tragische Deutung aus aufgeklärter Einsicht mit allenfalls mäßiger medialer Milderung des Menschenschicksals:

Die himmlischen Mächte sind anonym und das Schuldig-Werden bleibt gleichfalls unbestimmt, denn es haftet jeder Aktivität von Menschen an. Der Mensch will das Beste, aber jeder kann es nur nach seinem eigenen Augenmaß bestimmen, und so sind Distanz und Disharmonie die unvermeidlichen Begleiterscheinungen des Erlebens und Erleidens der Unterschiede, die doch den Reichtum der Menschheit ausmachen könnten.

„Vergebung“ klingt wie eine Reaktion und ist es als aktuell erbrachte Handlung auch, aber zuvor und in ihrem Wesen ist „Vergebung“ eine „Vorgabe“, eine Zusage von Leben trotz aller Unterschiede, trotz aller lebensgefährlichen Konflikte.

 Vergebung wirkt wie ein Vorzeichen vor dem Leben der Menschen, die dieser Möglichkeit der Lebensgestaltung trauen. Dazu aber braucht es mindestens zwei, damit sich Vergebung ereignet, und am besten einen dritten als Zeugen, also zwei oder drei, die im Geist der Vergebung, im Geist Christi, versammelt sind.

Die „Vorgabe Vergebung“  ist auf die Liebe als Band der Vollkommenheit angewiesen – und damit wird die Liebe in ganz bestimmter Weise definiert: sie nicht mehr allein als Triebkraft des Eros bestimmt, auch nicht mehr nur als freundschaftliche Beziehung, sondern vielmehr und insgesamt als die Kraft, die das gegenseitige Ertragen und sogar die Vergebung ermöglicht.

 

Diese Auffassung von Liebe hat nichts Romantisches und schon gar nichts Operettenhaftes an sich, sie ist eine Kraft, die stark in Anspruch nimmt und gerade nicht von Sympathie, sondern vom Gefühl wechselseitiger Verantwortung getragen ist. Menschen, die durch die Liebe im Geist Christi verbunden sind, akzeptieren, dass sie auch bei bestem Willen nicht vermeiden können, immer wieder aneinander schuldig zu werden, weil sich unvermeidlich jeder selbst der Nächste ist.

Um die Kraft dieser Liebe immer wieder in sich und in der Gemeinschaft wachzurufen, deshalb ist die Besinnung auf das Wort Christi immer wieder notwendig. Nehmen Sie etwa die Seligpreisungen: Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.

Aber auch die Lieder und Gebete der Bibel Israels, die Psalmen und Lobgesänge des Alten Testaments dienten der frühen Christenheit zu Besinnung auf das Wort Christi. So auch uns. Man denke an Psalm 130: Aus der Tiefe rufe ich Herr zu Dir. Wer diese Worte kennt, wird sie in Not und Unglück sich zum Trost immer wieder sagen. Und in guten Zeiten hat der Psalm vom guten Hirten meine Gefühle getragen und erst recht Psalm 36 mit den Worten: Herr, Deine Güte reicht, soweit der Himmel ist.

Dietrich Buxtehude hat zu den letzten Worten des Predigttextes eine leicht spielbare Kantate geschrieben, die ich in meiner Jugend im Schulorchester mitgespielt habe, aber auch die Schloßkirchenkantorei hat sie in meiner Zeit hier schon musiziert: Alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.

Solche Musik hat viel zu meiner Entscheidung, Theologie zu studieren,vor 50 Jahren  beigetragen und ich bin über jeden Studenten froh, und natürlich auch über jede Studentin, die Psalmen und Lieder auf sich wirken lässt, denn durch Psalmen und Lieder strömt Gottes Liebe besonders intensiv in das Leben der Menschen, als die Kraft, die uns zur Gemeinschaft im Geist Christi verbindet. Gott lasse sein Wort in uns auf diese und jene Weise zum Segen wirken.                                                                                                                   Amen.

                             



Prof.Dr. Reinhard Schmidt-Rost
Bonn
E-Mail: r.schmidt-rost@uni-bonn.de

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