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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Trinitatis, 22.05.2016

Unbegreiflichkeit Gottes
Predigt zu Römer 11:33-36, verfasst von Thomas Bautz

(Der Hymnus ist gegenüber V. 25-32 formal u. inhaltlich eigenständig; Übers., cf. H. Menge)

O welch eine Tiefe des Reichtums (der Gnadenfülle) und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschlich sind seine Gerichtsurteile und unbegreiflich seine Wege!

Denn wer hat den Sinn (die Gedanken) des Herrn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat ihm zuerst etwas gegeben, sodass er etwas dafür zurückfordern könnte?

Denn von ihm und durch ihn und zu ihm (für ihn) sind alle Dinge: ihm gebührt die Ehre in Ewigkeit! Amen.

 

Liebe Gemeinde!

Die „All-Aussage“ am Schluss des Hymnus findet sich auch innerhalb der Philosophie der Stoa bei den Selbstbetrachtungen (IV, 23) des römischen Kaisers und Philosophen Marc von Aurel (121-180): „Alles, was dir ansteht, o Welt, steht auch mir an. Nichts kommt mir zu früh, nichts zu spät, was für dich zur rechten Zeit kommt. Alles, was deine Zeiten mitbringen, ist mir eine liebliche Frucht, o Natur. Von dir kommt alles, in dir ist alles, in dich kehrt alles zurück.“ (Welt als übergeordneter Begriff für Materie und Form ist für Stoiker oft identisch mit der Gottheit.)

Ein dem paulinischen Lobpreis entgegenkommender, auf den kosmischen Christus bezogen, findet sich im Kolosserbrief (1,16f):

(…) denn in ihm (durch seine Vermittlung) ist alles geschaffen worden, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare wie das Unsichtbare, mögen es Throne oder Herrschaften, Mächte oder Gewalten sein: alles ist durch ihn und für ihn geschaffen worden, und er ist vor allem (steht über allem), und alles (das ganze Weltall) hat in ihm seinen Bestand.“

Auch in der Stoa geht man davon aus, dass Gott bzw. die Götter etwas leisten (nicht untätig sind) und dass dies vorzüglich sei; nichts aber sei vorzüglicher als die Verwaltung der Welt (administratio mundi); sie würde also mit der planenden Vernunft der Götter verwaltet. Dabei schließt Cicero von der menschlichen Fähigkeit, mit Vernunft und Klugheit zu planen, auf die in noch höherem Maße vorhandenen Eigenschaften bei den Göttern. (Cf. Cicero: de natura deorum II, 76; cf. II, 79-80; s. Stoa und Stoiker I, S. 479).

Die Weisheit aber – wo findet man diese? und wo ist die Fundstätte der Erkenntnis? Kein Mensch kennt den Weg zu ihr, (…). Gott hat den Weg zu ihr (allein) erschaut, und er kennt ihre Fundstätte“ (Hiob 28,12-13a.23; cf. H. Menge).



Das Buch Sirach (vor 175 v.d.Z. entstanden) dichtet hymnisch, das Weltall habe durch Gottes Herrlichkeit festen Bestand. Der Höchste wisse alle Dinge und siehe voraus, was geschehen wird. Er verkünde, was vergangen und was zukünftig ist, und offenbare, was verborgen ist; es entginge ihm kein Gedanke, und nichts sei ihm verborgen. Die Wunderwerke seiner Weisheit habe er fest gegründet; sie bestünden von Ewigkeit zu Ewigkeit; nichts sei hinzugefügt und nichts hinweg genommen, und keines Ratgebers habe er bedurft (cf. Sirach 42,17b.18c-21; Menge; Luther Bibel 1984).

Martin Luther geht davon aus, dass „Gott der Wahre, der Eine ist, dazu ganz unbegreiflich und unzugänglich für die menschliche Vernunft, so ist es billig, sogar notwendig, daß auch seine Gerechtigkeit unbegreiflich ist, wie es Paulus auch ausruft, wenn er sagt: O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege (Röm 11,33)“ (Luther: Vom unfreien Willen (1525). Martin Luther: GW, S. 2230-2231; vgl. Luther-W Bd. 3, S. 328; DB 63).

Man bleibt auf der Suche nach der Bedeutung des Unsagbaren, nach dem Sinn des Unbegreif-lichen; man wähnt sich immer wieder auf der Spur des Undenkbaren, des Unaussprechlichen. Ein berühmter, aber anonymer Philosoph und Theologe des frühen 6. Jh., Pseudo-Dionysius (Areopagita), lehrt die Unerkennbarkeit und Unsagbarkeit Gottes und seines Wesens, weshalb es wenig sinnvoll sei, diesem irgendwelche Eigenschaften zuzuordnen.

Es gibt aber religiöse Suchbewegungen, die vom Bekannten, Sichtbaren ausgehen und kontemplativ, meditierend – auch reflektierend – das Unbekannte, Unsagbare, Unsichtbare suchen. Das ist eine ganz andere Vorgehensweise, eher eine Geistes- und Lebenshaltung, als dies bei begrifflich festgelegtem Denken und „Glauben“, Dogmen und Bekenntnissen der Fall ist. Sucht man nach einer Möglichkeit, sich der Unsagbarkeit zu nähern, ohne sie sogleich wieder scheinbar (!) zu überwinden, stößt man selbstredend an die Grenzen der Sprache. Die Suchbewegungen sind oft kreativ, bereichern uns künstlerisch, literarisch und philosophisch. Rainer Maria Rilke, häufig als „mystischer“ Dichter betrachtet, hat schöne, zarte, poetische Annäherungen an das Unsagbare auszudrücken versucht:

Du willst die Welt nicht anders an dich halten / als so, mit dieser sanftesten Gebärde. / Aus ihren Himmeln greifst du dir die Erde / und fühlst sie unter deines Mantels Falten. // Du hast so eine leise Art zu sein. / Und jene, die dir laute Namen weihn, / sind schon vergessen deiner Nachbarschaft. // Von deinen Händen, die sich bergig heben, / steigt, unsern Sinnen das Gesetz zu geben, / mit dunkler Stirne deine stumme Kraft.“ (R.M. Rilke: SW I (1970), 299; aus: Vom mönchischen Leben.)

Bis heute stehen sich strikte „Glaubensformen“ im Sinne eines Fürwahrhaltens von Aussagen über „Gott“ (Affirmative Theologie) und Negative Theologie unversöhnlich gegenüber. Das eine scheint mit dem anderen tatsächlich kaum vereinbar. Vertreter der Negativen Theologie meinen, „Gott“ sei weder gerecht noch ungerecht, weder gut noch böse, sondern über diesen Eigenschaft oder außerhalb von ihnen zu suchen. Er sei unnennbar, unsagbar, unerforschlich, unbegreiflich, unendlich, unsichtbar und erhaben über allen menschlichen Kategorien.

Nach meiner Erfahrung ermöglicht oder weckt Negative Theologie eher lebendigen, offenen Glauben im Sinne von Ehrfurcht und Vertrauen, als es ein theologisches System scheinbar plausibler Aussagen über „Gott“ oder dessen Eigenschaften je zu leisten vermag. Nikolaus von Kues (Cusanus, 1401-1461) hält Negative Theologie für das System der Affirmativen für „so unentbehrlich, daß Gott ohne sie nicht als der unendliche Gott verehrt würde, sondern vielmehr als Geschöpf. Eine solche Gottesverehrung aber ist Götzendienst, der dem Bilde gibt, was nur der Wahrheit gebührt (…). Die heilige Unwissenheit hat uns die Unaussprechlichkeit Gottes gelehrt, wegen seiner unendlichen Erhabenheit über alles, was sich benennen läßt. Weil dies unbedingt wahr ist, sprechen wir richtiger von ihm, wenn wir alles Geschöpfliche abstreifen und verneinen. Der große Dionysius wollte ihn darum weder Wahrheit noch Vernunft noch Licht noch irgendetwas von dem genannt wissen, was man aussprechen kann“ (De docta ignorantia. Die belehrte Unwissenheit, hg.v. K. Bormann, XXVI, 109-110).

Angemessene Attribute, die Gottes Unbegreiflichkeit ansprechen, sind synonym; weitere Synonyme: unaussprechlich, namenlos; unbeschreiblich, unfassbar, unermesslich, grenzenlos; beispiellos; unglaublich; hinzu kommt noch das Unsichtbare. Viele Menschen gebrauchen vermutlich intuitiv und etliche auch rational solche Zuschreibungen und würden zustimmen, wenn man sie darum bäte, sich ihren Sprachgebrauch bewusst zu machen.

Damit befänden sie sich in guter Gesellschaft, in der Tradition des Pseudo-Dionysius und des Nikolaus von Kues. Wollte man vom Unsagbaren doch etwas sagen, so nennt Cusanus den verborgenen Gott: unbekannt, weil ungekannt; nicht erkannt, unerkennbar: uneinsehbar; dem Verstand, der Vernunft nicht in den ihnen eigenen Denkformen zugänglich, vielmehr die „absolute Unbegreiflichkeit selbst“ (Werner Beierwaltes: Der verborgene Gott. Cusanus und Dionysius, Trierer Cusanus Lecture 4 (1997), 15; dort mit den lateinischen Begriffen).

Im Grunde geht diese Gottesbetrachtung über seine Unsagbarkeit und Unbenennbarkeit auf den Neuplatoniker Plotin (204-270) zurück, findet sich aber auch bei Augustinus (354-430). Demnach scheitern menschliche Bezeichnungen für „Gottes Eigenschaften“ daran, dass er ja als Urheber all dessen gelten müsse, z.B. sei er „nicht Seele und nicht Wissen“, weil er doch „Urheber von Seele und Wissen“ sei. Mögen Namen und Begriffe der Positiven Theologie in sich eine gewisse Berechtigung haben, „Gott“ sei indessen „doch über jeden Namen erhaben“, weil ja seine Wesenheit über allem liege, was wir von ihm erkennen und (…) bezeichnen“; s. Nikolaus von Kues: Drei Schriften vom verborgenen Gott, hg.v. Bohnenstaedt, 73-74 (A. 14).

Freilich stößt Negative Theologie immer wieder auf Gegnerschaft: kluge Leute, die Bescheid wissen über (ihren) „Gott“, Gebildete oder fromme Intellektuelle, Kirchentreue; sie benötigen Begriffliches, weil sie begreifen wollen, was aus der Sicht eines Cusanus nicht begreiflich ist. Es gibt aber auch das Bedürfnis, sich ein Gottesbild zu gestalten, dankbar greift man Formen der Tradition auf; man hält das Überlieferte, Vermittelte einfach ungefragt für wahr. Es gibt Menschen, meist Kirchgänger, die solche Gottesvorstellungen wie die übernommene Basis ihres Glaubens (etwa in Gestalt des Glaubensbekenntnisses) allgemein bis ans Lebensende bewahren und es nicht in Frage stellen (lassen).

Es gibt aber auch viele Menschen, vermutlich weniger unter den Kirchgängern, die nicht nur traditionellen Glaubensinhalten (Dogmen, Lehrsätze) mit starken Zweifeln begegnen, sondern gängige Gottesbilder aus den überlieferten Rahmen reißen und zerstören. Solche Rebellen sind wenig gelitten, ihre heftigen Provokationen stiften Unruhe und Unfrieden, weil man sich behaglich in seiner kleinen Glaubenswelt eingerichtet hat. Krankheit, Leiden, Folter, Mord, Krieg, Katastrophen und sogar Auschwitz - alles wird in diese Glaubenswelt integriert, und man hält an den begreifbaren Eigenschaften Gottes fest, die man ihm zugeschrieben hat.

Als Chefredakteur unserer Schulzeitung am Gymnasium erhielt ich ein Buch, zu dem ich immer wieder gern greife; darin fand ich nämlich die erste „Predigt“, die mich angesprochen hat, nachhaltig (Werner Sprenger: Brauchen Hungernde denn Gedichte? - in Auszügen):

Da (wo?) IST nun Gott und / und gibt (wem?) zu tun? // So schrecklich viel zu tun / Den(n) Theologen: lügen nicht! // Ihr Wortreich Gottes / wortreich zu erklären: / Hebräisch, (…) / Griechisch, Latein: / irgendwo muß er doch Sein! // So reich an Worten / (reicher geht es nicht); / so arm an Taten / (erbärmlicher geht es nicht). // Sie sprechen sich die Lippen heiß / (mit wortgekühlten Herzen) / weil heute jeder Fernseher weiß / (weißt Du es auch?) // Daß ach so viel / in dieser Welt / so viel / und noch viel mehr IST // IST / ganz und gar nicht göttlich. // Wie das erklären? // Die Theologen lügen nicht. / Erklären das Unerklärliche, / denken das Undenkbare, / segnen das Unerhörte: / (…) / Vergotten das Unmenschliche: / (…) // Dabei wäre es so einfach: / beweist Euch erst selbst, / ehe Ihr Euren Gott beweisen wollt. / Verlasst Eure Vierzimmerwohnungen, / Eure Sessel und Hörstühle. / Gehet hin in die Welt wie Er, / Ihr wisst schon, wen ich meine - oder? / Und Ihr müsst nicht einmal das Kreuz fürchten! // (…)“ (Brauchen Hungernde …: Kirche tot. Pfarrer lacht, 45-77: 57-66).

Sprenger, der später auch Hör- und Theaterstücke schreibt, spielt nicht nur auf das Problem der Unbenennbarkeit Gottes an, das sich selbst mit den biblischen Sprachen nicht lösen lässt, sondern öffnet auch die Augen für die Unvereinbarkeit der Gewalt und der Leiden in der Welt mit den Vorstellungen der Theologen, die nur bequem ihrer Gotteslehre frönen.

Eine noch tragischere und skandalöse Unvereinbarkeit traditioneller Gottesvorstellung mit der Wirklichkeit bezieht sich auf die Gräueltaten von Auschwitz und wird vom Rabbiner Richard Lowell Rubenstein (geb. 1924) angeprangert: Eine ehrliche intellektuelle Reaktion auf die Shoa sei die Ablehnung eines Gottes, der in der Geschichte handelt. Dies bedeute das Ende des jüdischen Glaubens an Erwählung. Daher sei jüdische Existenz keineswegs eine Existenz, in der das Schicksal der Juden als Strafe Gottes anzusehen sei. Das Exil sei nicht nur eine historisch-geographische Gestalt jüdischer Verbannung, sondern eine allgemein-menschliche und kosmische Realität. Darin müsse jeder Mensch den Sinn seines Lebens selber schaffen.

Rubenstein legt den Finger in die Wunde der skandalösen Theodizeefrage (Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen). Er argumentiert einfach: Einen gerechten und allmächtigen Gott zu postulieren, der Israel durch Bundesschluss vertraglich verpflichtet und in seinen Angelegenheiten wirksam tätig sei, könnte nur bedeuten, dass Gott mit Recht die Ermordung von sechs Mio. Juden wollte. Konsequent proklamiert er den „Tod Gottes“ (The Symbols of Judaism and the Death of God, in: Wrestling with God, 409-418: 416ff), wendet sich dem zu, was er „the tragic fatalities of the God of nature“ (die tragischen Verhängnisse des Gottes der Natur; eine pantheistische Vorstellung) nennt; Rubenstein: After Auschwitz (1. Aufl. 1966), 68; später (2. Aufl. 1992) relativiert er seine Auffassung (cf. Lévinas: Useless Suffering, in: Wrestling with God, 450-454: Theodicy, 451f; The End of Theodicy, 452ff).

Pars pro toto benennen wir an dieser Stelle eine Auffälligkeit jüdischer Theologie, nämlich das Insistieren auf das biblische Phänomen: „Verbergen des Antlitzes“ oder „Verhüllung des Antlitzes“ („Gottes“), nicht mit deus absconditus oder „Gottes“ Abwesenheit gleichzusetzen. Emmanuel Lévinas (1906-1995) beschreibt das spezifisch jüdische Verständnis (Lévinas: Die Tora mehr zu lieben als Gott, in: Wolkensäule und Feuerschein, 214f):

Gott, der das Antlitz verhüllt, ist, wie wir denken, weder eine Abstraktion des Theologen, noch ein Bild des Dichters. Es ist die Stunde, in der der Gerechte keine äußere Zuflucht mehr findet, in der ihn keine Institution mehr beschützt, in der sich auch die Tröstung der göttlichen Gegenwart im kindlichen religiösen Gefühl verweigert, in der das Individuum nur in seinem Bewußtsein siegen kann, d.h. notwendigerweise im Leiden. Dies ist spezifisch jüdischer Sinn des Leidens, das in keinem Augenblick den Wert einer mystischen Sühne für die Sünden der Welt annimmt. Die Position der Opfer in einer Welt […], in der das Gute nicht siegen kann, ist Leiden. Es offenbart einen Gott, der, indem er auf jede hilfreiche Manifestation verzichtet, an die volle Reife des restlos verantwortlichen Menschen appelliert.“

Spätestens an Auschwitz, an der Shoa, zerschellen alle personifizierenden Gottesbilder, die ein Begreifen des Unbegreifbaren und ein Sagen des Unsagbaren suggerieren. Frömmigkeits- und Lebenspraxis mag Menschen immer noch an solche religiösen Vorstellungen festhalten lassen, wenn sie hinter ihnen eine objektive Wirklichkeit zu erkennen meinen. Es entspricht zutiefst dem Denken, menschliche Eigenschaften zu übersteigern und auf eine höhere Ebene, eben auf „Gott“ zu projizieren oder zu übertragen.

Solange uns diese Projektionen - als Wunschvorstellungen oder als Denkmodelle - bewusst sind, wir sie nicht für den verborgenen, unbegreiflichen „Gott“ selbst halten, ist unser Glaube, unser „Gottvertrauen“ noch nicht gefährdet, sich zur Verehrung oder Anbetung eines Götzen bzw. zum Götzendienst zu entwickeln. Schon längst verstehe ich Glauben, Vertrauen und die Ehrfurcht vor dem, dessen ich in keiner Weise habhaft werde, das mein Denken und Sinnen und sprachliches Vermögen in jeder Hinsicht übersteigt, begreife ich also solchen Glauben als religiöse Suchbewegung. Ich bin kein Wissender, sondern ein Suchender.

Ich finde es schon höchst unangemessen und schlimm, dass wir in der Arbeitswelt, in der Politik, in der Kirche und auch privat unter einander oftmals eine unsichtbare, aber desto spürbarere Messlatte anlegen, uns gegenseitig taxieren (was mit Wertschätzung leider gar nichts zu tun hat), dass wir gewisse Schubladen offenhalten, um Menschen reinzulegen. Wir können mit Kategorien und Kriterien (beide Begriffe stammen aus der Gerichtssprache: „anklagen“ und „urteilen“) aufwarten, nach denen wir Leistungsvermögen, Qualität und Integrität eines potentiellen Mitarbeiters einschätzen. Haben Sie sich ein Bild gemacht?

Diese Frage wird nach einem Vorstellungsgespräch laut, nachdem sich jemand vor einem Gremium beworben hat - selbstbewusst oder (ein wenig) zitternd und zagend. In welchem Bereich auch immer, Bewerber werden nie ganz dem Bild, das man sich von ihnen macht, genügen. Ich wünsche ihnen sogar, dass sie als Personen und Persönlichkeiten niemals der Vorstellung des Arbeitgebers ganz entsprechen. Das betrifft auch die Ansprüche, die dem Einzelnen in der Familie oder anderswo begegnen.

Wenn wir uns also einander taxieren und beurteilen, uns nach eigenen Kategorien ein Bild von einander konstruieren, nimmt es vielleicht nicht Wunder, wenn wir Vorstellungen von „Gott“ entwerfen, die wiederum nichts sind als unsere Gespinste, die in diesem Fall noch nicht einmal auf Beobachtbares oder Sichtbares zurückgreifen können. Auf Heilige Schriften kann man sich auch nicht berufen, sind sie doch von Menschen geschrieben und keineswegs „vom Himmel gefallen“. Es bleiben aber offene religiöse Suchbewegungen. Religiös ist nicht nur die Suchbewegung des Menschen, sondern lässt sich auch verstehen als Suchbewegung zum Menschen. Wenn beides zusammenfällt, spüren wir Mystisches, Erhabenes, Religiöses.

Das Wissen darum, dass das Unerforschliche wirklich existiert, und dass es sich als höchste Wahrheit und strahlende Schönheit offenbart, von der wir nur eine dumpfe Ahnung haben können, dieses Wissen und diese Ahnung sind Kern aller wahren Religiosität.“ Die Religion Albert Einsteins „besteht in der demütigen Anbetung eines unendlichen geistigen Wesens höherer Natur, das sich selbst in den kleinen Einzelheiten offenbart, die wir mit unseren schwachen und unzulänglichen Sinnen wahrzunehmen vermögen. Diese tiefe gefühlsmäßige Überzeugung von der Existenz einer höheren Denkkraft, die sich im unerforschlichen Weltall manifestiert, bildet den Inhalt meiner Gottesvorstellung.“

Das tiefste und erhabenste Gefühl, dessen wir fähig sind, ist das Erlebnis des Mystischen. Aus ihm allein keimt wahre Wissenschaft. Wem dieses Gefühl fremd ist, wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, der ist seelisch bereits tot.“ „Die religiösen Genies aller Zeiten waren durch kosmische Religiosität ausgezeichnet, die keine Dogmen und keinen Gott kennt, der nach dem Bild des Menschen gedacht wäre.“

Es scheint mir, dass es die wichtigste Funktion der Kunst und der Wissenschaft ist, dies Gefühl unter den Empfänglichen zu erwecken und lebendig zu erhalten. Ein Zeitgenosse (Max Planck) hat nicht zu Unrecht gesagt, dass die ernsthaften Forscher in unserer im Allgemeinen materialistisch eingestellten Zeit die einzigen religiösen Menschen sind.“ - „Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft blind“; E. Bergemann: Kosmische Religiosität (Albert Einstein), 44–45 und 121 (mit Quellen).

O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Denn: Aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist alles“ (Röm 11,36a). Amen.



Pfarrer Thomas Bautz
Bonn
E-Mail: thomas.bautz@ekir.de

Bemerkung:
Literatur
Ulrich Wilckens: Der Brief an die Römer, EKK VI/2 (1980); Eduard Norden: Agnostos Theos (1956); Nikolaus von Kues: Drei Schriften vom verborgenen Gott, hg.v. E. Bohnenstaedt (1958); Nikolaus von Kues: Philosophisch-theologische Werke I, hg.v. Karl Bormann (2002); Stoa und Stoiker I. Griechisch-lateinisch-deutsch (2008); Wolkensäule und Feuerschein, hg.v. Michael Brocke/ Herbert Jochum (1993); Wrestling with God. Jewish Theological Responses during and after the Holocaust, hg.v. Steven T. Katz/ Shlomo Biderman/ Gershon Greenberg (2007); Ernst Bergemann: Kosmische Religiosität (Albert Einstein). Eine ganzheitliche und menschliche Perspektive. Zum 60. Todestag von Max Planck (1858-1947) am 4. Okt. 2007 (2007); Werner Sprenger: Brauchen Hungernde denn Gedichte? (1972).


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